Na, vielen Tank auch
fluter, September 2024
Verkehrspolitisch konzentriert sich Deutschland seit gut 100 Jahren auf das Auto. Eine Chronik.
1900: Kein Senkrechtstarter
Das Auto verspricht Freiheit, Fortschritt und Wohlstand, ist aber nicht direkt ein Erfolg: Den meisten Deutschen gilt es als dreckig und laut, und vor allem ist es unbezahlbar. Die Industrie konzentriert sich deshalb vorerst auf Taxen und Sonderwünsche für Reiche und Adlige, die nicht länger mit demselben Zug fahren wollen wie die Normalos. Unklar ist auch, ob sich der Verbrennungsmotor gegen die parallel entwickelten Dampf- und Elektroautos durchsetzen wird.
1932: Erste deutsche Autobahn
Im August 1932 eröffnet Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer die erste „Nur-Auto-Straße“ in Deutschland. Drei Jahre hatten rund 5.000 Menschen die 20 Kilometer zwischen Köln und Bonn in Handarbeit erbaut: In der Massenarbeitslosigkeit sollten möglichst viele beschäftigt werden. Es gilt Tempo 120, Leitplanken und Standstreifen fehlen, das Parken und Wenden auf der Fahrbahn ist verboten – genauso Kutschen und Fahrräder, die bis in die 1940er-Jahre hinein das wichtigste Verkehrsmittel sind.
1933: Autobahnen als Nazipropaganda
Nach Adolf Hitlers Machtübernahme vereinnahmen die Nazis die bestehenden Autobahnpläne für sich. Bis Kriegsbeginn 1939 sind rund 3.300 der geplanten 6.900 Autobahnkilometer gebaut. Zuständig ist die Reichsbahn, das damals größte Unternehmen der Welt.
1934: Einheitliche Verkehrsregeln
Der Reichsverkehrsminister erlässt die ersten einheitlichen Verkehrsregeln. Hitler will das Auto populär machen, also hebt die „Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung“ die Geschwindigkeitsbegrenzung (vorerst) auf und überlässt dem Auto die Straßen. Ab 1939 schreibt die Reichsgaragenordnung zudem vor, dass zu jedem Neubau eigene Parkflächen gebaut werden müssen. Die heutige Straßenverkehrsordnung baut auf den damaligen Gesetzen auf.
1938: Der Traum vom Volkswagen
Im Mai legt Hitler den Grundstein für das erste Volkswagenwerk in Wolfsburg. Hier soll der „Kraft-durch-Freude-Wagen“ gebaut werden, ein Auto, das sich alle Bürger leisten können. Das Werk wird 1939 fertig, produziert aber nur Kriegsgüter: Die Nazis haben den Zweiten Weltkrieg begonnen.
1947: Infrastruktur in Trümmern
Nach Kriegsende sind Straßen, Tunnel und Brücken zerstört. Die Straßen werden bald wiederhergerichtet, die Schienen dagegen zu Baumaterial und Reparationszahlungen: Bis März 1947 werden in der Ostzone unter Führung der Sowjetunion 11.800 Kilometer Schienen abgebaut, weit mehr als in den anderen drei Besatzungszonen.
1948: Autogerechte Städte
Beim Wiederaufbau nach dem Krieg orientieren sich deutsche Stadtplaner an der „Charta von Athen“ von 1933. Sie trennt Städte in Gebiete zum Arbeiten, Wohnen und Erholen, zwischen denen „automobile“ Bewohner bequem pendeln können. Hannover wird zum Prototyp. Ab 1948 lässt Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht die stark zerstörte Stadt zu einer „autogerechten“ umbauen – und dafür etliche erhaltene historische Gebäude abreißen.
1950: Auf dem Weg zum Massenfahrzeug
Wirtschaftswunder: In den 1950er-Jahren wächst die Wirtschaft in der Bundesrepublik sehr schnell. Das Auto ist ein Symbol des Aufschwungs, von 1950 bis 1953 verdoppelt sich die Zahl der Fahrzeuge in Westdeutschland auf mehr als eine Million. Auch die DDR-Führung will neue Pkw-Typen bauen: den „Wartburg“ für gehobene Ansprüche und den Kleinwagen „Trabant“. Wer ein Auto kaufen will, muss sich allerdings auf jahrelange Wartezeiten einstellen.
1953: Abbau von Straßenbahnen
Westberlin beschließt, seine Straßenbahn abzuschaffen. Eine radikale Verkehrswende: Die Tram transportiert damals rund zwei Drittel aller Fahrgäste. Aber in vielen westlichen Metropolen gilt sie als Auslaufmodell. Die Stadt soll schneller werden und künftig auf Autos und Busse setzen.
1955: Steuern fördern die Autokultur
Erstmals gibt es eine Pendlerpauschale: Wer mit dem Auto zur Arbeit fährt, bekommt 50 Pfennig pro Kilometer. Ab März 1960 werden die Einnahmen aus der Mineralölsteuer zum Bau und Erhalt von Bundesstraßen eingesetzt: Je mehr Autos fahren, desto mehr Straßen werden gebaut. Das westdeutsche Schienennetz dagegen wird seit Ende der 1940er zurückgebaut. In der DDR ist die Schiene wichtiger, weil weniger private Autos fahren. Aber auch dort fehlen ab den 1970er-Jahren die Investitionen.
1966: Der öffentliche Raum als Parkplatz
Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest: Es gibt ein Recht auf öffentliches Parken. In den Folgejahren steigen die Pkw-Zulassungen rasant an, parkende Autos prägen das Straßenbild. Das Urteil gilt bis heute.
1970: Höchststand Verkehrstote
Auf westdeutschen Straßen sterben 19.193 Menschen, Rekord in der Bundesrepublik. Und Anstoß für Maßnahmen wie Helm- oder Gurtpflicht.
1973: Limitiertes Tempolimit
Der Jom-Kippur-Krieg im Nahen Osten löst eine Ölkrise aus. Die BRD erlässt das „Energiesicherungsgesetz“: vier autofreie Sonntage, sechs Monate Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen. Der ADAC startet eine Gegenkampagne („Freie Bürger fordern freie Fahrt!“), prompt wird das Tempolimit für Autobahnen wieder aufgehoben. Auf Landstraßen gilt seitdem Tempo 100. Bis heute ist Deutschland das einzige Land, in dem auf Autobahnen kein generelles Tempolimit gilt.
1977: Wirtschaftsspitze
In der BRD macht der „Straßenfahrzeugbau“ erstmals mehr Umsatz als der Maschinenbau. Die Automobilindustrie bleibt die wirtschaftsstärkste Industrie des Landes, 2023 erzielt sie einen Umsatz von 564 Milliarden Euro.
1989: Der „Kat“ kommt
Das Waldsterben besorgt die Deutschen, umweltschädliche Abgase sollen reduziert werden. Ab dem 1. Januar 1989 muss jeder Neuwagen einen Katalysator haben.
1991: Deutsche Auto-Einheit
Um die neuen mit den alten Bundesländern zu verbinden, sollen sieben Autobahnen gebaut werden. Streckenlänge: rund 2.000 Kilometer. Kosten: rund 17 Milliarden Euro. Heute, 33 Jahre später, sind die Arbeiten weitgehend abgeschlossen. Im Zuge der Einheit entstehen auch neun neue Bahnstrecken. Und 1994 schließen sich Bundesbahn und Reichsbahn zur Deutschen Bahn zusammen. Der Start ist holprig: Beide Bahnen sind stark verschuldet.
2009: Abwrackprämie
Die Finanzkrise bringt auch die Autokonzerne in Schwierigkeiten. Der Staat versucht zu helfen: Er zahlt 2.500 Euro Abwrackprämie an alle, die ihr altes Auto gegen einen (saubereren, die Prämie heißt offiziell Umweltprämie) Neuwagen tauschen.
2018: Rekordbeschäftigung
Rund 834.000 Menschen arbeiten in der Automobilindustrie, so viele wie nie zuvor. Bis 2023 sinken die Zahlen wieder: zum einen, weil Elektroautos weniger Teile und Arbeitskräfte benötigen, zum anderen, weil die Produktion ins Ausland abwandert. Nach China zum Beispiel, wo seit 2018 mehr Fahrzeuge deutscher Hersteller gebaut werden als in Deutschland
2021: Autonomes Fahren
Mit dem „Gesetz zum autonomen Fahren“ ist Deutschland das erste Land, das selbstfahrende Fahrzeuge in bestimmten Bereichen des Straßenverkehrs erlaubt. Bis sie tatsächlich herumfahren, wird es aber noch dauern.
2022: E-Förderung
Eine Million zugelassene Elektrofahrzeuge: Deutschland erreicht dieses Ziel zwei Jahre später, als der „Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität“ vorsieht. Bis 2030 sollen es mindestens 15 Millionen E-Autos sein. Aber im Winter 2023 wird die staatliche Förderung für E-Autos erst mal gestoppt.
2023: (Gescheiterte) Verkehrsreform
Eine große Reform der Straßenverkehrsordnung soll den Vorrang des Autos aufheben und Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Klima, von Fußgängern und Radfahrenden erleichtern. Die Reform wird im Bundestag beschlossen, aber im Bundesrat von einigen Landesregierungen blockiert.
Die Lügendetektoren
brand eins, September 2024
In keinem anderen Land grassieren so viele Falschmeldungen wie in Indien. Pratik Sinha und seine Mitstreiter kämpfen mit ihrer Organisation Alt News gegen diese Desinformation – und zahlen dafür einen hohen Preis.
Der digitale Raum als ein Ort der Aufklärung – das ist die Vision des freien Internets. Doch mit dem digitalen Austausch erstarkt auch dessen hässliche Kehrseite: Mit Lügen und Halbwahrheiten angefüllte digitale Echokammern, aus denen Wogen der Gewalt in unsere Mitte gespült werden.
Am Anfang solcher Fake-News-Kampagnen, die Zwietracht und Hass säen, steht meist eine harmlos wirkende Meldung, ein Foto oder ein Video. Zeigt dieser Clip nicht eindeutig, dass der Oppositionsführer zu spät kommt bei der Vereidigung des Parlaments, dass er keinen Respekt hat für das Land? Oder jenes mit dem Mann, der ins Glas seines Vorgesetzten spuckt: Ist das nicht der „Spuck-Jihad“, eine perfide Aktion der muslimischen Minderheit gegen die Mehrheitsgesellschaft? Oder die Aufnahmen von dem alten Mann, der mit einem kleinen Mädchen Arm in Arm im hohen Gras liegt – ein Beweis dafür, dass Kindesmissbrauch Teil der islamischen Kultur ist?
All dies sind aktuelle Beispiele für die gezielte Verbreitung von Lügen in Indien, wo Desinformation grassiert wie in keinem anderen Land der Welt. Es sind manipulierte oder absichtlich irreführende Informationen, die Menschen schaden sollen.
Denn tatsächlich kam der Oppositionsführer Rahul Gandhi nicht zu spät zur Parlamentssitzung, wie das genannte Video insinuiert. Der Spucker war kein rachsüchtiger Muslim, sondern ein psychisch kranker Hindu. Und der mutmaßliche Missbrauchsfall war eine harmlose Szene aus einer pakistanischen TV-Serie à la Heidi. Diejenigen, die diese Videos in Umlauf gebracht haben, wussten das. Ihr Publikum nicht. Einmal veröffentlicht, erreichen solche bösartigen Tweets, Whatsapp-Nachrichten und Instagram-Posts Millionen Menschen und vergiften den Diskurs.
Desinformation ist eine zunehmende Bedrohung. Laut einer Expertenumfrage des Weltwirtschaftsforums, dem “Global Risk Report 2024” ist die Verbreitung von Falschnachrichten langfristig das größte Risiko für Gesellschaften weltweit – noch vor den Auswirkungen der Klimakrise und Kriegen.
Und das gilt besonders für Indien, das Land, das laut Weltwirtschaftsforum am schlimmsten von Desinformation betroffen ist. Denn die dortigen Internet-Lügen haben oft blutige Folgen. So wurden im Jahr 2018 zwei Dutzend Menschen getötet, weil ein Video zirkulierte, in dem vor Kidnappern gewarnt wurde. Die Aufnahmen stammten aus einem Aufklärungsvideo einer pakistanischen Kinderschutz-Organisation und wurden so zusammengeschnitten, dass nur die Botschaft blieb: Vorsicht vor Fremden, die eure Kinder rauben! Fünf Freunde, die eine Motorradtour durch das ländliche Südindien machten, wurden Opfer dieser Falschnachricht: Sie wurden von einem wütenden Mob hunderter Dorfbewohner attackiert. Ein Mann – ein 32-jähriger Software-Ingenieur aus Hyderabad – wurde dabei getötet, die anderen schwer verletzt. Und das ist kein Einzelfall.
„Die Mehrheit der Menschen in Indien hat heute zum ersten Mal im Leben Zugang zu Informationen aus dem Internet – und sind nicht in der Lage zu unterscheiden, welche authentisch sind und welche nicht“, sagt der Software-Ingenieur und Journalist Pratik Sinha. Die meisten Fehlinformationen würden durch Videos verbreitet. Und was die Inderinnen und Inder dort sehen und hören, sei vor allem Hetze gegen die politische Opposition und die muslimische Minderheit.
Pratik Sinha will die Wellen der Desinformation brechen. Zusammen mit Mohammed Zubair, ebenfalls Software-Ingenieur, hat er vor sieben Jahren Alt News gegründet. Die Organisation klärt auf ihrer eigenen Webseite und Social-Media-Plattformen über Desinformations-Kampagnen auf.
Sinha hat schon 2013 mit Faktenchecks begonnen. Auf seiner Facebook-Seite und seinem Twitter-Account ging er zweifelhaften politischen Statements nach. Für ihn, so erzählt er, sei das eine Form der Auseinandersetzung mit der ressentimentgeladenen Politik Narendra Modis gewesen, der damals vom Ministerpräsident Gujarats zum Präsident Indiens aufstieg.
Nachdem 2016 in Gujarat vier Kinder, die zur unterdrückten Gruppe der Dalit zählten, von einer aufgebrachten Meute zusammengeschlagen wurden, organisierte Sinha Protestmärsche (siehe auch: Die Buchhalterin der Unterdrückten -> Link). „Die Medien hatten den Fall nicht aufgegriffen – erst, als wir Videos online stellten, begann die Berichterstattung“, sagt Sinha. „Mir wurde damals klar, dass ich nicht weiter als Software-Ingenieur arbeiten, sondern andere Arbeit machen wollte.“
Mit dieser Entscheidung begann ein neues Leben als öffentliche Person, als einflussreicher und auch bedrohter Journalist. Aber Pratik Sinha ist kein sentimentaler Erzähler – der Fokus auf Fakten zieht sich auch durch die Gespräche mit ihm.
Schon damals habe er online Kontakt zu Mohammed Zubair gehabt, der ebenfalls eine private Faktencheck-Seite auf Facebook betrieb. Die beiden taten sich zusammen, kündigten ihre Jobs und begannen 2017 mit Alt News – eine Zwei-Mann-Organisation, die Fahne der Aufklärung hochhalten wollte, während weite Teile der indischen Medien aufgegeben zu haben schienen. Denn obwohl es in Indien mehr als 20.000 Tageszeitungen und rund 450 private Fernsehsender gibt, ist die Medienlandschaft Kritikern zufolge wenig vielfältig. Was auch daran liegt, dass die indische Regierung der größte Anzeigenkunde ist und die Berichterstattung daher wenig regierungskritisch. Das Land fiel in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen von Platz 140 im Jahr 2014 auf 159 im Jahr 2024 und liegt damit hinter Pakistan und nur drei Plätze vor Russland.
Pratik Sinha sagt, in ihrer täglichen Arbeiten bei Alt News könnten er und sein Team oft beobachten, wie Social-Media-Falschmeldungen von großen Medienhäusern übernommen und dadurch aufgewertet würden. So deckten die Faktenchecker auf, dass etwa die India Today Group, zu der der meist geschaute Hindi-Nachrichtensender Aaj Tak gehört, im Jahr 2022 in 23 Fällen Falschnachrichten verbreitete.
Neben handwerklichen Fehlern wirkt sich auch die Angst vor Kriminalisierung auf die Qualität journalistischer Arbeit aus. Nach Angaben des indischen Komitees zum Schutz von Journalisten wurden 21 Journalisten zwischen 2014 und 2023 inhaftiert. In den neun Jahren vor der Modi-Regierung waren es vier.
Trotz dieser bedrohlichen Lage schreckt Alt News nicht davor zurück, Ross und Reiter zu nennen: „Wir können Desinformation oft nicht bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen“, sagt Sinha. „Aber wir können sehen, wem die Desinformation nutzt – und das ist in der absoluten Mehrheit der Fälle die Regierung.“ Ein großer Teil der zirkulierenden Desinformationen stamme aus dem Umfeld von Narendra Modis BJP, sagt Sinha, das zeige ihre tägliche Arbeit. Das belegen aber auch Recherchen der »Washington Post«, die von einem Netzwerk von mehr als 150.000 Menschen ausgeht, das für die IT-Abteilung der Regierungspartei, die sogenannte BJP-IT-Cell, an Social-Media-Kampagnen arbeitet. Gegenüber der »Washington Post« gaben BJP-Mitarbeiter zu, dass die Partei im Geheimen mit Trollen zusammenarbeite, die hetzerische Post verfassen.
Angesichts des enormen medialen Einflusses, den die Hindun-Nationalisten haben, erstaunt es, dass sie bei der jüngsten Wahl im Frühjahr 2024 Parlamentssitze verloren und politische Macht eingebüßt haben. Sinhas Erklärung: Der Widerspruch zwischen der politischen Erzählung von Wohlstand und Aufstieg und der von Inflation und Massenarbeitslosigkeit geprägten Realität sei so groß, dass viele Wähler sich anders entschieden hätten.
Ist das ein Zeichen dafür, dass die Menschen in Indien weniger manipulierbar sind? Da ist Sinha skeptisch: „Ja, Inflation kann man nicht lange schönreden. Aber der Großteil der Desinformationen in Indien zielt auf die Diffamierung der muslimischen Minderheit. Mit der Angst vor und dem Hass auf Muslime kann man viele Wähler gewinnen, ohne die wirtschaftliche Situation der Menschen im Land tatsächlich verbessern zu müssen.“
Klarheit in der Kritik, das müsse daher der Anspruch an alle Journalisten in Indien sein, sagt Sinha. Gerade weil die Situation so bedrohlich ist. „Wir messen Fact-Checker daran, ob sie auch die Aussagen der Mächtigen prüfen“, sagt er. Die vor den Wahlen gegründete Misinformation Combat Alliance, zu der sich 16 Medien und Organisationen zusammengeschlossen haben, ist nach seiner Meinung nicht kritisch genug – weder gegenüber der Regierung, noch gegenüber den Plattformen wie Meta und Google, die die Allianz mitfinanzieren. Sinha sieht es so: “Wenn ein Verbrechen passiert ist und es gibt zwei Verdächtige, und nun gibt der eine Verdächtige dem anderen Geld, um den Fall aufzuklären – was kann man von solchen Ermittlungen erwarten?"
Alt News hat keine großen Finanziers im Rücken. „Institutionen geben uns kein Geld. Das ist zu gefährlich für sie”, sagt Sinha “Aber einzelne Menschen unterstützen uns. Manche schicken größere Beträge, aber wir bekommen auch mal nur zehn Rupien von Schülern, die unsere Artikel wichtig finden.” Monatlich nimmt Alt News eigenen Angaben zufolge umgerechnet 15.000 Euro an Spenden ein. Davon wird die Arbeit der zwölf Mitarbeiter bezahlt, die meisten von ihnen sind ausgebildete Journalisten. Auf die Unterstützung durch die interessierte indische Öffentlichkeit sind die Faktenfinder stolz. „Wir wissen nicht viel über unsere Leser, nur, dass sie pro-demokratisch sind“, sagt Sinha.
Dass ihre Arbeit auch im Ausland wahrgenommen wird, zeigte sich etwa 2022, als Alt News als Kandidat für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Das Nobelkomitee würdigte Mohammed Zubair und Pratik Sinha für ihren Kampf gegen religiösen Extremismus und Intoleranz in Indien.
Mit der Anerkennung und Sichtbarkeit von Alt News steigt aber auch der Druck auf das Team. Beschimpfungen seien dabei das geringste Problem, versichert Sinha. Die größte Bedrohung gehe von Verleumdungsklagen aus. So wurde Mohammed Zubair im Juni 2022 festgenommen und wegen „Förderung der Feindschaft zwischen verschiedenen Gruppen“ sowie „vorsätzlicher und böswilliger Verletzung religiöser Gefühle“ angeklagt.
Sein Vergehen: Er hatte vier Jahre zuvor das Foto eines Hotels auf Twitter veröffentlicht. Darauf war zu lesen: „Vor 2014: Honeymoon Hotel. Nach 2014: Hanuman Hotel” – ein Witz über das Erstarken der Religiosität (Hanuman ist eine hinduistische Gottheit) nach der Wahl der hindu-nationalistischen Regierung unter Narendra Modi. Wegen des harmlosen Scherzes wurde Mohammed Zubair 23 Tage lang festgehalten.
Aufhalten lässt sich das Team von Alt News aber nicht. Im Gegenteil, es weitet sein Engagement mit der 2022 gegründeten Organisation Alt Ed aus. Drei Mitarbeiter veranstalten Projektwochen an Schulen oder in Gemeindezentren, um Kindern und Erwachsenen Medienkompetenzen zu vermitteln. Mehr als 1500 Teilnehmer erfuhren bereits, wie man die Herkunft von Fotos und Videos zurückverfolgt, das Erstellungsdatum einer Meldung herausfindet oder den ursprünglichen Kontext einer Information rekonstruiert. „Im Grunde geht es um kritisches Denken, das die Kollegen von Alt Ed schon bei Kindern ab zwölf Jahren fördern“, sagt Sinha.
Ein wichtiges Ziel dieser Aufklärungsarbeit sei es, den negativen Einfluss der Plattformen wie Twitter und Meta bekannt zu machen, „zu zeigen, dass sie politische und wirtschaftliche Akteure sind, die mit Desinformation Geld machen“, so Sinha. Die fatale Rolle der Internet-Konzerne bei der Verbreitung von Fake-News ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, die Plattformen ändern dennoch nichts an ihrem Procedere. Bei Twitter, heute X, hat die Übernahme durch Elon Musk dazu geführt, dass Fakten in der Flut von Fake News und Hetze untergehen und sogar die EU-Kommission das schlechte Verhältnis von Lügen und Wahrheit auf der Plattform anprangert.
Bei Meta verteidigt man die Verbreitung von Desinformation sogar offensiv: Posts von Politikern sollten nicht überprüft werden, so der Vorstandsvorsitzende Mark Zuckerberg 2020 in einem Interview mit dem Sender CNBC. Denn: „Politische Äußerungen sind einer der sensibelsten Bereiche in einer Demokratie, und die Menschen sollten sehen können, was Politiker sagen.”
„Das mag ein hehres Ziel sein in den USA, aber für Länder wie Indien, Pakistan, Bangladesch oder Sri Lanka ist diese Haltung fatal“, entgegnet Pratik Sinha. Im globalen Süden würden Politiker nicht annähernd so stark von Presse und Justiz kontrolliert wie in den Vereinigten Staaten oder in Europa. „Es ist schlicht gefährlich, wenn wir alle von Plattformen abhängig sind, die so tun, als wäre die ganze Welt San Francisco“, sagt er.
Sinha setzt daher auf dezentrale, von Konzernen unabhängige Plattformen wie Peertube. „Ich spreche derzeit mit vielen Youtubern, die schon heute eine kritische Öffentlichkeit in Indien aufrechterhalten", sagt Sinha. Denen rate er, am Ende ihrer Videos eine 30-sekündige Nachricht einzufügen: “Falls dieser Youtube-Kanal jemals zensiert wird, schaut hier bei Peertube weiter.” Er hofft, dass auf den Ruinen des alten Mediensystems etwas Neues entsteht, Orte der Wissensvermittlung, des respektvollen Austauschs, kurz: der Aufklärung.
Der Pillenknick
fluter, Juli 2024
Alle reden vom Medikamentenmangel, aber wie kommt der eigentlich zustande? Und noch wichtiger: Wie werden wir ihn wieder los?
Der Medikamentenmangel ist in jeder Apotheke Dauerthema. Auf Nachfragen können viele Apotheker:innen spontan eine lange Liste von Produkten aufsagen, die gerade nicht verfügbar sind. So fehlen Medikamente mit Salbutamolsulfat für Asthmatiker:innen und andere Lungenkranke, Dauermedikamente für Menschen mit Typ-2-Diabetes, bestimmte Antibiotika, angstlösende Medikamente, Antidepressiva und laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) noch über 460 weitere.
Für viele der über 460 Medikamente auf der Engpass-Liste des BfArM gibt es noch Alternativen am Markt – aber für die salbutamolhaltigen Asthmasprays nicht. Dabei sind salbutamolhaltige Medikamente für Asthmatiker:innen überlebenswichtig. Sie helfen bei akuten Bronchienkrämpfen, um wieder Luft zu bekommen.
Seit Dezember 2023 gilt daher offiziell ein Versorgungsmangel. Um die Patient:innen zu versorgen, werden nun Arzneimittel aus Spanien und den USA importiert. Die Krankenkassen sollen auf Empfehlung ihres Spitzenverbands die zusätzlichen Importkosten übernehmen. Außerdem sollen Patient:innen nur noch kleine Packungsgrößen verschrieben werden, und Ärzt:innen dürfen keine Rezepte ausgeben, mit denen sich Kranke Vorräte anlegen können.
Aber wo liegt der Grund für die Misere? Profitgierige Hersteller? Bürokratische Gesundheitsministerien? Oder hortende Patient:innen? Die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides erklärte die Medikamentenkrise bereits im Januar 2023 vor dem Europäischen Parlament mit steigenden Nachfragen und unzureichenden Produktionskapazitäten. Die Europäische Arzneimittelagentur nennt Herstellungsprobleme, Engpässe bei Rohstoffen, Verteilungsprobleme und Naturkatastrophen als mögliche Ursachen.
Auch Jasmina Kirchhoff, Pharmaexpertin vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sagt, es gebe viele Ursachen für den Medikamentenmangel. Eine plötzlich starke Nachfrage, wie etwa im Winter 2022/2023 nach fiebersenkenden Medikamenten und Hustensäften für Kinder, könne immer mal vorkommen. „Die Hersteller legen auch für so einen Fall Lager an, um kurze Spitzen zumindest abpuffern zu können“, erklärt Kirchhoff. Kommt dann aber noch hinzu, dass ein wichtiger Hersteller seine Produktion aufgibt (2022 war das die Firma 1A Pharma), kann das zu einer echten Knappheit des Medikaments führen.
Dass Hersteller trotz großer Nachfrage ihr Geschäft aufgeben, liegt laut Kirchhoff insbesondere an den Preisen. Die Preisgestaltung für Medikamente ist ziemlich kompliziert: Es gibt Festbeträge für gängige Medikamente – mehr als diese Höchstpreise werden von den Krankenkassen nicht übernommen. Das betrifft rund 80 Prozent der verschriebenen Medikamente und oft Generika, also patentfreie Medikamente. Für eine Tagesdosis eines generischen Arzneimittels erhält der Hersteller heute aber oft weniger, als die lokale Wirkstoffproduktion kosten würde.
Um trotz der niedrig angesetzten Festpreise auf Medikamente Gewinne zu erzielen, müssen die Hersteller viel verkaufen. Das soll ihnen über besagte Rabattverträge mit den gesetzlichen Krankenkassen gelingen. Diese harten Preisdeckel und Verhandlungsgeschäfte haben für Patient:innen den Vorteil, dass die Preise besonders für nicht patentgeschützte Generika niedrig sind. Andererseits sorgt der Dauertiefpreis dafür, dass sich der Markt der Anbieter ausdünnt und die Pharmaunternehmen ihre Wirkstoffe möglichst billig beschaffen – und produzieren.
Während im Jahr 2000 noch rund 30 Prozent der Wirkstoffproduktion in Asien erfolgt sind, waren es im Jahr 2020 bereits über 60 Prozent. Wenn die Lieferketten allerdings über den ganzen Globus gespannt seien, können an vielen Stellen auch Lücken entstehen, sagt Jasmina Kirchhoff. Etwa wenn eine Fabrik abbrennt, ein Frachter stecken bleibt, eine Flut die Straßen wegreißt, ein Krieg ausbricht. „Das wird vor allem dann zum Problem, wenn es zu wenige Hersteller auf dem globalen Markt gibt – denn dann gibt es im Zweifel keine Ausweichoptionen, um die Produktion am Laufen zu halten“, sagt Kirchhoff. Viele Unternehmen seien immer wieder von Engpässen in den Lieferketten betroffen, bei Medikamenten habe das aber eine andere Bedeutung: „Wenn sich die Auslieferung eines Neuwagens verzögert, ist das zwar ärgerlich, aber sicher nicht vergleichbar mit medizinischen Notfällen, bei denen das richtige Medikament fehlt.“
Hinzu kommt, dass die Lieferketten für die meisten Generika völlig unklar sind. Selbst das Bundesinstitut für Arzneimittel weiß selten, woher die Hersteller ihre Ausgangsstoffe beziehen. Denn das fällt unter das Betriebsgeheimnis. Klar ist aber: Viele europäische Pharmakonzerne lassen ihre Medikamente in Indien herstellen, die Wirkstoffe dafür stammen zu 70 Prozent aus China. Das Land stellt etwa bis zu 90 Prozent der globalen Wirkstoffmengen für Antibiotika her. Die Abhängigkeit Europas von asiatischen Wirkstoffherstellern halten viele Expert:innen für problematisch.
Die gute Nachricht ist, dass einige der Mangelursachen derzeit angegangen werden: Neben europäischen Initiativen, die den Pharmasektor in der EU unterstützen sollen – das entsprechende neue Pharmapaket der EU wurde im April im EU-Parlament angenommen –, werden in Deutschland derzeit Veränderungen in der Preispolitik, der Wirkstoffherstellung und der Lieferkettentransparenz angestoßen.
Der große Wunsch der Politik ist es, dass sich wieder mehr Pharmaunternehmen in Deutschland und der EU ansiedeln – und damit die Abhängigkeit von asiatischen Herstellern und ungewissen Lieferketten kleiner wird. In Deutschland legt das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ seit Juli 2023 fest, dass Krankenkassen bei Verträgen mit den Herstellern für Antibiotika besonders europäische Firmen berücksichtigen sollen. Außerdem sollen finanzielle Anreize zur Entwicklung neuer Reserveantibiotika verstärkt werden.
„Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Jasmina Kirchhoff, „allerdings sind Deutschland und Europa sehr teure Produktionsstandorte.“ Kirchhoff meint, nachhaltig wäre vor allem eine andere Preisgestaltung. Auch das wird mit dem neuen Gesetz versucht – zumindest für Kinderarzneimittel.
Das Problem ist nur, dass die Medikamente dann am Ende natürlich mehr kosten. „Die Versorgungssicherheit hat ihren Preis“, sagt Kirchhoff. Die Frage sei, wer den am Ende bezahlt – der Staat, dessen Gesundheitsausgaben schon heute mit rund 13 Prozent des BIP die höchsten in der EU sind und zur Weltspitze zählen? Oder die Patient:innen über die Krankenkassenbeiträge oder direkt an der Apothekenkasse?
Darüber hinaus sollen unter anderem Krankenhäuser und Apotheken größere Vorräte anlegen, um Engpässe abpuffern zu können; es soll für Ärzt:innen und Apotheker:innen einfacher werden, im Fall eines Mangels wirkstoffgleiche Medikamente an die Patient:innen abzugeben; und das Bundesinstitut für Arzneimittel baut mit Informationen über die bisher geheimen Lieferketten ein Frühwarnsystem auf, um Engpässe frühzeitig zu erkennen.
Und manchmal liegt der Fall auch ganz anders, wie bei den salbutamolhaltigen Asthmasprays. Die Gründe für den Versorgungsmangel liegen nicht in Asien, sondern wohl bei den beiden Unternehmen in Deutschland, die sich den Markt hier aufteilen: Hexal und GlaxoSmithKline. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schreibt, es gebe bei einem der Hersteller einen „Qualitätsdefekt bei einem Produkt beim Auslösen der Sprühstöße“, also ein technisches Problem an der Verpackung des Medikaments. Daraus resultieren dann eine erhöhte Nachfrage und Lieferprobleme bei anderen. Warum der Fehler seit über einem halben Jahr nicht behoben werden konnte? Dazu gibt es auf Anfrage bei dem Unternehmen leider keine Antwort.
Feeling Blue - Paartherapie mit dem Ozean
Der Freitag / Spotify / Apple Podcast, Juni 2024
Das Meer ist für viele Menschen ein Sehnsuchtsort: Trotzdem zerstören wir die Ozeane gerade nachhaltig. Dabei liegt in den Weltmeeren eine große Chance im Kampf gegen den Klimawandel. Ein Podcast über Mensch, Meer und unser aller Zukunft.
Wir alle lieben den Ozean – aber schätzen wir ihn auch? Der Podcast "Feeling Blue – Paartherapie mit dem Ozean" geht der Beziehungskrise zwischen Mensch und Meer auf den Grund. Klar ist dabei: Die Menschheit ist der toxische Partner in dieser vermeintlichen Liebesbeziehung. Mit fatalen Folgen: Die Ozeane verkommen zur Müllhalde und waren noch nie so erhitzt wie jetzt.
In fünf Episoden suchen die Blue-New-Deal-Reporter:innen Svenja Beller, Julia Lauter, Martin Theis und der Fotograf Fabian Weiss weltweit nach Lösungen in unserem gestörten Verhältnis mit den Meeren. Ob in Korallenfarmen auf den Fidschi-Inseln oder in kenianischen Mangrovenwäldern: Überall gibt es Menschen, die eine dringend benötigte Kurskorrektur vorantreiben. Auch international renommierte Wissenschaftler:innen wie der deutsche Ozeanograph Mojib Latif oder der indische Klimaforscher Roxy Mathew Koll kommen zu Wort. "Feeling Blue" gibt dem Ozean eine Stimme. An vielen Orten wird es beeindruckend, an einigen gefährlich, an anderen hoffnungsvoll.
"Feeling Blue – Paartherapie mit dem Ozean" ist ein Podcast der Wochenzeitung "Der Freitag".
Redaktion: Svenja Beller, Julia Lauter, Martin Theis, Fabian Weiss
Redaktionelle Mitarbeit: Teresa Kraft
Produktion: Kyra Funk
Fact Checking: Kathrin Lilienthal
Aufnahme, Postproduktion und Mix: Artur Sommerfeld
Musik und Sounddesign: Don Tengeler
Mit Originaltonaufnahmen aus dem Ozean von Stephanie Kyek
Die Buchhalterin der Unterdrückten
brand eins, Mai 2024
Das Kastenwesen ist in Indien offiziell seit fast hundert Jahren abgeschafft – und schließt doch bis heute Abermillionen Menschen vom gesellschaftlichen Aufstieg aus. Die Ökonomin Beena Pallical kämpft gegen dieses System. Ihre Waffe: wirtschaftliche Bildung.
Am 17. Januar 2016 erhängte sich Rohith Vemula an einem Deckenventilator im Studentenwohnheim der Universität Hyderabad. Der Tod des Soziologie-Doktoranden löste landesweite Proteste aus. Bis heute wird an seinem Todestag für Gerechtigkeit demonstriert, Vemulas Name ist untrennbar verbunden mit der Frage, welche Chancen die Ärmsten der Gesellschaft in der größten Demokratie der Welt haben.
Rohith Vemula war Dalit, hineingeboren in eine Gruppe, die in der Tradition des hinduistischen Kastenwesens als unberührbar bezeichnet wurde (siehe unten). Er engagierte sich gegen die fortdauernde Diskriminierung der Dalits an seiner Universität – mit fatalen Folgen. Monate vor seinem Tod wurde das ihm zustehende Stipendium nicht mehr ausgezahlt. Die Universität suspendierte ihn. In seinem Abschiedsbrief heißt es: „Meine Geburt ist mein tödliches Schicksal.“
Die Liste der Ungerechtigkeiten und der Gewalt, die Dalits in Indien bis heute erfahren, ist lang und grausam: Kinder, die aus dem Wasserhahn für höhergestellte Kasten trinken, werden fast totgeprügelt, Frauen vergewaltigt, Männer des Handels mit Rindfleisch verdächtigt und erschlagen. Besonders auf dem Land ist die Kastenhierarchie mächtiger als Recht und Gesetz.
Die Gruppe der Ausgegrenzten ist riesig, internationale Forschungsinstitute gehen von einem Viertel der Bevölkerung aus, die indische Regierung von 16,6 Prozent: Das sind mehr als 230 Millionen Menschen.
Zwar gibt es mittlerweile zahlreiche Politiker aus der Gruppe der Dalit und bereits seit der britischen Herrschaft ein ausgeklügeltes Quotensystem, das diesen und anderen marginalisierten Gruppen Zugang zu Regierungsjobs verschaffen soll. Doch am System der Ausgrenzung hat sich bis heute wenig geändert. Die meisten Dalit-Vertreter schwiegen aus Loyalität zu den politischen Parteien, in denen die oberen Kasten den Ton angäben, so erklärt das der Politikwissenschaftler Rehnamol Raveendran von der Universität Allahabad.
Rohith Vemulas Schicksal erregt auch acht Jahre nach seinem Tod so viel Aufmerksamkeit, weil der junge Mann nicht geschwiegen hatte. Und weil er dem Ziel des sozialen Aufstiegs so nah gekommen war.
„Der Weg raus ist Bildung“, sagt Beena Pallical. Sie sitzt in ihrem Büro in Delhi und erzählt mit lauter Stimme von ihrer Mission. „Seit Jahrzehnten sprechen wir über Gewalt gegen Dalits, über die Gräuel, die der Community angetan werden.” Aber mittlerweile habe man den Blick geweitet. „Was brauchen wir noch neben dem Ende von Gewalt? Wir brauchen ein Dach über dem Kopf, wir brauchen medizinische Versorgung und vor allen Dingen brauchen wir Bildung“, sagt Pallical.
Die Ökonomin gehört selbst zur Gemeinschaft der Dalits und ist Präsidentin der National Campaign on Dalit Human Rights (NCDHR), eine Nichtregierungsorganisation, die sich im ganzen Land für die Belange der Dalits einsetzt. Um ihnen zu helfen, müsse man über Geld sprechen, sagt Pallical. Über staatliche Fördermittel, die für die Schwächsten in der Gesellschaft bereitstehen, aber fast nie bei ihnen ankommen – Stipendien wie das des Studenten Rohith Vemula.
Außerhalb des indischen Finanzministeriums können nur wenige die Zahlenkolonnen und Akronyme des Staatshaushaltes so gut entschlüsseln wie Pallical. Sie unterrichtet Dalits in ganz Indien darin, die Haushaltspläne der Regierung zu verstehen: bessere Finanzkenntnisse für ein besseres Leben.
Diese Strategie der Ermächtigung, die Pallical mitgeprägt hat, hat mit ihrer Herkunft zu tun. „Meine Eltern hatten eine Aufstiegs-Vision für mich“, erzählt Pallical. „Mein Vater sagte mir: ,Studiere was du möchtest. Wir unterstützen dich. Sicher dir einen Job – und komm nicht zurück‘.“ Im Ausland Erfolg zu haben, davon träumen viele Dalits und Angehörige anderer Minderheiten. Während in Indien oft schon der Nachname die Kastenzugehörigkeit und Stellung in der Gesellschaft verrät, kann in den USA oder Europa niemand zwischen einem Dalit und einen Brahmanen unterscheiden.
Pallicals Eltern waren bereits gesellschaftlich aufgestiegen und konnten ihr ein Wirtschaftsstudium in Pune ermöglichen. Danach absolvierte Pallical einen Master in Betriebswirtschaft in Mailand und arbeitete dort einige Jahre im Marketing sowie der Personalentwicklung. Doch dann ging sie entgegen dem Rat ihres Vaters zurück nach Indien, um ihre Fähigkeiten in den Dienst der Community zu stellen.
Laut einem UN-Report von 2021 leben rund 94 Millionen Dalits in Indien heute in Armut. Sie verrichten meist wenig angesehene Arbeit, verdienen deutlich weniger als der Durchschnitt, sind häufiger erwerbslos und viel seltener Landbesitzer – und das in einer Gesellschaft, in der etwa zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung von Subsistenzwirtschaft leben.
Pallical will das mit ihren Kenntnissen der staatlichen Etats ändern. „Der Haushaltsplan ist das mächtigste wirtschaftliche Instrument, um die Forderungen der marginalisierten Gemeinschaften zu erfüllen”, sagt sie. “Wer weiß, was da drin steht, der hat die Chance, die Politik zu verändern.“
Sie und ihr Team durchforsten jeden neuen Finanzplan der Regierung auf der Suche nach Geldern, die den Dalits zustehen, diese aber nicht erreichen. Seit den Achtzigerjahren verpflichtet sich die indische Regierung, einen gewissen Anteil des gesamten Haushalts für die Förderung der Dalits zu verwenden. Es geht unter anderem um die Finanzierung von Ausbildungen, Wohnungsbau und um Infrastrukturmaßnahmen. Wenn Dalits offiziell 16,6 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sollte ein ebensolcher Anteil der Mittel für Entwicklungsprogramme für sie bestimmt sein.
Doch das ist nicht der Fall. Selbst der Regierungs-Thinktank NITI Aayog kommt zu dem Ergebnis, dass die Ministerien das Geld stattdessen für allgemeine Wohlfahrtsprogramme verwenden. Im Haushaltsjahr 2022 hatten nur etwa 14 der 41 Ministerien den vorgeschriebenen Prozentsatz zugewiesen. Als Beena Pallical 2010 dem National Campaign on Dalit Human Right beitrat, machten sie und ihr Team öffentlich, dass in den vier Jahren zuvor insgesamt rund 83,6 Millionen Euro aus dem Dalit-Fonds für Projekte rund um das Sportevent der Commonwealth-Games verwendet wurden.
„Seitdem machen wir das jährlich, wenn der Haushaltsplan am ersten Februar veröffentlicht wird”, sagt Pallical. „Unser Team schließt sich so lange mit den Dokumenten ein, bis wir sie entschlüsselt haben, und dann beginnen wir unsere Kampagne.“ Mit Pressekonferenzen, Briefen an die Regierung, an Abgeordnete und Medienvertreter bringen sie ihre Erkenntnisse an die Öffentlichkeit – und erhöhen den Druck, die Mittel für die Dalit tatsächlich auszuzahlen. „Nach dem Aufstand, den wir 2010 im Parlament angezettelt hatten, wurden die Gelder schließlich in vollem Umfang zurückgezahlt“, sagt Pallical.
Besonders wichtig ist ihr und ihren Kollegen die Förderung von Schülern und Studenten – wie Rohith Vemula einer war. Das Stipendienprogramm, das 1944 vom Sozialreformer und B.R. Ambedkar (siehe unten) eingeführt wurde, fördert heute mehr als sechs Millionen Studenten aus Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 2.800 Euro. Eine Art Bafög für die Ärmsten des Landes. Doch ab 2018 gab es immer wieder Zahlungsverzögerungen, die meisten der Stipendiaten erhielten ihr Geld nicht, weil die Zentralregierung ihren Teil der Mittel nicht freigab. Studenten mussten ihre Ausbildung abbrechen, mit schlimmen Folgen bis hin zum Fall Vemula – der viele Menschen aufrüttelte und zu einer Kampagne zur Rettung des Dalit-Bafög führte.
„Wir haben jahrelang für dieses Programm gekämpft“, sagt Benna Pallical. Viel will sie nicht dazu sagen, um die fragile Zusammenarbeit mit der hindu-nationalistischen Regierung nicht zu gefährden. „Man braucht einen langen Atem. Aber schließlich wurden die Zahlungen wieder aufgenommen und für die nächsten vier Jahre sogar um 66.000 Euro aufgestockt.“ Unterstützt wird die NGO von internationalen Organisationen wie etwa Misereor. Das Budget des NCDHR liegt derzeit bei etwa einer Million Euro pro Jahr für ein Team von rund 100 Menschen. Bis jetzt. Doch seit 2010 dürfen NGOs nur mit einer von der Regierung ausgestellten Lizenz Gelder von ausländischen Spendern erhalten. Seitdem haben Hunderte Organisationen ihre Lizenzen verloren. „Unsere ist ebenfalls noch nicht verlängert“, sagt Pallical. „Das bereitet mir schlaflose Nächte.“
Große Hoffnung setzt Pallical in die Weitergabe ihrer Fähigkeiten: „Wir bieten im ganzen Land Workshops an, bei denen wir die Leute darin schulen, Förderanträge auszufüllen.“ Denn nur, wenn das Budget abgerufen werde, könne es am Ende auch in den Dalit-Gemeinden verwendet werden. „Es ist ähnlich kompliziert und bürokratisch, wie einen Zuschuss von der EU zu beantragen – Sie können sich vorstellen, dass man dafür eine Schulung brauchen kann“, sagt sie.
Pro Jahr bildet der NCDHR rund 100 Menschen weiter. In 15 von 28 Staaten Indiens prüfen Dalit-Aktivistinnen und -Aktivisten schon heute regelmäßig die Geldflüsse im Staatshaushalt. Außerdem lernen rund 500 Menschen von den Profis, wie sie Gelder für ihre Ausbildung oder Projekte in der Gemeinde abrufen können. „Vor 100 Jahren hat man uns noch nicht einmal eine Ausbildung erlaubt. Aber in 20 Jahren, falls all die heute lebenden Dalit-Kinder Zugang zu Schulen haben, wird unsere Gesellschaft eine bessere sein.”
Kann man mit ökonomischen Fördermitteln jahrhundertealte Strukturen der Diskriminierung auflösen? Beena Pallical lächelt milde bei dieser Frage. „Schon Dr. Ambedkar hat gesagt, dass es keine soziale Gerechtigkeit ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit geben kann und andersherum. Es sind zwei Seiten einer Medaille”, sagt sie. Den Ärger über die anhaltende Ausgrenzung habe sie zu nutzen gelernt, erzählt Pallical, als Triebkraft für ihr Handeln. „Als ich anfing, in politischen Gremien zu sitzen, stand immer nur eine Frage im Raum: Wer ist diese Dalit-Frau und warum sitzt sie an unserem Tisch?“, Pallical lacht laut auf. „Es hat mich viele Jahre des Schreiens und Brüllen gekostet, mir Respekt zu verschaffen.“
Heute kennt jeder in Delhi die Buchhalterin der Dalits.
Info: Die Dalit-Bewegung
Früher wurde diese große Gruppe Menschen „Unberührbare“ genannt, heute wird der Begriff nur noch im historischen Kontext verwendet. In Politik und Verwaltung spricht man in Indien von "Gelisteten Kasten" (engl. Scheduled Casts). Am gängigsten ist jedoch die Selbstbezeichnung „Dalits“, ein aus dem Sanskrit stammender Begriff, der sich mit "Unterdrückte" übersetzen lässt.
Es kann kein erniedrigenderes System der sozialen Organisation geben als das Kastensystem. Es ist das System, das die Menschen entmündigt, lähmt und von jeglicher nützlichen Tätigkeit abhält“, sagte Bhimrao Ramji Ambedkar, bis heute die zentrale Figur der Dalit-Bewegung. Der Jurist war einer der einflussreichen Väter der indischen Verfassung und der erste Justizminister nach der Unabhängigkeit. Bis heute wird Ambedkar von Dalits in ganz Indien verehrt, vielerorts finden sich Statuen und Bildnisse des Sozialreformers.
Ambedkar war selbst Dalit und führte eine Bewegung an, die diese Menschen zum Ausbruch aus dem hinduistischen Kastenwesen aufforderte, unter anderem. durch Konversion zum Buddhismus. Sein intellektueller Gegenspieler war Gandhi, der das Kastensystem nicht auflösen, sondern reformieren wollte. Ambedkar warf Gandhi Ignoranz vor: „Meiner Meinung nach prostituiert er seine Intelligenz, um die archaische Sozialstruktur des Hinduismus zu rechtfertigen. Er ist der einflussreichste Apologet dieses Systems.“
Info: Was sind Kasten?
Die Einteilung der Bevölkerung in Kasten geht auf eine Passage im ältesten Teil der hinduistischen Religionsschriften, der Rig Veda, zurück. Darin wird die „Hymne vom Urmenschen“ besungen – eine klassische Schöpfungsgeschichte: Der kosmische Riese Purusha wird bei der Erschaffung der Welt als Opfer dargebracht. Die einzelnen Teile seines Körpers verwandeln sich in Gruppen von Menschen. Im Ursprungstext standen diese wohl noch in keiner deutlichen Hierarchie, in Nachträgen wurden ihnen allerdings bestimmte Berufe zugewiesen: Aus dem Mund des Riesens entstanden die Brahmanen (Priester). Die Arme wurden zu Rajanyas oder Kshatriya (Anführer und Krieger). Die Schenkel zu Vaishyas (Handwerker, Händler, Bauern). Und die Füße zu Shudras (Arbeiter und Bedienstete).
Außerhalb dieser Kasten stehen die Kastenlosen, „die Unberührbaren, die Unsehbaren, die Unnahbaren – deren Präsenz, deren Berührung, sogar deren Schatten für die Hindus privilegierter Kasten als spirituell verschmutzend gilt“, schreibt die Schriftstellerin und Aktivistin Arundathi Roy und fügt sarkastisch hinzu: „Jede Region Indiens hat ihre eigene, einzigartige Version von Grausamkeit auf der Grundlage der Kastenzugehörigkeit liebevoll perfektioniert."
In Abgrenzung zum Klassismus, der auch in westlichen Industrienationen bekannt ist, spricht B.R. Ambedkar in Bezug auf Kasten vor eine „versiegelten Klasse“. Denn auch, wenn die Kaste alle Charakteristika einer sozialen Klasse aufweise, ist ein Aufstieg auch dann nicht möglich, wenn genug finanzielles oder kulturelles Kapital angehäuft wurde.
Die indischen Verfassung verbietet seit den Fünfzigerjahren, die Diskriminierung von Menschen niederer Kasten und indigener Gruppen. Der Staat ist darüber hinaus verpflichtet, diese mit besonderer Sorgfalt zu fördern.
"Der größte deutsche Fischerhafen ist der Frankfurter Flughafen"
Der Freitag, April 2024
Sebastian Unger ist der erste Meeresschutzbeauftragte der Bundesregierung. Er erarbeitet die „nationale Meeresstrategie“, mit der Deutschland zum Vorreiter werden will – obwohl Nord- und Ostsee in schlechtem Zustand sind. Was hat er vor?
Mitte März traf sich in Berlin das „Who's who“ der deutschen MeeresexpertInnen – Abgeordnete des Bundestages, viele mit Wahlkreisen an der Küste, ExpertInnen aus Wirtschaft und Wissenschaft, VertreterInnen der Fischereiindustrie und des Naturschutzes: Es war die erste öffentliche Sitzung des neu gegründeten „Parlamentskreis Meerespolitik“. Eine Ikone der Meeresforschung, die US-amerikanische Ozeanografin Sylvia Earle, schickte per Videobotschaft ein ermunterndes Grußwort: „Es wäre gut gewesen, schon vor 50 Jahren mit dieser Arbeit zu beginnen. Aber besser, sie jetzt aufzunehmen – in 50 Jahren wird es wohl zu spät sein.“ Warum braucht es für tatkräftigen Meeresschutz aber einen neuen Arbeitskreis?
Er soll, so heißt es bei der Eröffnung, der parlamentarische Arm der von der Bundesregierung ausgerufenen „Meeresoffensive“ sein, sie kritisch begleiten und mit Anträgen aus dem Bundestag flankieren. Welche Schutzmaßnahmen demnächst in Nord- und Ostsee anlaufen und was die Arbeit im politischen Berlin und Brüssel konkret für den Schutz der Ozean bedeutet, das fragen wir denjenigen, der für die Erarbeitung der Nationalen Meeresstrategie zuständig ist: Den ersten Meeresbeauftragten der Bundesregierung, Sebastian Unger.
Herr Unger, die Nachrichten, die man über die Meere liest, sind beunruhigend. Wöchentlich gibt es neue Rekorde der Überfischung, der Überhitzung, der Verschmutzung. Wie geht es den Meeren an deutschen Küsten?
Sebastian Unger: Die Meere sind leider in keinem guten Zustand. Wir machen regelmäßige Bestandserfassungen im Ost- und Nordseeraum, auch im Nordostatlantik. Die Klimakrise zeigt dort schon deutliche Auswirkungen, die Wassertemperatur steigt, der Meeresspiegel steigt, und all das wird sich in Zukunft noch deutlich verstärken. Gleichzeitig bedroht die Übernutzung die marinen Ökosysteme, vor allem die Fischerei. Der Schutz der Meere hängt dabei mit vielen Fragen zusammen, die wir zurzeit kontrovers diskutieren: Wie kann die Landwirtschaft in Zukunft den belastenden Nährstoffeintrag in die Meere reduzieren? Wie gestalten wir den Verkehr, dessen Emissionen auch die Meere versauern? Diese Fragen sind auch für die Meere extrem wichtig. Denn all das, was wir bei uns vor der eigenen Haustür machen, hat große Auswirkungen auf das, was weit draußen auf und in den Meeren stattfindet. Darin steckt großes Potenzial für Verschlechterung – aber auch für Verbesserung.
Wenn wir jetzt an der Küste stünden, könnten wir die größten Meeres-Probleme dann überhaupt sehen?
Das ist das Schöne: Wenn wir am Strand stehen, haben wir meist nach wie vor ein tolles Naturerleben. Man braucht schon etwas Hintergrundwissen, um die Probleme zu erkennen. Man müsste auch mal mit Taucherbrille und Schnorchel an unseren Küsten tauchen, um zu sehen, wie sehr die Überdüngung das Algenwachstum antreibt. Oder wie stark der Meeresboden durch Fischernetze umgepflügt wird. All das sieht man nicht, wenn man nur am Strand steht.
Wie schwer ist es, für mehr Meeresschutz zu werben, wenn vom Strand aus betrachtet alles in Ordnung scheint?
Es ist gar nicht so schwer, da der Zustand der Meere auf anderer Ebene deutlich wahrnehmbar ist: In der Ostsee etwa darf zurzeit weder Dorsch noch Hering gefangen werden. Das sind traditionell die Brotfische der Ostseefischerei. Eine prächtige Hansestadt wie Stralsund, die ist quasi auf Hering gebaut. Der Fisch war mal das silberne Gold der Ostsee. Und all das ist jetzt weg. So zeigt sich der Zustand der Meere auch auf wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Ebene. Wir können die Augen nicht weiter davor verschließen, dass wir nicht nachhaltig mit den Meeren umgehen.
Laut dem Weltnaturabkommen von 2022 sollen bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresfläche effektiv geschützt werden. In Nord- und Ostsee haben bereits heute 45 Prozent der Flächen Schutzstatus. Und trotzdem ist ihr Zustand schlecht. Warum reicht der Schutz nicht aus?
Meeresschutzgebiete sind der vielleicht wichtigste Baustein für den Schutz der Ozeane, aber sie reichen nicht aus. Auch die anderen Meeresflächen ringsum müssen nachhaltig und naturverträglich bewirtschaftet werden. Obwohl wir in Deutschland mit gut 45 Prozent Schutzflächen das globale Ziel übererfüllt haben, reicht das aber qualitativ nicht aus. Denn: Man darf in fast allen Schutzgebieten nach wie vor fischen, auch die Schifffahrt ist dort so gut wie gar nicht eingeschränkt. Sensible Arten wie der Schweinswal sind in der zentralen Ostsee sogar vom Aussterben bedroht – das zeigt, dass wir hier nacharbeiten und diese Gebiete stärken müssen, auch durch Einschränkungen von Nutzungen. Zehn Prozent der Ausschließlichen Wirtschaftszone, also dem Gebiet zwischen 12 und 200 Meilen vor der Küste, sollen gemäß der EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030 sogar streng geschützt und frei von schädlicher Nutzung sein.
Und wie viele dieser Gebiete werden heute schon streng geschützt?
Davon sind wir noch weit entfernt. In der ganzen EU sind das bisher weniger als ein Prozent der vorgesehenen Fläche. Wir haben in der Nordsee kürzlich erste Maßnahmen zur Einschränkung der Fischerei in unseren Schutzgebieten erreicht: Auf der Amrum Bank haben wir nun ein erstes kleines Fischerei-Ausschlussgebiet, eine „Zero Take Zone“. Aber der Weg dahin war lang. Es ist sehr schwierig, solche Einschränkungen durchzusetzen. Die Zuständigkeit für die Fischerei liegt nicht in den Händen der Nationalstaaten, sondern der Europäischen Union. Das heißt, wir müssen auch in unseren Schutzgebieten alle Fischereibeschränkungen mit den anderen EU-Ländern abstimmen. Am Ende muss dann die EU-Kommission den zwischen den EU-Ländern verhandelten Vorschlag in einen eigenen Rechtsakt umsetzen. Das ist eine komplexe und langwierige Angelegenheit.
Könnte man Fischerei nicht generell in den Schutzzonen verbieten?
Doch, das geht auch. Aber davor stehen eben politische Verhandlungsprozesse mit vielen beteiligten Ländern. Dabei treffen auch die Interessen des Naturschutzes und der Industrie aufeinander. Das macht die Sache entsprechend kompliziert. Da muss man immer wieder Kompromisse finden.
Rechnerisch waren die Fischreserven dieses Jahres in Nord- und Ostsee bereits im Februar erschöpft. Was muss passieren, dass die Überfischung ein Ende hat?
Der rechnerische „End of Fish Day“ ist spannend, da er ein weites Feld aufmacht: Bei der Überfischung geht es nicht nur um den individuellen Konsum, sondern um das ganze Landwirtschaftssystem. Der größte deutsche Fischereihafen ist weder Hamburg, noch Stralsund oder Rostock, sondern der Frankfurter Flughafen. Ein Großteil unseres Bedarfs wird nach Deutschland eingeflogen – zum Teil vom anderen Ende der Welt. Dazu gehören Fische, die wir essen, aber besonders auch die, die als Fischmehl in der Futtermittelindustrie landen. Um die Überfischung zu beenden, muss man also nicht nur über Fischereibeschränkungen sprechen, über Fangquoten und Schutzgebiete bei uns zuhause, sondern auch über grundsätzlichere Fragen: Wie ernähren wir uns? Wo kommen unsere Nahrungsmittel her? Wie und wo werden sie erzeugt? Wie gehen wir mit natürlichen Ressourcen um? Das ist eine umfassende Diskussion, die weit über den Meeresschutz hinausweist.
Die EU-Kommission hat einen Fischerei-Aktionsplan ausgegeben, der die Bewirtschaftung der EU-Meeresschutzgebiete umkrempeln soll – was können wir davon erwarten?
Bei diesem umfassenden Programm der EU-Kommission geht es vor allem darum, Fischerei und Meeresschutz besser zusammenzubringen. Dass Meeresschützer und Fischereivertreter gemeinsam darüber diskutieren, wie zum Beispiel schädliche Fischerei-Praktiken, wie der Einsatz von Schleppnetzen, in Zukunft besser geregelt werden können. Dazu müssen wir als EU-Mitgliedstaaten derzeit berichten, wie der Status quo ist und wie wir strengere Regeln umsetzen könnten. Daran arbeiten derzeit die Kollegen beim Landwirtschaftsministerium gemeinsam mit uns vom Umweltministerium. Wir hoffen, dass die neue EU-Kommission den Aktionsplan nach der Europawahl weiter schnell vorantreiben wird.
Eine Ihrer wichtigsten Aufgaben als Meeresschutzbeauftragter ist es, die nationale Meeresstrategie auszuarbeiten – wie sieht die aus und wie weit sind Sie damit in den vergangenen eineinhalb Jahren gekommen?
Die Meeresstrategie ist ein Paket von konkrete Maßnahmen zum Schutz der Ozeane, die wir als Bundesregierung und mit ihr bindend vereinbaren. Im Fokus steht zum einen der Schutz der Artenvielfalt und Lebensräume. Zum anderen wollen wir Klimaschutz und Meeresschutz zusammenbringen, weil das intakte Meer ein starker Verbündeter im Kampf gegen die Klimakrise ist – dafür wollen wir unter anderem marine Ökosysteme wie die CO₂-bindenden Seegraswiesen besser schützen und wiederherstellen. Das wird ein wichtiger Beitrag sein. Darüber hinaus geht es auch darum, die Verschmutzung der Meere zu bekämpfen: Neben dem bereits erwähnten Nährstoffeintrag aus der Landwirtschaft gibt es auch viel Plastikmüll oder Öleinträge und anderes aus der Schifffahrt beziehungsweise der Offshore-Industrie. Und wir wollen die Bürgerbeteiligung im Meeresschutz stärken.
In diesem Sommer startet außerdem das „Sofortprogramm Munitionsbergung“, das Teil der Meeresschutzstrategie ist.
Genau, in der deutschen Nord- und Ostsee wurden nach den Weltkriegen rund 1,6 Millionen Tonnen Altmunition versenkt. Und die rosten langsam durch – die enthaltenen Schwermetalle und andere Giftstoffe lösen sich im Wasser. Das ist schon nachweisbar in der Nahrungskette, mit gesundheitlichen Folgen für Menschen. Dieses Sofortprogramm finanziert mit gut 100 Millionen Euro den Bau einer Bergungs- und Entsorgungsplattform.
Ein weltumspannendes Ökosystem lässt sich nicht national retten – welche Rolle spielt bei Ihrer Strategie die globale Perspektive?
Zurzeit laufen die Verhandlungen für das globale Plastikmüll-Abkommen, Deutschland ist dabei eines der Länder, das maßgeblich zum Start der Verhandlungen beigetragen hat und jetzt – gemeinsam mit dem pazifischen Inselstaat Palau – eine der beiden zentralen Verhandlungsgruppen leitet. Bis Ende des Jahres soll aus diesem Prozess ein rechtsverbindliches Abkommen entstehen. Und auch beim Schutz der Hohen See sind wir durch den Beschluss des UN-Hochseeschutzabkommens 2023 vorangekommen. Die Hohe See, das sind all die Gebiete, die jenseits der nationalen Hoheitsgewässer liegen – also fast die Hälfte der Erdoberfläche. Bisher konnten wir dort keine Meeresschutzgebiete einrichten, zudem gab es auch keinen verbindlichen Standard für Umweltverträglichkeitsprüfungen von menschlichen Aktivitäten wie zum Beispiel Fischerei oder Kabelverlegung. Die Hohe See war in Bezug auf ihren systematischen Schutz eigentlich ein wilder Westen: Wer zuerst da war, konnte sie ausbeuten. Ohne Rücksicht auf die Empfindlichkeit und Endlichkeit der Meeresökosysteme.
Das ist mit dem Beschluss des UN-Hochseeschutzabkommens nun anders?
Ja. Deutschland hat das Abkommen als eines der ersten Länder im September 2023 unterzeichnet und wir treiben gerade intensiv die Ratifizierung voran, also die Verankerung in deutschen Gesetzen. Das wollen wir bis zur nächsten UN-Ozeankonferenz 2025 abgeschlossen haben. Gleichzeitig startet jetzt schon die Umsetzung des Abkommens, etwa indem wir Länder des Globalen Südens mit bis zu 20 Millionen Euro dabei unterstützen werden, Meeresschutzgebiete auf der Hohen See auszuweisen.
Was ist mit der Unterstützung des Globalen Südens auf Hoher See denn gemeint – es gibt ja keine nationalen Zuständigkeiten da draußen?
Die Schutzzonen liegen außerhalb nationaler Gewässer. Aber die Schutzgebiete, die durch dieses neue UN-Abkommen ausgewiesen werden, müssen von einzelnen Staaten vorgeschlagen werden. Dafür muss man wissenschaftlich beschreiben, warum genau dieses Gebiet, und was dort auf welche Art und Weise geschützt werden soll. Doch die Gebiete auf Hoher See sind schwer zugänglich, nur wenige Länder können dort Forschung betreiben. Die Bundesregierung will, dass dieses „Vorschlagen“ nicht allein der Globale Norden unter sich ausmacht, sondern wir wollen zum Beispiel als Deutschland gemeinsam mit Ländern des Globalen Südens konkrete Schutzgebietsvorschläge machen – eben eine faire, gemeinschaftliche Umsetzung des internationalen Abkommens.
Am Ende ist Naturschutz meistens eine Geldfrage: Haben Sie schon ein Budget für die Umsetzung der Pläne, oder müssen sie später noch um das Budget kämpfen?
Bisher hatten wir keine ausreichenden Mittel für einen wirklich effektiven Meeresschutz. Die Situation hat sich aber zum Glück verbessert, da wir nun durch Abgaben der Windenergieindustrie, der sogenannten Meeresnaturschutzkomponente, Gelder haben, die dem Meeresschutz zufließen. Das ist ein Teil der Erlöse aus der Versteigerung von Windenergieflächen in der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone, die zwischen 12 und 200 Meilen vor der Küste liegt. Aus den ersten Versteigerungsrunden werden wir 2024 über 420 Millionen Euro bekommen. Das klingt zunächst nach sehr viel Geld. Aber wenn wir uns die langfristigen Herausforderungen ansehen, vor den wir stehen, dann sind das Mittel, die wir auch wirklich dringend benötigen.
Wenn mehr industrielle Nutzung auch mehr Gelder für den Naturschutz bedeutet, führt das dann nicht zu noch mehr Bauprojekten im Meer?
Das sehe ich nicht so, weil das voneinander getrennte Vorgänge sind. Das Geld ist eine wichtige Voraussetzung, um dringend notwendige Schutzmaßnahmen oder Renaturierungsmaßnahmen durchzuführen. Langfristig brauchen wir neben Meeresschutzgebieten auch die Energiewende und Offshore-Windparks, um die Klimakrise abbremsen zu können.
Mitte März wurde der Parlamentskreis Meerespolitik eröffnet – ein Zusammenschluss von ExpertInnen und Abgeordneten, die die Meerespolitik vorantreiben und über ebensolche Konflikte wie die Abwägung zwischen industrieller Nutzung und Schutzanspruch der Meere diskutieren wollen. Was kann dieses Gremium ausrichten?
Der Bundestag ist ein Treiber in Sachen Meeresschutz, viele Initiativen der Meerespolitik haben ihren Ursprung in Abgeordnetenkreisen, wie zum Beispiel das Thema Munitionsräumung. Ich gehe davon aus, dass in dieser Parlamentariergruppe Menschen mit sehr unterschiedlichen Zuständigkeiten und Interessen zusammenkommen werden: Leute, die sich stärker für die maritime Industrie in ihren Wahlkreisen einsetzen, andere mit Fokus auf die Fischerei, andere auf den Naturschutz.
Also noch ein Gremium mehr, in dem man sich streiten kann?
Das gehört zur Demokratie dazu, und ich kann dem nur Gutes abgewinnen.
Gerade gab es wieder Medienberichte über das Kohlendioxidspeicherungsgesetz, das reformiert werden und damit den Weg für die Einspeisung von verflüssigtem CO₂ in den Meeresboden in der Nordsee bereiten soll. Wie weit sind diese Pläne und wie sind Sie involviert?
Als Leiter der Unterabteilung Meeresschutz bin ich da in Diskussionen mit den anderen Bundesministerien, besonders mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Für uns im Umweltministerium ist besonders die Frage wesentlich, was wir den Meeren insgesamt noch zumuten können. Die Meere dürfen durch so eine zusätzliche Nutzung keine zusätzlichen Belastungen erfahren, weil wir schon jetzt sehen, dass es den marinen Ökosystemen nicht gut geht und wir die Belastungen zurückfahren müssen.
Muss angesichts des miesen Zustandes der Nord- und Ostsee nicht jede weitere Belastung vermieden werden?
Wir müssen mit Argusaugen darauf achten, was die Meere verkraften können. Ein gutes Beispiel ist die Offshore Windenergie: Einerseits gibt es dort negative Auswirkungen auf Seevögel und Meeressäuger. Auf der anderen Seite brauchen wir die Energiewende, um die Klimakrise effektiv zu bekämpfen. Dafür müssen wir naturverträgliche Lösungen finden. Und ich sehe es auch als eine Verantwortung Deutschlands, zu zeigen, wie der Ausbau einer so wichtigen Energieform so gelingen kann, dass sie keinen Schaden in den Meeren anrichtet.
Viele Menschen haben eine starke Beziehung zum Meer und wollen zum Schutz des Ökosystems beitragen, wissen aber nicht wie. Was können wir für die Ozeane tun?
Da gibt es eine ganze Menge. Auf der individuellen Ebene kann man seinen Alltag hinterfragen: Wie ernähre ich mich, wie bewege ich mich fort? Mein ganzer Lebenswandel hat Auswirkungen, nicht nur auf die Umwelt insgesamt, sondern auch auf die Meere – mit dieser Einsicht kann man was bewegen! Wir brauchen außerdem mehr Menschen, die sich für den Meeresschutz engagieren und auch die Politik aktiv ansprechen. Wir alle, die Bürger und die gewählten Regierungen, müssen dringend sehr, sehr viel mehr tun, um diesen wunderbaren Lebensraum zu erhalten.
Die Retter der Liebenden
brand eins, März 2024
Wer mit wem zusammen sein darf, das hängt in Indien bis heute stark von der Kaste und Religion ab. Paare, die diese Grenzen überschreiten, bekommen oft die ganze Härte der Gesellschaft zu spüren. Der Verein Dhanak of Humanity hilft ihnen – und unterstützt sie dabei, sich ein Leben abseits der indischen Norm aufzubauen.
Die Widersprüchlichkeit Indiens ist oft schwer zu begreifen: Man kann in der Hauptstadt am selben Tag ein LGBTQI-Festival besuchen, bei dem Hunderte Trans-Personen und Homosexuelle lautstark ihr Recht auf Heirat einfordern, und mit einem verängstigten heterosexuellen Liebespaar sprechen, dass wegen seiner Beziehung über religiöse Grenzen hinweg Todesdrohungen erhält und untertauchen musste. Während in Hochglanz-Magazinen die bekannteste interreligiöse Familie des Landes – Bollywood-Stars Shah Rukh (Muslim) und seine Frau Gauri Khan (Hindu) – gefeiert werden, sind die Tageszeitungen voll von Meldungen über Paare, die von ihren Familien oder von vermeintlichen Sittenwächtern zusammengeschlagen und getötet werden, nur weil sie nicht der gleichen Kaste oder Religion angehören:
Januar 2024: Sechs Männer stürmen ein Hotelzimmer, verprügeln ein interreligiöses Paar und filmen ihre Tat.
Oktober 2023: Ein Vater zwingt seine 14-jährige Tochter, Pestizide zu trinken, weil ihr Freund einer anderen Religion angehört. Das Mädchen stirbt.
Juni 2023: Zwei Schwestern nehmen sich das Leben, weil ihre Eltern ihre interreligiösen Beziehungen nicht akzeptieren.
Juni 2023: Vater, Bruder und Onkel erdrosseln ein Mädchen, weil sie sich außerhalb ihrer Kaste verliebt hat.
Bis heute gilt in weiten Teilen Indiens: Nur eine kleine Elite kann es sich leisten, mit den jahrhundertealten Traditionen zu brechen. Für die absolute Mehrheit des Landes sind die Kategorien „Kaste“und „Religion“ so unüberwindlich wie eh. Und: In einer Umfrage der indischen Lok Foundation in Zusammenarbeit mit der Oxford University gaben noch vor sechs Jahren 93 Prozent der verheirateten Menschen in indischen Städten an, dass ihre Familie ihren Partner ausgesucht hat. Das US-amerikanische Pew Research Center ermittelte 2020, dass 99 Prozent der Inderinnen und Inder mit Menschen des gleichen Glaubens verheiratet sind und 95 Prozent der Hindus nur innerhalb ihrer Kaste heiraten.
Auch in anderen Ländern spielen sozialer Status und Herkunft eine große Rolle bei der Partnerwahl: Man bleibt weltweit gerne unter sich. Allerdings sind die Möglichkeiten des Aufstiegs etwa in Europa besser und die Abschottung der religiösen Gruppen voneinander weniger rigide. In Indien kommt noch sehr angespannte Verhältnis zwischen der hinduistischen Mehrheit und den kleineren Religionsgemeinschaften erschwerend hinzu. In zitierter Pew-Umfrage gaben fast zwei Drittel der Hindus an, dass nur Hindus wirklich indisch seien – eine Haltung, die von der rechtskonservativen Regierungspartei befeuert wird.
In diesem gesellschaftlichen Klima leben Menschen, die sich außerhalb ihrer sozialen Gruppe verlieben, gefährlich. Diejenigen, die gegen die rigiden Regeln aufbegehren und außerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten wollen, brauchen also Hilfe. Etwa von Asif Iqbal.
Wer ihn treffen möchte, muss in den Osten Neu-Dehlis fahren. In einem verwinkelten Viertel jenseits des Flusses Yamuna, das Einheimische schon nicht mehr zur Stadt zählen, lädt er in das Büro des Vereins Dhanak of Humanity zum Interview ein. „In unserer Gesellschaft ist es traditionell Aufgabe der Eltern, einen Partner für die Kinder auszusuchen“, sagt Iqbal. „Die Paare, die zu uns kommen, haben mit dieser Tradition gebrochen – aber trotzdem ist es schwer für sie, ohne den Segen ihrer Eltern zu leben. Mit einem Mal haben diese jungen Menschen keine Unterstützung mehr, im schlimmsten Fall müssen sie diejenigen, die ihnen am nächsten stehen, sogar fürchten. In dieser Notsituation melden sie sich bei uns.“
Den Verein Dhanak of Humanity gibt es seit fast zwanzig Jahren. Seit der Gründung 2004 beraten Asif Iqbal und sein derzeit fünfköpfiges Team Verliebte in Not: unterstützen sie dabei, ihre standesamtliche Heirat anzumelden, beraten sie im Umgang mit ihren Familien und bringen sie bei akuter Bedrohung in einer von der Polizei geschützten Unterkunft unter, einem staatlichen Safehouse. Eigentlich sollte es davon nach einer Direktive des Obersten Gerichtshofs seit 2018 pro Bezirk mindestens eines geben. Tatsächlich gibt es bis heute nur in 3 von 28 Bundesstaaten solche Einrichtungen. Das Safehouse in Delhi bietet Platz für gerade mal zehn Paare. Ein Paar, das auf einen dieser raren Plätze wartete, schlief im letzten Jahr monatelang im Büro von Dhanak of Humanity – der junge Mann (aus einer streng religiösen Hindu-Familie) war von seinen Geschwistern entführt worden, bevor ihm und seiner muslimischen Freundin mit Unterstützung von Iqbal und dessen Team die Flucht nach Delhi gelang.
Während des Interviews klingelt immer wieder das Telefon, Iqbal verspricht den Anrufern mit ruhiger Stimme, zurückzurufen. Jeden Monat melden sich bis zu 60 Paare, doch nur etwa 40 begleitet das Team pro Jahr durch die Krise, bis zur Heirat und darüber hinaus. „Es braucht Vertrauen, um mit uns zusammenzuarbeiten“, sagt Iqbal, viele Paare hätten am Ende doch zu viel Angst vor den Konsequenzen ihrer Entscheidung.
Mehr als 5.000 Paaren hat der Verein nach eigenen Angaben seit 2004 geholfen. Die Mittel, umgerechnet rund 30.000 Euro im Jahr, stammen aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. „Jeder Mensch soll frei wählen können, mit wem er sein Leben verbringt – das ist unsere Überzeugung, das treibt uns an“, sagt Iqbal. Außer ihm haben sich noch weitere Mitarbeiter im Besprechungsraum versammelt, sie sitzen auf Stühlen oder Sitzkissen auf dem Boden. Alle hier wissen, was ihre Klientinnen und Klienten durchmachen, denn fast alle in diesem Büro sind Survivors –Überlebende einer Gesellschaft, die sie verstoßen hat, weil sie es gewagt haben, ihre Partner selbst zu wählen. „Wir alle kennen den Schmerz und die Ausgrenzung, die diese Entscheidung mit sich bringen kann“, sagt Iqbal.
Er selbst lernte seine Frau Ranu Kulshrestha während des Studiums kennen, beide studierten Soziale Arbeit. Er stammt aus einer muslimischen, sie aus einer hinduistischen Familie, ihre Eltern waren strikt gegen die Verbindung. „Wir haben jahrelang versucht, sie davon zu überzeugen, dass wir zusammenbleiben wollen. Als das nicht funktioniert hat, haben wir schließlich gegen ihren Willen geheiratet“, erzählt er. Bittere Vorwürfe und Kontaktabbruch waren die Folge. Mittlerweile ist das Ehepaar seit 24 Jahren zusammen und Iqbals greise Eltern lieben die Stieftochter sowie die Enkel – halten die interreligiöse Ehe ihres Sohnes aber bis heute für „die größte Sünde“. Nach all den Jahren kann Iqbal über ihre Sturheit lachen und seine Erfahrung nutzen, um den hilfesuchenden Paaren Hoffnung zu geben. „Jede dieser Liebesgeschichten stellt das System infrage. Darum werden sie so harsch bekämpft. Und darum liegt in jeder dieser Ehen auch so viel Kraft für Veränderung.“
Derzeit stehen die Zeichen allerdings eher auf Rückschritt: Seit 2017 kursiert in Indien unter dem Namen Love Jihad eine Verschwörungserzählung, die interreligiöse Ehen zwischen Hindus und Muslimen als groß angelegte Strategie der Umvolkung diffamiert. Dieser perfiden Propaganda zufolge heiraten (vor allem männliche) Muslime gezielt (vor allem weibliche) Hindus, um damit die hinduistische Mehrheitsgesellschaft zu unterwandern. Indische Ermittlungsbehörden bestätigen, dass es keinerlei Beweise dafür. Dennoch hat der Verschwörungsmythos es bis in den politischen Mainstream geschafft: 2020 warnte etwas die Vorsitzende der staatlichen Nationalen Kommission für Frauen öffentlich vor dem Love Jihad als „tickende Zeitbombe“. Und 2021 haben zahlreiche hindu-nationalistisch regierte Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die Konversionen, also Übertritte zu einem anderen Glauben erschweren.
Das hat weitreichende Folgen. Paare, die in Indien unkompliziert nach religiösen Riten heiraten wollen, müssen den gleichen Glauben haben – oder vor der Heirat konvertieren. In Bundesstaaten wie Uttar Pradesh und Madhya Pradesh müssen solche Glaubensübertritte den Behörden nun vorab gemeldet werden und die Konvertiten beweisen, dass ihr Entscheidung aus freien Stücken geschieht. Die Kriterien dafür sind mehr als vage und lassen großen Spielraum bei der Beurteilung durch die Beamten. Misslingt der Beweis, drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Laut unabhängigen Untersuchungen wurden die meisten diesbezüglichen Strafanzeigen von konservativen politischen Gruppen gestellt.
Paare, die das umgehen und unabhängig von der Religion standesamtlich heiraten wollen, sind kaum besser dran: Sie müssen dem sogenannten Special Mariage Act zufolge die Heirat einen Monat im Voraus anmelden. Ihre Namen – von denen sich die Religionszugehörigkeit meist ableiten lässt – und Anschriften werden dabei von den Behörden veröffentlicht. Konservative politische Gruppen durchsuchen diese Daten mittlerweile systematisch, um anschließend die Familien der Paare teils gewaltsam unter Druck zu setzen.
Vor diesen Extremisten müssen auch die Liebes-Berater von Dhanak auf der Hut sein. Um dem Vorwurf der Kuppelei zu entkräften, müssen die Liebenden vor der Beratung eidesstattlich erklären, dass sie freiwillig zusammen sind. Damit im Nachhinein keiner einen Love Jihad konstruiert. „Die Paare müssen von Anfang an mit der Polizei zusammenarbeiten – nur so können wir sichergehen, dass unsere Organisation später nicht angeklagt wird, wenn der Junge oder das Mädchen einen Rückzieher macht“, sagt Iqbal. An früheren Standorten gab es schon gewalttätige Proteste von aufgebrachten Eltern, die Adresse des Büros und des Safehouses sind darum geheim.
Iqbal umschreibt die politische Entwicklung vorsichtig, diplomatisch: „Die neuen Gesetzesänderungen, die den Glaubensübertritt erschweren, haben die Diskussionen über die komplizierte Verbindung von Religion, Ehe und persönlicher Autonomie intensiviert.“ Die Folge sei, dass mittlerweile oft selbst Freunde der Paare zögerten, als Trauzeugen aufzutreten. Aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen. „Offene Konfrontationen sind zwar selten, aber in den vergangenen Jahren sind Fälle bekannt geworden, in denen Eltern mit der Polizei zusammenarbeiteten und Drohungen aussprachen.“
Was sie dem wachsenden Druck entgegensetzen? Wichtig sei ihr Netzwerk, erzählen die Mitarbeiter von Dhanak, dieser Zusammenschluss von ausgestoßenen Paaren: Sie springen füreinander als Trauzeugen ein. Sie helfen einander, die schlimmen Wochen und Monate der Einsamkeit zu überbrücken. Sie kennen die Beziehungsprobleme, die entstehen können, wenn man sein ganzes Leben für den anderen aufgegeben hat. Aus vielen Unterstützern sind enge Freunde geworden – ein Kreis von Menschen, die am Fundament der Ausgrenzung rütteln.
Zurück in die Zukunft
brand eins, Februar 2024
Diese Serie geht den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit durchlebt. Und sie begleitet Menschen, die durch diesen Wandel navigieren. Der dritte Teil führt erneut nach Bangalore, wo eine ungewöhnliche Allianz aus Brunnenbauern und Gründern die Stadt retten will.
Wären es Szenen aus einem Film über den Spätkapitalismus, man empfände sie als allzu inszeniert: IT-Experten, die mit Booten auf überfluteten Straßen zur Arbeit fahren. Manager in Hemd und Bundfaltenhose, die durch Wassermassen zu ihren Büros waten. Der Stolz der Stadt, die erfolgreichen Tech-Nerds, die wie Vieh auf Anhängern stehen und von Traktoren zur Arbeit gezogen werden. 24 Stunden Starkregen legte im September 2022 ganz Bangalore lahm, entwurzelte Bäume, kappte den Strom und Teile der Trinkwasserversorgung. Der Osten der Stadt, wo der nächste Start-up-Inkubator immer nur einen Steinwurf entfernt ist, war besonders betroffen: Die Überschwemmung verursachte in den IT-Firmen und Banken an einem einzigen Tag einen Schaden von rund 25 Millionen Euro.
Was sich im Herbst 2022 in Bangalore abspielte, erzählt viel über die Arbeitsmoral der Menschen. Und noch mehr über das Dilemma der boomenden IT-Stadt, die an ihre natürlichen Grenzen stößt. Bangalore erwirtschaftet rund 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Bundesstaats Karnataka. Und der gilt als einer der reichsten Staaten Indiens, die Menschen dort verdienen pro Kopf im Schnitt 77 Prozent mehr als im Rest des Landes. Doch welche Zukunft hat eine Metropole, wenn ein Wassernotstand droht?
Nicht nur Bangalore muss sich diese Frage stellen, auf der ganzen Welt dreht sich das tödliche Klima-Karussell aus Überschwemmung und Wassermangel immer schneller. In Europa machen Extremereignisse wie die Flut im Ahrtal Schlagzeilen, die Jahrhundert-Hitze, die französische Atomkraftwerke in die Knie zwang, und die anhaltende Dürre in Spanien, wo bereits im Winter 2024 Wasser rationiert wurde. Besonders betroffen sind die Metropolen der Welt, vor allem im Süden: Bis 2050 werden 6,2 Milliarden Menschen in Städten leben, fast doppelt so viele wie heute. Und sie alle werden Wasser benötigen – nur, wo soll das herkommen?
Bangalore trifft diese Entwicklung besonders hart, da die Stadt keinen natürlichen Wasserzugang hat. Mehr als die Hälfte des Trinkwassers muss aus dem rund 100 Kilometer entfernten Cauvery-Fluss über fünf riesige Pipelines in die auf einem Plateau gelegene Stadt gepumpt werden. Diese Pipelines sind die Lebensader der IT-Metropole, grob überschlagen hängen acht Prozent des indischen BIPs an ihnen (siehe Randspalte).
Diese Abhängigkeit ist besonders bitter, weil Bangalore einst bekannt war als „Gartenstadt“ und „Stadt der tausend Seen“, eine Pionierin der urbanen Bewässerung. Herrscher legten ab dem 16. Jahrhundert künstliche Seen an, in denen sich Regenwasser sammeln, von der Bevölkerung genutzt und ins Grundwasser eingespeist werden konnte. Heute, 400 Jahre später, hat die Stadtplanung weltweit das Prinzip als Schwammstadt wiederentdeckt.
Von den tausend Seen sind in Bangalore allerdings nur wenige übrig: 60, um genau zu sein. Wo früher Wasser war, ist heute Beton. Die dezentrale Wasserversorgung durch Seen und Brunnen wich im 19. Jahrhundert modernen Leitungen, 55 Prozent des Trinkwassers stammen nun aus dem Cauvery-Fluss, über dessen Nutzung die Staaten Tamil Nadu und Karnataka seit mehr als 200 Jahren streiten. Die übrigen 45 Prozent stammen aus legalen und illegalen Bohrlöchern, die zum drastischen Absinken des Grundwasserpegels der Stadt beitragen (siehe Kasten).
Schon 2010 behauptete darum ein hochrangiges Mitglied der Landesregierung, dass die Hälfte der Einwohner von Bangalore bis 2023 wegen Wassermangels evakuiert werden müsse. Die BBC berichtete 2018, dass der Stadt bald das Trinkwasser ausgehen werde. Und der einflussreiche Regierungs-Thinktank Niti Aayog erklärte im selben Jahr, dass Bangalore bis 2020 kein Grundwasser mehr haben werde.
Doch so ist es nicht gekommen. Nicht zuletzt wegen der Menschen, die nicht auf Politik und Verwaltung warten, sondern ihre Versorgung selbst in die Hand nehmen. Brunnenbauer, Ingenieure und Gründer, die Tradition und moderne Technik verbinden, um die einstige Stadt der tausend Seen vor dem Austrocknen zu retten.
Eine Mission in vier Schritten.
1. Das vergessene Wassersystem
Einer der Pioniere ist Vishwanath S (wie in Südindien üblich, kürzt er seinen Nachnamen Srikantaiah ab). Der 61-jährige Ingenieur empfängt im Wohnzimmer seines kleinen Hauses im Nordosten der Stadt, vor ihm liegt »The Hindu«, eine der letzten liberalen Tageszeitung im Land, wie er sagt.
Er arbeitet seit Jahrzehnten darauf hin, den maroden Wasserkreislauf Bangalores zu reparieren, hat dafür vor Jahren seinen sicheren Job in der Stadtverwaltung gekündigt und die Nichtregierungsorganisation Biome Trust gegründet. Wie dringend sein Anliegen ist, beantwortet Vishwanath S mit einem Fingerzeig auf die Zeitung vor sich. Darin: Berichte über ein kurzes Gewitter im Osten Bangalores, das am Vortag stundenlanges Chaos auf der Outer Ring Road auslöste, eine der Lebensadern der Stadt.
„Die Menschen müssen verstehen, was unter ihren Füßen geschieht. Erst dann können sie Verantwortung dafür übernehmen“, sagt Vishwanath S. Das Zuviel und Zuwenig an Wasser hängt in Bangalore mit dem Boom der Stadt zusammen: Die Bevölkerung ist in der Metropolregion seit 2011 von 8,6 auf 13,6 Millionen gewachsen, die asphaltierte Oberfläche hat sich in den vergangenen 40 Jahren vertausendfacht. Regen kann nirgends mehr abfließen.
Außerdem wird das vorhandene Wasser nicht ausreichend aufbereitet. Die Wasserbehörde klärt rund 60 Prozent des Abwassers, der Rest sollte in dezentralen Anlagen (wie in großen Wohn-, Industrie- und Gewerbeanlagen vorgeschrieben) aufbereitet werden – das wird aber kaum überwacht. Wer an den offenen Abwasserkanälen der Stadt spazieren geht, sieht und riecht das Problem. Dort gärt das kaum gefilterte Abwasser aus Tausenden Küchen, Duschen und Toiletten.
Mit anderen Worten: Die Stadt hat genug Wasser, aber das Management ist schlecht. Nun könnte man auf die untätige Verwaltung schimpfen und die konsumhungrigen Städter verfluchen, die täglich ihre SUVs waschen. Aber Vishwanath S denkt stattdessen nach vorn: „Wir brauchen eine neue Wasser-Kultur. Eine, in der die Bürger sich beteiligen und wir das Wissen früherer Zeiten mit neuer Technik vereinen.“
Diese Erkenntnis kam zu ihm in Gestalt eines Brunnenbauers. „Vor 20 Jahren fragte mich plötzlich ein Mann mitten auf der Straße, ob ich einen Brunnen wolle“, erzählt Vishwanath S. Fliegende Händler sind auf Indiens Straßen keine Seltenheit. Solche, die Brunnen anbieten, aber schon.
Der Brunnenbauer erzählte von jenen Gemeinschaften, die Mannu Vaddars oder Bhovi genannt werden und die das Wissen übers Brunnengraben seit Generationen weitergeben. Lange bevor eine zentrale Behörde Wasser in die Stadt pumpte, bauten und betrieben sie offene Brunnen. Diese schafften Zugang zu Wasser aus dem oberflächennahen Grundwasserleiter, einer Art Schwamm aus Erde und Gestein, in dem das einsickernde Wasser gespeichert und in tiefere Schichten abgegeben wird. Doch mit der Einführung des Leitungswassers verlor das Wissen der Brunnenbauer an Bedeutung. Die meisten zogen sich in die Landwirtschaft zurück.
„Durch diese Zufallsbekanntschaft wurde mir klar, dass wir ein zweites, funktionsfähiges Wassersystem haben, das schlicht vergessen wurde“, sagt Vishwanath S, „ein System mit enormem Potenzial!“ Also ließ er sich einen Brunnen in den Vorgarten graben, einen 1,20 Meter breiten und vier Meter tiefen mit Betonringen ausgekleideten Schacht. Nicht um Wasser zu entnehmen – seinen Bedarf deckt er mit gefiltertem Regenwasser –, sondern um das Grundwasser anzureichern.
Anders als zu vorindustriellen Zeiten muss man bei den neuen Brunnen darauf achten, dass keine Schadstoffe ins Grundwasser gelangen. „Nicht ausreichend gefiltertes Wasser ist ein Risiko, eine Verunreinigung mit Chemikalien praktisch unumkehrbar“, sagt Shashank Palur, Hydrologe bei Well Labs, einem Forschungsinstitut für Wasser, Umwelt und Böden in Bangalore. Verhindern lasse sich das, indem man die sogenannten Schluckbrunnen, die zur Versickerung von Wasser in den Boden dienen, nicht zu nah an Straßen und Industriegebiete baue und darauf achte, dass das Regenwasser durch Dutzende Meter Sand und Gestein gefiltert werde. In eng bebauten und rasant wachsenden Städten wie Bangalore seien die Sickerschächte aber ein wichtiger Faktor, um das Absinken des Grundwassers aufzuhalten, sagt er. Für die tausend Seen früherer Zeiten, aus denen Wasser ins Erdreich sickerte, ist heute schlicht kein Platz mehr. Daher beließ es Vishwanath S nicht bei seinem Brunnen im Vorgarten: Er vernetzte sich mit den Brunnenbauern, um so schnell wie möglich mit der Wiederbelebung der Brunnen in ganz Bangalore zu beginnen.
2. Die Brunnenbauer
Was das bewirken kann, sieht man im Cubbon Park im Herzen Bangalores: In der 80 Hektar großen Anlage flanieren Familien im Grünen, turteln Verliebte im Schatten der Regenbäume, trifft sich ein Leseclub beim Lotus-Teich. Abseits der gepflasterten Wege, die den weitläufigen Park durchziehen, treffen wir Ramakrishna K R (auch er kürzt seine Nachnamen ab) und Shankar (der keinen Nachnamen trägt). Sie haben die vergessenen Brunnen des Parks restauriert und damit seine Wasserversorgung gesichert.
Die beiden Männer sitzen auf einer Mauer neben einem großen roten Brunnen. Bis vor wenigen Jahren war er so verfallen wie die anderen sechs Brunnen des Parks, überwachsen und vergessen. Nun inspizieren die beiden Handwerker schüchtern lächelnd ihr Werk, das sie instandgesetzt haben. „Es macht uns froh und stolz, Brunnen zu sehen. Auch wenn wir sie nicht selbst gebaut haben, sie sind die Arbeit unserer Gemeinschaft, unserer Vorväter“, sagt Shankar. Ramakrishna K R schaut kritisch ins trübe Wasser auf dem Grund des Schachtes: „Der muss dringend mal gereinigt werden.“
Denn: Ein Brunnen funktioniert nicht wie ein Wasserhahn. Man muss ihn warten, ihn regelmäßig von Laub und Schlick befreien, ein Verständnis für die lokalen Wasserkörper und ihre Abhängigkeit vom Regen entwickeln. Kurz: Man braucht Experten wie Ramakrishna K R und Shankar, die seit dem 15. Lebensjahr nichts anderes machen.
Die Brunnen, die sie mit Schaufeln ausheben, speisen sich aus dem oberflächennahen Grundwasserleiter. Gräbt man einen Schacht in den mit Regenwasser gefüllten Gesteinsschwamm, läuft er automatisch voll. Im Gegensatz zu Bohrlöchern, aus denen in Bangalore stellenweise aus bis zu 500 Metern Tiefe Wasser emporgepumpt wird, sind die traditionellen Brunnen nur einige Meter tief – solange Regen einsickern kann, sind sie eine einfache und zuverlässige Wasserquelle.
Lange dachten die Mannu Vaddars, dass niemand mehr ihre Fähigkeiten brauche: „Wir wussten, dass unsere Brunnen sicher Wasser geben“, sagt Ramakrishna K R, „aber wer glaubt uns einfachen Leuten?“ Keiner aus ihrer Gemeinschaft hat je eine höhere Schule besucht, geschweige denn studiert. Dafür wissen sie, wie sich der Geruch des Bodens verändert, kurz bevor man auf Wasser stößt. Und dass man nicht unbegrenzt aus der Tiefe pumpen kann, ohne für Versickerung an der Oberfläche zu sorgen. Doch erst seit Vishwanath S mit seinem Universitätsabschluss und den Kontakten in Verwaltung und Politik bei den Mannu Vaddars aufgetaucht ist, hört man ihnen wieder zu.
2015 rief Vishwanath S gemeinsam mit Mitstreitern der Umweltstiftung Biome die Kampagne „One Million Wells“ ins Leben: Innerhalb von zehn Jahren sollten eine Million Brunnen und Schluckbrunnen gebaut werden, um den Grundwasserspiegel der Stadt zu erhöhen. Die Projekte werden oft von Unternehmen als Corporate Social-Responsibility-Maßnahmen gefördert – eine wichtige Geldquelle. Die Umweltstiftung selbst wird von der Rainmatter Foundation (siehe brand eins 02/2024: „Wo die wilden Einhörner grasen“) unterstützt – so fließt das Geld aus der Start-up-Szene in die Brunnen der Stadt.
Und so wurde auch 2017 der Wasserkreislauf im Cubbon Park wiederbelebt. Weil die Brunnen vergessen und trocken gelaufen waren, wurde das Gießwasser mit Lastwagen angekarrt. Dann restaurierten die Mannu Vaddars die sechs historischen Brunnen und gruben zusätzliche 74 Schluckbrunnen. Die Kosten von rund 330.000 Euro trugen Biome Trust und zwei gemeinnützige Stiftungen. Heute führen die Brunnen wieder Wasser und decken mit täglich rund 65.000 Litern fast den kompletten Bedarf des Parks. Die zusätzlichen Sickerbrunnen schützen außerdem vor Überschwemmungen und speisen jährlich Hunderttausende Liter ins Grundwasser ein.
Der Erfolg hat sich herumgesprochen: Mehr als 200.000 Schächte und Brunnen haben die Mannu Vaddars laut einem Bericht der Unesco in den vergangenen acht Jahren in Bangalore gebaut oder wiederbelebt. Vishwanath S geht von einer weit höheren Zahl aus: „Die Brunnen entstehen überall. Wenn eine Firma oder Privatperson sich so was bauen lässt, erfahren wir das meist gar nicht. Aber das ist auch unsere Vision: Das Wissen über die Brunnen soll sich verselbstständigen.“
Dass das Projekt zum Anstieg des Grundwasserpegels beiträgt, zeigt sich in etlichen Berichten von Brunnen, die nach Jahren wieder Wasser führen: im Cubbon Park, am Indian Institute for Management, in Wohnkomplexen. Ein gutes Zeichen ist auch, dass der durchschnittliche Grundwasserpegel in Bangalore zwischen 2020 und 2022 um gut 2,5 Meter gestiegen ist. Jedoch habe es laut dem Hydrologen Shashank Palur in diesen Jahren auch besonders viel geregnet: „Bisher gibt es noch kein wissenschaftliches Monitoring der Brunnen, darum stützt sich der Erfolg bislang auf Erfahrungen und anekdotische Evidenz.“
Die Geschäfte der Brunnenbauer laufen jedenfalls wieder gut. Ramakrishna K R erzählt voller Stolz von Sohn und Tochter, die nun die Universität besuchen. Es ist die erste Generation, in der das Kind eines Brunnenbauers kein Brunnenbauer mehr werden muss. „Wir sind sehr glücklich, dass unsere Arbeit und die unserer Vorväter gewürdigt wird“, sagt Shankar, „die Stadt gibt uns wieder Arbeit, und wir geben der Stadt Wasser.“
Mittlerweile ist die Brunnen-Initiative in zehn weiteren indischen Städten gestartet, initiiert vom Bundesministerium für städtische Angelegenheiten.
3. Hightech-Trinkwasser
Doch um den Kreislauf zu schließen, braucht es mehr als nur Brunnen. Es braucht einen neuen Blick auf Abwasser. In Bangalore, sagt Vishwanath S, sehe das kaum einer so klar wie der Unternehmer Vikas Brahmavar.
Wer dessen Geschäft verstehen will, muss die Orion Mall besuchen, eines der größten Einkaufszentren der Stadt: Springbrunnen vor dem Eingang, hell ausgeleuchtete Flagship-Stores auf vier Stockwerken, acht Hektar für den Konsumhunger der indischen Mittelschicht. Doch das, was diese Mall besonders macht, findet im Keller statt – fast heimlich.
In Bangalore müssen große Gebäudekomplexe ihr Abwasser entweder aufbereiten und wieder nutzen oder Firmen finden, die es ihnen abnehmen. De facto aber fließen laut Schätzungen des Forschungsinstituts Well-Labs rund 70 Prozent des Abwassers illegal in den Abfluss. Die Orion-Mall ist eine positive Ausnahme. Denn in der wenig genutzten Tiefgarage des Hauses steht auf der Fläche von zwei Parkplätzen, verborgen hinter deckenhohen Blechwänden, eine Anlage, die Abwasser in Trinkwasser verwandelt.
„Wasser ist eine wertvolle Ressource. Und unser System sorgt dafür, dass wir die nicht nach einmaligem Gebrauch wegschütten, sondern wieder nutzen können“, sagt Brahmavar. Er steht vor den Filtersystemen, die sein Unternehmen Boson White Water hier installiert hat und erklärt: „Das Wasser aus der Pflicht-Kläranlage der Mall wird in unser System gepumpt und in elf Stufen gereinigt.“ Vollautomatisch und ferngesteuert.
Durchsichtige Rohre machen die verschiedenen Stufen der Aufbereitung sichtbar, aus trübem Wasser wird mit jeder Filtration, Membran und UV-Behandlung schließlich klares Trinkwasser. „Bakterien, Schwermetalle, Pestizide und Herbizide werden entfernt, wir lassen das Wasser regelmäßig von zertifizierten Laboren prüfen“, sagt Brahmavar, zapft sich zur Bestätigung ein Glas ab, das noch vor wenigen Stunden Toilettenwasser war, und trinkt es in einem Zug aus.
Außer ihm trinkt hier allerdings niemand dieses Wasser – in der Orion Mall wird es nur für die Kühlung des Gebäudes verwendet. Auch dafür braucht man sauberes Wasser. 90.000 Liter können täglich aufbereitet werden, das Kaufhaus spart damit laut Boson White Water jährlich 2,7 Millionen Liter und 217.000 Euro.
Die 33.000 Euro teure Anlage bleibt im Besitz von Boson White Water, die Mall zahlt für das aufbereitete Wasser 2280 Euro pro Monat. Ein Beitrag zum Umweltschutz, mit dem sich die Betreiber des Einkaufszentrums aber nicht schmücken wollen. „Zur Eröffnung vor drei Jahren haben wir dieses Banner mitgebracht, um die Einsparung und unser Projekt zu bewerben“, sagt Brahmavar und zeigt auf ein Poster, das versteckt hinter einem Wassertank lehnt, „aber man will nicht, dass die Kunden vom Recycling erfahren.“
Der Gründer kennt das Problem: Das Vertrauen in die Technik ist gering und das Stigma hoch (siehe Kasten). In Indien, wo Wasser auch einen wichtigen spirituellen Wert hat, ist dessen Reinheit besonders wichtig. Um Recycling zu etablieren, braucht es daher Feingefühl. Brahmavar sagt, all seine Projekte erforderten lange Vorgespräche und viel Überzeugungskraft. „Es gibt hohe psychologische Hürden, aufbereitetes Wasser zu nutzen“, sagt er. „Aber da kein Weg daran vorbeiführt, fangen wir besser so schnell wie möglich damit an.“
Vikas Brahmavar hat in seiner Kindheit erlebt, wie Konflikte ums Wasser eskalieren können. „Als ich zehn war, schärfte mir mein Vater ein: Wenn jemand gegen die Haustür hämmert, renn zum Hinterausgang raus und versteck dich bei den Nachbarn.“ Damals, 1991, starben 16 Menschen im Konflikt um die Verteilung des Wassers aus dem Cauvery-Fluss. „Wahrscheinlich ist das eine starke Erinnerung, die mich antreibt“, sagt er.
Bevor er zum Wasser-Unternehmer wurde, arbeitete Brahmavar als Programmierer für eine Investment-Bank in London. Doch er wollte zurück nach Indien, um in seiner Heimat etwas zu bewegen, sagt er. „Viele Unternehmer, die im Ausland waren, haben unrealistische Ansprüche an die indische Verwaltung. Wir können hier nicht auf ein zentralisiertes System setzen wie in Europa, dafür wachsen unsere Städte zu schnell.“
Der in Bangalore subventionierte Wasserpreis von weniger als einem Cent, müsste laut Experten verzehnfacht werden, um allein die Betriebs- und Wartungskosten zu decken. Darum erwartet Brahmavar auch nicht viel von den städtischen Wasserwerken. „Wir müssen auf dezentrale Systeme setzen. Mehr Akzeptanz für recyceltes Wasser ist dazu der Schlüssel.“
4. Symbiose am Stadtrand
Der Ort, an dem Brunnenbaukunst und Erfindergeist zusammenkommen, ist der Vorort Devanahalli im Norden Bangalores. Das ungeübte Auge sieht hier einen von Hirsefeldern und Kokospalmen umrahmten See, einen Brunnen und ein bunt bemaltes Wartungshäuschen. Der Wasser-Experte Vishwanath S sieht hier die Zukunft. Er sagt: „Das hier ist in ganz Indien die erste Installation für indirekt recyceltes Trinkwasser“ – eine Lösung, um das Stigma mithilfe traditionellen Wassermanagements aufzulösen.
Und das funktioniert so: Der See wird mit aufbereitetem Wasser aus einem öffentlichen Klärwerk gefüllt. Der See speist den Grundwasserleiter und der wiederum einen Hunderte Jahre alten Brunnen, der von Mannu Vaddars restauriert wurde und nun wieder Wasser führt. So wird Kläranlagenwasser zu Brunnenwasser. Eine natürliche Umetikettierung, die für mehr Akzeptanz sorgt. Das Brunnenwasser wird dann in einer Anlage von Boson White Water zu Trinkwasser aufbereitet, mit dem die Menschen der Umgebung versorgt werden. So wird aus Kläranlagenwasser erst Seewasser, dann Brunnenwasser, dann Trinkwasser. Ein weiter Weg. Aber einer, der gegen Berührungsängste hilft.
Die 10.000 Menschen der umliegenden Dörfer waren bisher von Wasser aus bis zu 300 Metern Tiefe abhängig. Jetzt bekommen sie aus der neuen Anlage täglich bis zu 250.000 Liter sauberes Trinkwasser, das jeden Monat vom Indian Institute of Science getestet wird.
Forschungsinstitute wie das Well Lab in Bangalore verfolgen das Projekt aufmerksam. „Es gibt einen starken Ekelfaktor, wenn es um die direkte Wiederverwendung von Abwasser geht. In einer Umfrage war die Mehrheit der Menschen nicht bereit, geklärtes Wasser für etwas anderes als die Toilettenspülung und den Garten zu verwenden“, sagt die Stadtplanerin Shreya Nath. „Aber wenn dieses Wasser zunächst in einen See oder Brunnen geleitet wird, bevor es in die Haushalte gelangt, steigt die Akzeptanz. Das könnte für die Zukunft der Wassernutzung entscheidend sein.“ Man müsste das recycelte Wasser dafür nicht einmal trinken, denn der Großteil des täglichen Wasserbedarfs wird fürs Waschen, Spülen und Baden verwendet.
Rund 27.000 Euro hat das Projekt in Devanahalli gekostet, finanziert vom Rotary Club und der örtlichen Niederlassung von Carl Zeiss India. Weil das Wasser durch die natürliche Versickerung zwischen See und Brunnen bereits gefiltert werde, koste der laufende Betrieb der Aufbereitungsanlage nicht mehr als 40 Euro im Monat, sagt Vishwanath S, „etwa so viel, wie der Fischer verdient, der hier die Karpfen aus dem See zieht und auf dem Markt verkauft.“
Das System ist seit November 2023 in Betrieb, die gelben Blumengirlanden und die rituellen Kurkuma-Markierungen der Einweihungszeremonie sind noch frisch. „Bisher nutzen die Menschen in der Gegend das Wasser vorwiegend nicht zum Trinken, sondern für den Haushalt“, sagt Vishwanath S. Das Vertrauen in die Fusion von Tradition und Technik müsse erst wachsen. „Wir wollen nicht einfach mehr sauberes Wasser bereitstellen. Wir wollen, dass die Menschen das Woher und Wohin von Wasser begreifen“, sagt er. Dafür brauche man neben altem Wissen und neuer Technik eben auch einen langen Atem.
Der Quacksalberschreck
brand eins, Januar 2024
Cyriac Abby Philips, ein renommierter Arzt und Leberspezialist aus Kerala, wurde zum Social-Media-Star, weil er medizinische Fehlinformationen bekämpft. Ihm steht eine riesige Industrie entgegen, die auf Quacksalberei und Pseudowissenschaft baut – und mächtige Verbündete in Gesellschaft und Politik hat.
Wer in Kerala auf der Suche nach einer Apotheke ist, steht vielerorts vor der Wahl: Es gibt „Englische Apotheken“ und „Indische Apotheken“. In ersterer findet man Medikamente, die von Wissenschaftlern entwickelt und deren Wirksamkeit getestet wurden. In letzteren bekommt man selbstgemischte Tinkturen und von Alters her überlieferte Mittelchen, die kaum reguliert sind.
Dieses duale Apothekensystem wäre eine Kuriosität, wenn sie nicht auf ein größeres Problem hinweisen würden: Besonders in den ländlichen Gebieten Indiens verlieren Menschen ihre Gesundheit und viel Geld an Scharlatane, weil sie keine ausreichende Gesundheitsversorgung finden. Über 75 Prozent der indischen Gesundheits-Infrastruktur konzentriert sich in den Großstädten, wo nur 27 Prozent der Bevölkerung leben. Die restlichen 73 Prozent der indischen Bevölkerung haben keine grundlegende medizinische Versorgung. Viele von Ihnen behelfen sich mit der Konsultation von Heilern und frei verkäuflichen Mittelchen, die ihnen Linderung versprechen. Die dahinterstehende Industrie der alternativen Medizin boomt, wird mit Millionen von der Regierung gefördert und sogar mit einem Ministerium geadelt. Und das in einem Land, das das Streben nach einem „wissenschaftlichen Geist“ als Ziel in der Verfassung festgeschrieben hat. Wie viele Menschen zwischen Mangel und Desinformationen zerrieben werden, darüber lässt sich bisher nur spekulieren.
Einer, der sich diesem Problem angenommen hat, ist Dr. Cyriac Abby Philips, Gastroenterologe aus Kerala. Tagsüber behandelt er als Leberspezialist Patienten an einem Klinikum in der Hafenstadt Kochi, nachts sitzt er an seinem Schreibtisch, in einem Apartment mit Blick über die Stadt und kämpft gegen den Irrsinn im Internet. Ein bisschen wie Batman, aber mit Studien und per-review-Prozessen. Auf Twitter, Youtube und Co ist Philips als „TheLiverDoc“ bekannt, hat Hunderttausende Follower, ein stetig wachsendes Publikum – und mächtige Feinde, die ihn bedrohen, seine Studien sabotieren, ihn verklagen und seine Veröffentlichungen verhindern wollen. Dabei, so sagt Philips, schreibe er ja nichts anderes, als den Stand der Forschung.
Angefangen hat alles 2017: Philips begegnete bei seiner Arbeit immer wieder Patienten, die ohne erkennbaren Grund Gelbsucht und Hepatitis entwickelt hatten. Übliche Auslöser wie Alkoholmissbrauch, kontaminiertes Wasser oder Reaktionen auf Medikamente konnte er ausschließen. Dann fiel ihm auf, dass viele seiner Patienten pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel einnahmen, meist ayurvedische Mittelchen, die das Immunsystem stärken, gegen Diabetes und Bluthochdruck helfen sollen. Die Lebererkrankungen korrelierten zeitlich oft mit der Einnahme der ayurvedischen Produkte. „Ich suchte in der Literatur nach Studien, fand aber wenig, vor allem keine Daten aus Indien“, sagt Philips. Also startete er gemeinsam mit Kollegen 2018 eine Studie, und fand bei 94 von 1440 untersuchten Patienten einen Zusammenhang zwischen schweren Leberschäden und der Einnahme von ayurvedischen Medikamenten. Bei 33 Studienteilnehmern konnten die Leberschäden durch ein akribisches Ausschlussverfahren eindeutig auf die traditionelle Medizin zurückgeführt werden – durch die hochkonzentrierten Pflanzen-Tinkturen hatten die Patienten sehr viel Schwermetalle wie Arsen und Quecksilber aufgenommen. 20 Prozent von ihnen starben schließlich an den von den Kräuter-Präparaten herbeigeführten Schäden. „Ich war selbst überrascht von der Drastik der Ergebnisse“, sagt Philips.
Dass manche pflanzliche Wirkstoffe schwere Leberschäden auslösen, ist unter Gastorentrologen kein Geheimnis: Alleine Nahrungsergänzungsmittel mit hochkonzentriertem Kurkuma wurden 2020 in Italien sieben Fälle von schwerer Gelbsucht angelastet, in den USA löste das Wurzelextrakt 2022 bei 10 Patienten ebenfalls eine Hepatitis aus, ein Patient verstarb sogar. Die Pflanze ist als Gewürz im Curry oder Tee vollkommen harmlos. Wird die Aufnahmefähigkeit des Wirkstoff allerdings künstlich erhöht, kann das zu Leberschäden führen – nur ein Beispiel für eine Reihe von Problemen, die Mediziner weltweit mit unzureichend getesteten, vermeintlich harmlosen pflanzlichen Mitteln umtreibt.
Für seine erste Studie bekommt Philips unter Kollegen viel Anerkennung, publizierte in angesehenen Journalen in Indien und den USA, gewann den „National Paper of the Year Award 2018“ der indischen Gesellschaft für Gastroenterologie. Aber er wollte mit seinen Ergebnissen nicht nur andere Mediziner erreichen, sondern auch seine Patienten – und jene, die es nicht werden sollten. „Darum habe ich angefangen, meine Ergebnisse in einer vereinfachten Form in die Öffentlichkeit zu tragen“, sagt Philips. Er beginnt, auf Facebook und WhatsApp über die Probleme mit traditionellen Heilmitteln zu schreiben – und trifft einen Nerv.
Tausendfach werden seine Beiträge weitergeleitet, die meisten Menschen sind entrüstet über die wissenschaftliche Abwertung der traditionellen Medizin. Philips bekommt Abmahnungen und Hassbriefe, die sich vor allem darauf beziehen, dass er einen christlichen Namen trägt und darum der „Hinduphobie“ bezichtigt wird.
Wenige Wochen darauf bekommt er eine Einladung aus dem AYUSH-Ministerium, das für Bildung und Recherche in Bezug auf Ayurveda, Yoga und andere traditionelle Naturheilkunden zuständig ist. Das Ministerium arbeitet seit November 2014 parallel zum Ministerium für Gesundheit und hat einen Haushalt von aktuell rund 400 Millionen Euro, mit dem es neben Forschung und Aufklärung über alternative Heilmethoden auch Gesundheitsprogramme fördert, besonders in ländlichen Regionen. Die Wiederbelebung des Ayurveda ist eines der Aushängeschilder der hindunationalistischen Regierung unter Narendra Modi. Das Ministerium machte unter anderem 2017 Schlagzeilen, als es ohne wissenschaftliche Grundlage schwangere Frauen dazu aufrief, auf Eier, Fleisch und „Wollust“ zu verzichten.
Nachdem seine Kritik an Ayurveda-Praktiken bekannt wurde, habe ihn das AYUSH-Ministerium zum Gespräch gebeten, sagt Philips, aber nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Konsultation anderer Gesundheits-Experten. „Es war klar, dass es ihnen nicht um Aufklärung und die öffentliche Gesundheit geht, sondern darum, schlechte Publicity von der Industrie abzuwenden.“
Philips schlägt die Einladung aus. Und stößt stattdessen weitere Studien an, die die Wirkung von ayurvedischen Kräutern bei Patienten mit schwerer Lebererkrankung untersucht und die verheerende Wirkung bei Patienten mit chronischen Lebererkrankungen nachweist. Außerdem publiziert er über Einzelfälle von jungen, gesunden Menschen, die durch die Einnahme von ayurvedischen Diätpillen starben und Kindern, deren Lebern unwiederbringlich geschädigt wurden.
Unterstützung erfährt Philips online von Menschen, die ihre Gesundheit schützen wollen. In Indien, wo das staatliche Gesundheitssystem chronisch überlastet ist und immer wieder Fälle von verunreinigten oder unwirksamen Medikamenten die Patienten verunsichern , sind die Warnungen des Leberspezialisten zwar weitere schlechte Nachrichten – aber welche, die mit Quellen belegt sind. Philips schreibt für Nicht-Mediziner leicht verständlich, aber auch provokant und ohne Rücksicht auf religiöse Gefühle: Über die Wirkungslosigkeit von Kurkuma (das vom AYUSH-Ministerium zur Kurierung von Covid 19 empfohlen wurde ), von Homöopathie (deren Einfluss so weit reicht, dass entsprechende Tinkturen zur Hochzeit der Pandemie an Schulkinder in Kerala verteilt wurde), von Kuh-Urin-Kuren (die das AYUSH-Minister als Basis für Krebsmedikamente preist).
Ab 2019 publiziert der Liverdoc auch auf Twitter, 230.000 Menschen erreicht er dort, auf Youtube hat er 25.000 Abonnenten, die ihm regelmäßig zuhören. Seine Studienergebnisse und öffentliche Stellungnahmen werden zunehmend auch in lokalen Zeitungen und Fernsehsendern aufgegriffen und erreichen Menschen außerhalb der digitalen Sphäre. Sein Publikum wächst immer weiter – und so auch die Zahl seiner Gegner. Philips wissenschaftliche Artikel werden auf Druck von Tinktur-Produzenten depubliziert, ein für ihn arbeitendes Labor von einem Mob heimgesucht, große Unternehmen wie Himalaya Wellness Corporation verklagen den Arzt wegen Diffamierung auf rund eine Millionen Euro Schadensersatz und lassen kurzzeitig seinen Twitter-Account sperren. Im Februar 2022 wurde er vom AYUSH-Ministerium wegen seiner Kritik an der medizinischen Verwendung von Kurkuma abgemahnt und von der Ärztekammer des Staates Kerala zur Zurückhaltung aufgefordert. Philips Forschung bedroht eine mächtige Industrie: Der Jahresumsatz der ayurvedischen Medizin-Produktion in Indien stieg von drei Milliarden Dollar im Jahr 2014 auf 18,2 Milliarden Dollar im Jahr 2022 an, verkündete 2022 das AYUSH-Ministerium.
Am Tag nach dem Interview für diesen Artikel erhält Cyriac Abby Philips und seine Familie Morddrohungen, weil ein Yoga Guru (und Ayurveda-Geschäftsmann) Philips Aufklärung als antinational und antireligiös diffamiert und seine Gefolgschaft zum Gegenschlag aufruft.
„Mir wurde schon oft gesagt: Geh’ doch nach Pakistan, wenn es dir hier nicht passt. Ich sage dann immer, dass sie dort auch alles mit Kurkuma behandeln“, sagt Philips. Er begegnet dem Druck mit Sarkasmus. Über die Bedrohung, der er sich selbst und seine Familie aussetzt, will er nicht nachdenken, sagt er. „Ich empfange jeden Tag in der Klinik Patienten. Wenn einer ein Messer mitbringt, was kann ich dagegen tun?“ In einem Land wie Indien, in dem in den letzten Jahren Sozialreformer wie Narendra Dabholkar und Journalistinnen wie Gauri Lankesh für ihren Einsatz gegen Aberglaube und für wissenschaftsbasierten Fortschritt auf offener Straße erschossen wurden, changiert Philips Beharrlichkeit zwischen Naivität und Todesmut.
Es klingt nach einer Heldengeschichte, aber Philips will kein Held sein. „Es macht mich traurig, dass es heute schon als mutig gilt, seine Forschung in die Öffentlichkeit zu tragen“, sagt Philips. Er wolle ein guter Arzt sein in einem Land, dass die Wissenschaft und seine Wissenschaftler würdigt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Vorstellung verfolgt er, sie hält ihn Nacht für Nacht wach, lässt ihn die zahllosen Social-Media-Posts, Videos, Podcasts produzieren, in denen er seine Arbeit darlegt und sie gegen wissenschaftsfeindliche Trolle verteidigt. Und diese Vision ist so stark, dass er sein Engagement nun trotz des Widerstands weiter ausweitet, statt sich zurückzuziehen.
Durch Zufall erfährt Philips 2022 von seiner Haushaltshilfe, dass sie rund vier Monate lang Medikamente gegen Diabetes und Bluthochdruck genommen hatte, ohne dass sich eine Besserung einstellte. Aus Neugier ließ er die Generika, die in einer zertifizierten Apotheke verkauft wurden, testen und konnte nachweisen, dass eines von vier Medikamenten von sehr schlechter Qualität waren. „Nach dieser Stichprobe begann ich mich zu fragen, wie viel unwirksame Medikamente da draußen zirkulieren“, sagt Philips.
Gemeinsam mit rund 40 Biomedizinern, Mathematikern, Forschern, Juristen und Ärzten gründete er daraufhin ein neues Netzwerk, die „Mission für Ethik und Wissenschaft im Gesundheitswesen“. Ihr Ziel: Sie wollen Studien durchführen, bei der sie die Öffentlichkeit um Geldspenden bitten, um eine 72 weit verbreitete Generika auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen können: Unter anderem Fieber- und Diabetesmedikamente, Mittel gegen Bluthochdruck und zu hohen Cholesterinspiegel. Rund 30.000 Euro muss das Netzwerk sammeln, um diese Tests durchführen zu lassen und die Ergebnisse zu veröffentlichen.
Wenn das gelingt, wäre es eine in Indien bisher einzigartige Initiative. Mangelhafte Medikamentenqualität ist in Indien seit Jahrzehnten ein Problem, immer wieder kommt es zu Skandalen wie 2022 und 2023, als hunderte Kinder in Gambia, Usbekistan und Kamerun an einem verunreinigten Hustensaft starben. Experten fordern daher schon lange unabhängige Prüfung in der Medikamenten-Herstellung, deren Ergebnisse veröffentlicht werden sollten. Die Medikamententests, die die „Mission für Ethik und Wissenschaft im Gesundheitswesen“ anstrebt, wären auf dem Weg dahin ein erster Schritt. Bisher wurde das Netzwerk als gemeinnützige Gesellschaft registriert, im Juni 2024 soll das Projekt starten und eine öffentliche Debatte über Medikamentenqualität auch abseits der Naturheilkunde anstoßen.
Die Probleme des indischen Gesundheitssystems – die Ungleichheit im Zugang zu Medizin und Behandlungen, den wachsenden Einfluss von wissenschaftsfernen Heilern und Wellness-Unternehmen – können Philips und seine Mitstreiter nicht lösen. Ihr Anliegen ist es, in einem ideologisch aufgeheizten öffentlichen Diskurs die Fahne der Rationalität hochzuhalten. Was Philips dabei antreibt? „Gestern kam ein Mann in meine Praxis, der über meine Arbeit auf Facebook gelesen hatte“, sagt er. Der Mann sei aus dem Landesinneren angereist, habe viele hundert Kilometer zurückgelegt, um seine Lebererkrankung nicht von Heilern, sondern vom „LiverDoc“ behandelt zu lassen. Nun könne er ihm helfen, sagt Philip. Patienten wie dieser zeigten ihm, dass seine Engagement trotz aller Widerstände Früchte trage. „Wir können die Desinformationen zurückdrängen, indem wir konsequent dagegen anreden.“
Indien – Land im Aufbruch
brand eins, Dezember 2023
Von Holger Fröhlich und Julia Lauter
Jeder fünfte Mensch auf der Welt lebt heute in Indien. Die größte Demokratie der Welt wird international immer wichtiger. Auch für Europa. Diese Serie gibt Einblicke in ein Land, dessen Wirtschaft um gut sechs Prozent jährlich wächst und das gleichzeitig mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung mit kostenlosen Grundnahrungsmitteln versorgen muss. Wir spüren den großen Umbrüchen nach, die Indien derzeit erlebt. Und zusammen mit indischen Autorinnen und Autoren begleiten wir Menschen, die durch diesen Wandel navigieren.
Wie unser erster Protagonist, der Bügler Motilal Kanojia.
Motilal Kanojia steht da, wo er immer steht. In seinem selbst gebauten Verschlag in der 21-Millionen-Einwohner-Metropole Mumbai an der Westküste Indiens. Und er macht das, was er immer macht: wuchtet sein gusseisernes Bügeleisen, in dessen Innerem rote Kohlen glühen, über die Business-Hemden und Ausgeh-Saris der Nachbarschaft. Von morgens bis abends, sieben Tage die Woche. Hier steht er seit mehr als 25 Jahren, hier stand er, als wir ihn 2019 besucht hatten, und hier wird er stehen, bis er das Eisen nicht mehr heben kann (siehe auch Mikroökonomie 07/2020). Das wird sein Leben gewesen sein, darüber macht sich der 44-Jährige keine Illusionen: „Ich bin ein alter Mann. Was für mich zählt, ist nur noch das Leben meiner Tochter.“
Mit 16 Jahren schickte ihn der Vater ins 1.500 Kilometer entfernte Mumbai, das damals noch Bombay hieß und als aufstrebende Finanzmetropole ein besseres Leben versprach. Schon seine Eltern haben mit dem Kohlebügeleisen ihr Geld verdient sowie deren Eltern und Großeltern. Die großen Richtungsentscheidungen im Leben des Motilal Kanojia waren bei seiner Geburt bereits gefällt. Der Sohn eines Büglers wird Bügler. So wie die Sonne morgens auf und abends untergeht. Den Rest entschieden die Eltern wenig später, mit der Wahl der Ehefrau und der Aussendung nach Mumbai.
Kanojia und sein Kohlebügeleisen stehen für das ewige Indien. Für jenes Land, dessen Grenzen und Machthaber sich über die Jahrtausende oft verändert haben, das im Inneren aber von einer Kraft zusammengehalten wird, die jeden Wandel zu verdauen scheint. Wie auch der Hinduismus keine Scheu hat, die Götter fremder Religionen in den eigenen Kosmos aufzunehmen. Das ist das ewige Indien, das wir immer wieder besucht haben und auch für die Recherche zu dieser Serie wiederfinden. Und gleichzeitig ist diesmal alles anders – auch für Motilal Kanojia.
Denn das Land steckt mitten im Umbruch. Fast jeder fünfte Mensch auf der Welt lebt heute in Indien. In einer gleichsam stark beschleunigten wie verlangsamten Realität. Das bevölkerungsreichste Land der Erde hat Hunger nach Wohlstand, Aufstieg und Mitsprache. Kaum eine Volkswirtschaft wächst schneller. Allein der indische Energiebedarf wird sich zwischen 2020 und 2035 verdoppeln.
Zwischen 2010 und 2021 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Schnitt um 5,3 Prozent, heute ist das Land mit 3,4 Billionen Euro die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens. Obwohl die Pandemie das Tempo abgeschwächt hat, rechnet die Regierung für 2023 mit einem realen Wachstum des BIP um 6,9 und für 2024 mit 6,3 Prozent.
Zwischen 2011 und 2019 konnte der Anteil der Menschen in extremer Armut (weniger als 2,15 Dollar täglich) halbiert werden. Die Arbeitslosenquote lag 2023 offiziell bei 3,2 Prozent. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen geht in Indien einer Beschäftigung nach, mehr als die Hälfte von ihnen sind selbstständig.
Laut Berechnungen der State Bank of India soll bis zur Feier der hundertjährigen Unabhängigkeit im Jahr 2047 die Zahl derer, die eine Einkommensteuererklärung einreichen, um das Sechsfache steigen – auf 482 Millionen. Damit wäre das Land angekommen in der Liga der Volkswirtschaften mit mittlerem Einkommen.
Auf dem Papier liest sich das alles wunderbar. Aber die Wirklichkeit ist komplizierter. Wie verzerrt das Bild bisweilen sein kann, das korrekte Zahlen zeichnen, dazu später. Vorerst genügt die Erkenntnis, dass die größte Demokratie der Welt mitten in einer Hyper-Transformation steckt, die Chancen wie Gefahren birgt. Und dass sie immer näher an Europa rückt. Durch die wachsende Distanz zu China, das Ringen um Fachkräfte und das Freihandelsabkommen. Bisher galt: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, wackeln in Deutschland die Lieferketten. Wer in die Zukunft schaut, sollte die Reisfelder Indiens im Blick behalten.
Keine leichte Übung bei diesem schwer greifbaren Land, das sowohl den Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi als auch seinen Mörder Nathuram Godse als Patrioten verehrt; und dessen reichster Mann, Mukesh Ambani, vom Schlafzimmer seines Privathochhauses mit 600 Angestellten auf Nachbarn schaut, die sich zu Hunderten eine Toilette teilen.
Zum einen ist da Narendra Modi, dessen Konterfei neuerdings von jeder freien Fläche der Finanzmetropole lächelt, mal fassadenfüllend mächtig, mal hundertfach kilometerlang nebeneinander auf Plakaten. Während sich eine Taxifahrt vor fünf Jahren noch wie ein Trip durch den Netflix-Startbildschirm eines Heranwachsenden anfühlte, so voll war die Stadt mit knalligen Bollywood-Plakaten, auf denen Muskelmänner Bikinifrauen vor Explosionen retteten, scheint es Ende 2023, kurz nach dem G20-Gipfel in Mumbai, nur noch einen Film zu geben: Großmacht Indien. Buch, Regie und Hauptrolle: Narendra Modi. Die ganze Stadt ist in den Farben der Regierungspartei tapeziert. Ein ruhiges Grün, ein warmes Orange und ein gütig-überlegen lächelnder Premier mit weißem Vollbart. Ein bisschen wie in einer Wohngruppe für Schwermütige.
Während die Welt versucht, ihre Allianzen neu zu sortieren, steht Indien mit offenen Armen und stolzer Brust in der Mitte. Hier besteht kein Zweifel daran, wer die Eins in der neuen China-Plus-Eins-Welt ist. Die Botschaft der allgegenwärtigen Plakate lautet: Fortschritt und Einigkeit.
Doch bei der Einigkeit ist man uneins. Das Land ist politisch tief gespalten. Viele der 200 Millionen Muslime sowie andere Minderheiten im Land fühlen sich durch die regierenden Hindu-Nationalisten zunehmend marginalisiert und bedroht (siehe Indien in Zahlen und Fakten). Je nach Gesprächspartner ist die Lage euphorisch bis verzweifelt. Manche fürchten um ihr Leben, einige träumen vom Auswandern, andere sehen goldene Zeiten kommen.
Und was ist mit dem Fortschritt? Wo versteckt der sich am Kohlebügeleisenstand von Motilal Kanojia? Der heute noch so arbeitet wie sein Urgroßvater? Der wenig Hindi und kein Englisch lesen kann und so wenig verdient, dass das Finanzamt ihn in Ruhe lässt? Der Fortschritt steckt in seiner Hosentasche. Wer ihm die sechs Rupien (sieben Cent) fürs Bügeln eines Hemdes zahlt, reicht ihm heute keinen Schein mehr, sondern scannt mit dem Mobiltelefon einen Barcode auf Kanojias Telefon. Ausrangiert ist sein abgegriffenes Notizbuch, in dem er bis vor Kurzem in mühsamer Handschrift die Beträge notierte, die er seinen Kunden schuldete, die mit zu großen Scheinen zu ihm kamen. Jetzt kommt das Geld stets passend in Sekunden bei ihm an.
Jeder Teehändler am Bahnhof, jede Zwiebelverkäuferin am Straßenrand rechnet nun so ab. Als hätte ein ganzes Land einfach so den Schalter von analog auf digital umgelegt. Bargeld hat seinen Sinn verloren. Egal wen wir auf unseren Reisen durchs Land treffen, fast alle haben das Portemonnaie durch ihr Mobiltelefon ersetzt. Geldautomaten ziehen keine Menschenmassen, sondern nur noch Staub an. Bares wirkt hier so praktisch wie eine VHS-Kassette mit Festnetzanschluss. Das ist einer der großen Umbrüche, um die es in dieser Serie geht.
Wem die jähe Digitalisierung zu verdanken ist – der Regierung oder der Pandemie –, darüber streiten die politischen Lager. Unbestritten ist, dass dahinter ein enormer Kraftakt der Verwaltung steckt. Ein Kraftakt, der 1,4 Milliarden Menschen ein einfaches und schnelles Bezahlsystem beschert hat – das auch noch ziemlich gut funktioniert.
Verantwortlich dafür ist JAM. Das Akronym steht für Jan Dhan (Konto für alle), Aadhaar (Sozialversicherungskarte) und Mobiltelefonie. Diese drei Bausteine haben ein digitales Ökosystem ermöglicht, das weltweit Standards setzt. Ziel dieses Regierungsprogramms von 2014 war es, das ganze Land ans Bankenwesen anzuschließen. Rund die Hälfte der Erwachsenen hatte bis dahin kein Konto. Schätzungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zufolge kostete dieser Umstand zwischen einem halben und zwei Prozentpunkten des indischen Bruttoinlandsproduktes jährlich. Die Vereinten Nationen rechnen -finanzielle Inklusion zu den bedeutendsten Zielen für die nachhaltige Entwicklung von Schwellenländern.
Eines der dringlichsten Ziele der Regierung war es, die Auszahlungen von Sozialleistungen in den Griff zu kriegen. Man stelle sich vor, wie bisher Hunderte Millionen von Empfängern ohne Konto, die sich auf 600.000 teils nur zu Fuß erreichbare Dörfer verteilten, mit Hilfsleistungen versorgt wurden. Noch dazu in einem Land, dass sich vor der deutschen Bürokratie in Sachen Vertracktheit nicht verstecken muss. Der Großteil der Zahlungen versickerte daher bei korrupten Zwischenhändlern. Auch wer ohne Konto Kredite aufnehmen musste, war auf dubiose Geschäftemacher angewiesen. Die staatlichen Mikrokredite zu günstigen Konditionen gibt es nur mit Konto. Unerreichbar für die Hauptzielgruppe: Indiens 90 bis 150 Millionen Landwirte (auch über diese Zahl wird gestritten).
Der erste Teil des JAM-Programms war die flächendeckende Versorgung mit Mobiltelefonen und Internet. Diese Erfolgsgeschichte ist bekannt. Mit ihr wuchsen Wohlstand und Bildung – allerdings auch die Zahl der Lynchmorde in Folge von Hetze in sozialen Medien. Heute haben 1,2 Milliarden Menschen im Land ein Telefon mit -Internet; der günstigste Datentarif kostet weniger als einen Euro pro Woche. Damit ist fast das ganze Land online und der 5G-Empfang in jedem Fischer-dorf besser als im ICE zwischen Kassel und Hannover.
Teil zwei sind die Jan-Dhan-Konten: einfach zu eröffnende Bankkonten ohne Mindesteinlage. Damit sollte die bisher abgehängte Hälfte der Bevöl-kerung an die monetäre Moderne angeschlossen werden. Und wie sie angeschlossen wurde. Im Schnitt zwei Millionen Konten wurden in den ersten Jahren jede Woche eröffnet. Ende August 2014 waren es sogar 18 Millionen pro Woche – genug für einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.
Neun Jahre später haben 500 Millionen Menschen ein solches Konto eröffnet und zusammen 22,8 Milliarden Euro eingezahlt. Rund 55 Millionen von ihnen erhalten darauf Sozialleistungen, die ihnen ohne Wegzoll überwiesen werden. Zwei Drittel der Kontoinhaber kommen vom Land, gut die Hälfte davon sind Frauen.
Die dritte Stufe des JAM war die Aadhaar-Karte. Wer ab 2018 Geld vom Staat empfangen wollte, musste sich biometrisch erfassen lassen. Und bekam dafür eine Karte mit einer zwölfstelligen Identifikationsnummer, die mit Anschrift und Konto verknüpft ist. Eine Voraussetzung, die nun auch die Ärmsten im Land erfüllen konnten. Im November 2023 waren knapp 1,4 Milliarden Aadhaar-Karten verteilt – und damit fast die gesamte Bevölkerung versorgt.
JAM ist seinerseits wieder ein Baustein in einem größeren Gefüge namens India Stack. Dabei geht es um die ganz großen Digitalisierungsfragen des Landes: Alle Bürger sollen virtuell geschäftsfähig werden, die Verwaltung papierlos und das Bezahlen bargeldlos. Das Ganze mit einer offenen Schnittstelle für die Privatwirtschaft.
Damit schließt sich der Kreis zu Kanojias Bügeleisenstand. Denn als die Menschen mit Internet, Konten und eindeutigen Identifikationsnummern versorgt waren, schlug die Stunde des Unified Payments Interface (UPI) – jenes Zahlungssystems, das Kanojia nun täglich nutzt. Die digitale Schnittstelle verbindet alle Konten des Landes und ermöglicht sekundenschnelle Überweisungen. Kostenlos.
Das vielleicht größte Wunder daran: Es funktioniert ausgezeichnet. Im August 2023 wurden mehr als zehn Milliarden monatlicher Transaktionen mit einem Volumen von 167 Milliarden Euro verbucht. Ein kleiner Teil -davon ging an Kanojia, der erzählt, dass ihm jetzt, da er kein Bargeld mehr in der Tasche habe, auch das Sparen leichter falle.
Der Internationale Währungsfonds nennt JAM und India Stack Meilensteine, von denen sich andere Länder auf dem Weg in die digitale Zukunft etwas abschauen könnten. Wegweisend sei der modulare Aufbau und dass die Einzelteile am Ende so gut zusammenpassten, sei offenen Standards zu verdanken. Damit war die Wirtschaft von Anfang an eingebunden und an der Weiterentwicklung beteiligt – im eigenen Interesse. Heute laufen 68 Prozent aller überwiesener Rupien im Land über die UPI-Schnittstelle. Der Staat erreicht mit Sozialleistungen und Mikrokrediten nun jene, die er erreichen will. Und auch die Privatwirtschaft profitiert. Während Banken die physische Legitimationsprüfung pro Kunde früher im Schnitt elf Euro gekostet hat, sind es dank der staatlichen digitalen Infrastruktur heute nur noch fünf Cent.
Sicher läuft bei Umstellungen dieser Größenordnung nicht alles reibungslos. So hat etwa die Aadhaar-Karte, so einfach die Idee klingt, ihre Tücken. In einem Land mit mehr als 100 Sprachfamilien und 200 Millionen Analphabeten kann schon die Schreibweise des Namens zur Herausforderung werden. Und wer einmal quer in den Mühlen der indischen Bürokratie steckt, dem hilft nur noch Beten.
Das betrifft keineswegs nur die Ärmsten. So demonstrierte Aakar Patel, der ehemalige Chef von Amnesty International India, wie vielfältig sein eigener Name auf offiziellen Dokumenten falsch steht. In seiner Geburtsurkunde hatte er den Namen „Akar Patel“, beim städtischen Stromversorger „Akkar Patel“ und auf seiner Wahlberechtigungskarte „Aakarpatel“. Jeder Behördengang kann so zum Problem werden. Im Jahr 2020 hat die indische Regierung übrigens die Konten der NGO eingefroren und deren Arbeit damit faktisch beendet.
Einige Menschen fühlen sich zudem angesichts der wachsenden Zahl an Übergriffen auf Minderheiten gar nicht wohl dabei, nun in einer Datenbank mit biometrischen Merkmalen und der aktuellen Anschrift vermerkt zu sein.
Obwohl Kanojia froh ist über das neue Geld im Handy, gehört er zu den Letzten, die sich darauf eingelassen haben. Erst im September 2023 war er dazu bereit. Er sei ein alter Mann, erzählt er uns, die neue Technik verstehe er nicht mehr. Er sei froh, dass ihm ein Stammkunde alles eingerichtet habe. Seine Hoffnung für die Zukunft ruht auf seiner Tochter, in deren Ausbildung er sein ganzes Geld steckt: „Ich habe mein Schicksal von den Eltern geerbt – aber meine Tochter wird später mal zur Uni gehen!“ Gegen diesen Plan kann sie sich womöglich so wenig wehren, wie er sich einst gegen den seines Vaters. Auch heute noch wird das Leben eines Kindes maßgeblich von den Eltern bestimmt – über alle Klassengrenzen hinweg (siehe Indien in Zahlen und Fakten). Mit dem bedeutenden Unterschied, dass Kanojias Plan für seine Tochter mit einer uralten Tradition bricht.
Das Kind eines Büglers wird kein Bügler – das ist eine Revolution, die vielleicht größer ist als die Digitalisierung eines Subkontinents. Und der Mann mit den ernsten Zügen ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Wir treffen diesmal überall Menschen seiner Schicht, die uns stolz die Fotos ihrer Kinder vor den Schulen des Landes zeigen.
Diese Revolution wächst gerade erst heran, in den Klassenzimmern Indiens. Es sind die Kinder von Wäschern, Büglern und Brunnenbauern. Wenn sie nach vorn schauen, sehen sie eine verheißungsvolle Zukunft mit neuen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Aufstiegschancen. Wenn sie aber zur Seite schauen, sehen sie Abermillionen Gleichaltriger mit denselben Zielen. Das trübt die Aussicht.
Mehr als 600 Millionen Menschen in Indien sind jünger als 25 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei gut 23 Prozent – das sind knapp 60 Millionen Jugendliche, die heute schon einen Job suchen. Und jeden Monat drängt eine neue Million auf den indischen Arbeitsmarkt – stünden diese Neu-Ankömmlinge hintereinander in einer Reihe, reichte die Schlange von München bis Hannover. Jeden Monat!
Das Problem ist: Die Auftragsbücher des verarbeitenden Gewerbes sind nicht voll, und das finanzielle Pulver des Staates mit seinen enormen Infrastrukturprojekten ist kurz vor der Wahl im Frühjahr 2024 bereits verschossen. Laut Weltbank wurde zwischen 2011 und 2018 netto keine einzige neue Stelle geschaffen. Kein Wunder, dass sich auf 40.000 befristete Stellen in der indischen Armee jüngst 3,5 Millionen Menschen bewarben und bei der Auswahlrunde der indischen Eisenbahn zwölf Millionen Menschen um 35.000 Stellen kämpften. Das ist wörtlich gemeint: Es gab Unruhen.
Dabei zeigt die Zahl der Arbeitslosen nur einen Teil der Geschichte. Vielleicht schwerer wiegt die Unterbeschäftigung. Wo im deutschen inhabergeführten Café oft nur eine Person arbeitet, treten sich in Indien oft ein Dutzend Angestellte auf die Füße. Einer öffnet die Tür, einer nimmt die Bestellung entgegen, ein anderer bringt sie, wieder ein anderer kocht den Kaffee, kassiert, putzt und so weiter. Keiner von ihnen ist arbeitslos, aber auch keiner von ihnen ist ausgelastet oder voll bezahlt.
Noch düsterer sieht es in der Landwirtschaft aus, in der 50 Prozent der Arbeitskräfte des Landes beschäftigt sind, die aber nur 20 Prozent zum BIP beiträgt. Der Konflikt um die Felder ist eine weitere Bruchstelle der indischen Gesellschaft. Es wird über Subventionen gestritten, über archaische Anbaumethoden und die immer noch alltäglichen Suizide der Bauern. Im September 2020 belagerten Hunderttausende Landwirte monatelang die Hauptstadt Delhi und lieferte sich Scharmützel mit der Polizei. Es ging um nötige Reformen und die Frage, ob sie eher den Bauern oder den Großkonzernen dienen sollten.
Die Landwirtschaftskrise offenbart tiefe Risse in der indischen Gesellschaft. Zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung, die manchmal nicht nur Kilometer, sondern Jahrhunderte zu trennen scheint. Während man in Delhi laktosefreien Cold Brew Latte in klimatisierten Jazz-Cafés trinkt, prügelt ein Lehrer im zweieinhalb Autostunden entfernten Bundesstaat Rajasthan einen Schüler zu Tode, weil der Wasser getrunken hatte, das höheren Kasten vorbehalten ist.
Nach diesem Auftakt kommen vor allem unsere indischen Kolleginnen und Kollegen zu Wort, die ihr Land am besten kennen und es aus verschiedenen Perspektiven beschreiben können.
Wir lernen in den kommenden Ausgaben den Agrarsektor aus der Feder dessen kennen, der die Bauern-Suizide vor 30 Jahren öffentlich machte. Es geht um Bäuerinnen, die Lösungen schaffen, wo andere längst aufgegeben haben. Wir reisen auf den Spuren der gigantischen Solarvorhaben der Regierung ins vergessene Hinterland und schauen uns auf der Unicorn-Street in Bangalore um, wo man seinen Tee nicht austrinken kann, ohne dass nebenan zwei Start-ups gegründet werden. Wir lernen eine Metropole kennen, die einst berühmt war für ihre Bewässerungskunst und heute zu verdursten droht, wir besuchen das indische Musterländle Kerala, dessen digitales Bildungsprogramm von Finnland übernommen wurde.
Wir sehen atemberaubenden Fortschritt und tödliche Lethargie und treffen Menschen, denen es gelingt, Gegensätze zu überbrücken und den Wandel mitzugestalten.
Macht euch weg
fluter, Dezember 2023
Sie: Muslimin. Er: aus einer Hindu-Familie. In Indien kann das bedeuten, dass man untertauchen muss
An einem Mittwoch im März 2023 bekommt Ankur überraschend Besuch. Seine Schwester, sein Schwager und dessen Bruder, die im ländlichen Bundesstaat Rajasthan leben, stehen vor seiner Tür. Sie seien zum Shoppen nach Mumbai gekommen, ob er sie über das Wochenende nach Rajasthan begleiten wolle, die Eltern kämen auch. Ankur freut sich. Auf Zeit mit seiner Familie und die Chance, über das zu sprechen, was zwischen ihnen steht. Doch als er die Autotür zuzieht, wird ihm klar, dass er zu leichtgläubig war.
Plötzlich hätten sich ihr Gesichtsausdruck und ihr Tonfall verändert, erinnert sich Ankur. „Alles ging in die falsche Richtung.“ Sie fahren aus der Stadt, viele Stunden, immer weiter nach Norden. Ankur, 24, ein jungenhafter Mann mit Locken, schiefem Lächeln und Informatik-Master, wird von seiner Familie entführt.
Wochenlang darf er nicht telefonieren oder das Haus verlassen. Sie zwingen ihn, seinen Job zu kündigen, schlagen ihn, drohen mit dem Tod. Er muss Psychopharmaka schlucken und Geisteraustreibungen über sich ergehen lassen. Und das alles wegen Shifa. Sie ist Muslimin, Ankur kommt aus einer hinduistischen Familie.
Die Reaktion ist extrem, aber keine Ausnahme. Ankurs Familie gehört zur aufstrebenden Mittelschicht, das Drama um ihn und Shifa spielt im Herzen der indischen Gesellschaft.
In den vielen Bollywood-Filmen des Landes dominiert das immer gleiche Ringen um romantische Liebe: der erste Blick, das erste Missverständnis, die Versöhnung, die Heirat. Dabei ist die Liebe in Indien eine komplexe Sache: Hier versuchen selten nur zwei Menschen herauszufinden, wie und mit wem sie ihr Leben verbringen wollen, sondern viele: die Familie, die religiöse Community, politische Gruppen, sogar der Staat.
Die große Mehrheit der indischen Ehen arrangieren die Eltern: 93 Prozent der befragten Verheirateten in städtischen Gebieten gaben bei einer großen Studie aus dem Jahr 2018 an, dass ihre Familie ihren Ehepartner ausgesucht hat. Liebesheiraten, bei denen sich die Partner eigenständig kennenlernen, sind die Ausnahme.
Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Paare zwangsverheiratet werden. Oft dürfen die „Kinder“ bei der Entscheidung mitreden. Aber die Auswahl ist traditionell Aufgabe der Eltern. Neben individuellen Vorlieben schauen sie vor allem, dass die Familien zusammenpassen. Geld und Status spielen eine Rolle, für Hindus die Kastenzugehörigkeit und sehr zentral ist der Glaube. In einer 2020 landesweit durchgeführten Umfrage gaben 99 Prozent der verheirateten Befragten an, einen Ehepartner gleichen Glaubens zu haben. Inderinnen und Inder heiraten bis heute, wie es schon ihre Großeltern getan haben – und sie wollen, dass das so bleibt: Die überwiegende Mehrheit spricht sich gegen interreligiöse Ehen aus, über alle Glaubensgruppen hinweg.
Diese Konvention trifft Paare wie Shifa und Ankur, die für ihre Liebe mittlerweile fern der Heimat unter Polizeischutz leben. Treffen lassen sie sich nur über Videocalls. Die beiden haben Angst. Deshalb sollen ihre Nachnamen und ihr Aufenthaltsort nicht in diesem Text stehen.
„Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt, es hat gleich geklickt“, erzählt Shifa, schulterlange Haare, floral besticktes Hemd. Sie lächelt, wenn sie über Ankur spricht. Beide sind damals Anfang 20. Shifa hat gerade ihren Master in Psychologie abgeschlossen, die beiden arbeiten als Lehrer für eine NGO. Sie reden viel, irgendwann lange über die offiziellen Meetings hinaus.
Im Sommer 2022, die beiden kennen sich ein Jahr, weiß Shifa, dass er der Mensch ist, mit dem sie ihr Leben verbringen will. Das will sie ihm sagen. „Obwohl wir nicht zusammen sein konnten.“ Ankur ist Rationalist, er glaubt an Vernunft, nicht an einen Gott. Auch Shifa ist nicht strenggläubig. Aber dass sie aus unterschiedlichen Communitys kommen, lässt sich schon an ihren Nachnamen ablesen. Und ihre Eltern dulden keine Partner aus einer anderen Glaubensgemeinschaft.
Shifa gesteht ihre Liebe. Ankur sagt: „Lass uns weglaufen.“ Aber Shifa will ihre Familie nicht verlieren. Ankur sagt: „Dann konvertiere ich zum Islam.“ Auch das wird in beiden Familien auf Widerstand stoßen. Schließlich überzeugt er sie, es wenigstens zu versuchen: ihren Familien zu erklären, was sie einander bedeuten. Ankur sei bedingungsloser Optimist, sagt Shifa. Noch etwas, das sie an ihm liebe. Bis zu seiner Entführung sind es noch sieben Monate.
Unter Premierminister Narendra Modi ist das gesellschaftliche Klima in Indien rauer geworden, für die Minderheiten und besonders für Menschen wie Ankur und Shifa, die sich nicht den gesellschaftlichen Normen beugen. Seit Jahren kursiert die Verschwörungserzählung, dass muslimische Männer hinduistische Frauen heiraten würden, um sie zum Islam zu bekehren und mit diesem „Liebes-Dschihad“ die hinduistische Mehrheitsgesellschaft zu unterwandern.
Es gibt keine Daten, die dieses Narrativ stützen. Die Erzählung aber zieht Jahr für Jahr weitere Kreise: Unter dem Vorwand, den „Liebes-Dschihad“ zu bekämpfen, werden Paare in ganz Indien eingeschüchtert und angegriffen.
Das ermöglicht eine Besonderheit des indischen Rechts. In der konservativen indischen Gesellschaft haben unverheiratete Paare einen schweren Stand: Sie können schwerer Wohnungen anmieten und fürchten Nachteile für ihre Kinder. Das soziale Stigma ist groß, gerade für interreligiöse Paare. Wenn sie heiraten, müssen sie das – im Gegensatz zu allen anderen Paaren – standesamtlich tun. Und diese Ehen regelt der „Special Marriage Act“. Er schreibt vor, dass sich die Paare 30 Tage vor der Heirat mit Namen und Anschrift anmelden müssen – öffentlich. Fanatiker durchforsten die Daten, um die Paare und deren Familien einzuschüchtern. Zudem haben zahlreiche Bundesstaaten zuletzt Gesetze erlassen, die interreligiöse Ehen erschweren: Wer den Glauben wechselt, muss das vorab ebenfalls anmelden und beweisen, dass er nicht durch „falsche Darstellung“, Gewalt, „Verlockung“ oder „betrügerische Mittel“ vom Partner beeinflusst worden ist. Gelingt das nicht, drohen dem „Verführer“ bis zu zehn Jahre Haft. Untersuchungen zeigen, dass bisher fast nur muslimische Männer angezeigt wurden – vor allem von nationalistischen Gruppen.
In dieser Gemengelage ist das Verliebtsein auch ohne Ehe eine Prüfung. Keiner weiß das besser als Asif Iqbal. Sein Büro liegt in einem verwinkelten Viertel im Osten Neu-Delhis. Seit bald 20 Jahren hilft Iqbal Paaren, sich gegen die Liebesverbote zu wehren. „Weil jeder frei wählen sollte, mit wem er das Leben verbringt“, sagt Iqbal, „und weil wir damit an einer Säule des Patriarchats sägen.“ Iqbal lacht.
Der ausgebildete Sozialarbeiter strahlt die überlegte Ruhe aus, die es hier braucht. Die Paare, die zu Iqbal kommen, sind im Ausnahmezustand. „Sie haben Angst, gegen ihren Willen verheiratet oder verschleppt zu werden, Angst vor den Menschen, die ihnen am nächsten sind, und auch vor der Polizei.“
Iqbal kommt aus einer muslimischen, seine Frau aus einer hinduistischen Familie. 2005 gründeten sie mit anderen Dhanak Of Humanity. Mittlerweile hat er fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Fast alle sind „Survivors“, wie sie sich nennen: Überlebende einer Gesellschaft, die sie wegen ihrer Liebe verstoßen hat.
Um Paare vor Zwangsehen, Suiziden und Ehrenmorden zu bewahren, arbeitet der Verein auch mit staatlichen Einrichtungen zusammen. Denn theoretisch haben alle Inder das Recht, ihre Partnerinnen und Partner frei zu wählen. Aber praktisch wird das nicht auf jeder Polizeidienststelle anerkannt. Darum helfen Iqbal und sein Team: Sie helfen dabei, die standesamtliche Heirat anzumelden. Beraten zum Umgang mit den Familien. Und bringen Paare bei akuter Bedrohung in einem „Safe House“ unter, das von der Polizei geschützt werden muss.
Vor Jahren empfahl Indiens Oberster Gerichtshof, dass es solche Häuser im ganzen Land geben soll, mindestens eines pro Distrikt. Heute gibt es solche Schutzräume nur in drei Staaten. Der in Delhi hat Platz für zehn Paare. Seit September leben Ankur und Shifa hier.
„Plötzlich war Ankur einfach nicht mehr erreichbar“, erinnert sich Shifa. Sie wusste, dass er mit seinen Geschwistern weggefahren war. Tagelang bleiben ihre Nachrichten und Anrufe unbeantwortet. Dann schickt Ankur erste Sprachnachrichten. Er habe geweint und verzweifelt gewirkt, erzählt Shifa, und er habe erklärt, sich trennen zu wollen. Zwei Tage später kann Ankur die erste E-Mail an der Überwachung seiner Familie vorbeischmuggeln. „Darin stand, dass er mit mir zusammenbleiben will. Und dass ich dringend Hilfe suchen soll.“
Eine Familie sei wie eine Hand, sagen Ankurs Verwandte: Ein einzelner Finger könne nichts, um zuzugreifen, müssen alle Finger kontrolliert handeln. Für Ankur wird seine Familie zur Faust. Eine, die nach ihm und Shifa schlägt. Seine Familie lässt Beziehungen zu radikalen Hindu-Organisationen spielen, droht, Shifa wegen des „Liebes-Dschihads“ anzuzeigen, Auftragsschläger zu ihrer Familie zu schicken. Shifa ist in diesen Wochen allein. Ihre Eltern sind auch gegen die Verbindung, Freunde wenden sich aus Angst vor Schikane ab. Im Mai 2023 findet Shifa im Internet Dhanak, sie ruft Asif Iqbal an.
Bis zu 60 Paare melden sich jeden Monat bei Dhanak. Maximal 40 begleiten Iqbal und sein Team jedes Jahr bis zur Heirat. Viele hätten am Ende doch zu viel Angst und knickten ein, erzählt Iqbal. Wie ihre Geschichten enden, erfährt er nie.
Vor Angriffen sichert Iqbal sich und den Verein durch eidesstattliche Erklärungen der Paare ab. In denen unterschreiben sie, dass sie freiwillig und aus Liebe handeln. Nur so könne man sichergehen, dass die Organisation später nicht angeklagt wird, wenn einer einen Rückzieher macht, erzählt Iqbal. Der Druck auf seine Organisation ist groß. An früheren Standorten randalierten schon aufgebrachte Eltern, die Adressen des Büros und des Safe House sind geheim.
Für Ankur und Shifa gibt es am Ende nur eine Lösung: Täuschung. Ankur gibt sich zu Hause geläutert. Er betet täglich mit seiner Familie, trennt sich offiziell von Shifa. Nach Wochen des Terrors darf er zurück nach Mumbai. Bald treffen sie sich für wenige Minuten, heimlich, an einer Bahnstation, und planen ihre Flucht nach Delhi. Erst im Flugzeug, es ist Shifas erster Flug, fühlen sie sich wieder sicher. Sie schlafen einen Monat lang im Büro von Dhanak. Tagsüber wird ihr Zimmer als Beratungsraum genutzt.
Am 11. Oktober 2023 kehren Ankur und Shifa für einen Tag zurück nach Mumbai: um zu heiraten. Unter Polizeischutz. Ihre Eltern informieren sie vorab telefonisch. Ankurs Mutter droht mit Selbstmord, Shifas Mutter bricht den Kontakt ab. Aus ihrem Freundeskreis traut sich niemand zur Hochzeit. Trauzeugen sind „Überlebende“ aus dem Dhanak-Netzwerk.
Er erlebe oft, erzählt Asif Iqbal, dass die Familien nach einer Zeit doch einlenken und die Ehe hinnehmen. Das sei bei ihm selbst so gewesen: Mit den Jahren verblasse die Erinnerung an die Verletzungen, und übrig bleibe eine Lücke, das gegenseitige Nicht-Verstehen. „Diese Paare“, sagt Iqbal, „stellen das System infrage. Darum werden sie so harsch bekämpft. In jeder dieser Lieben liegt Kraft für Veränderung.“
Keine Geschichte
Reportagen, Dezember 2023
Nicht jede Idee eines Reporters führt zu einer grossartigen Reportage.
Das ist eine Geschichte über ein revolutionäres Gefühl: Hoffnung. Ein grosses Wort. Besonders aus dem Mund einer Wissenschaftsjournalistin, deren Schreiben von harten, fundierten Fakten getrieben ist. Und doch: Vor ein paar Wochen fand ich eine Nachricht in meinem Posteingang, die dieses utopische Sehnen in mir entfachte.
Ein Redakteur schrieb mir, er habe gehört, dass einige Menschen in der nördlichsten Region Pakistans Gletscher züchteten. Dass es dort eine indigene Kultur gebe, die Gletscher als lebendige Wesen ansehe und über viele Generationen eine Praxis entwickelt habe, mit der die Menschen die Eisriesen an neuen Stellen zum Wachsen brächten. Eine unglaubliche Vorstellung. Eine, der ich gerne nachgehen wollte.
Denn gute Nachrichten sind in meinem Beruf selten. Ich schreibe seit Jahren über die Klimakrise und deren Auswirkungen für Umwelt und Menschen, und das lässt mich verzweifeln: Die Gletscher in der Schweiz, im Rest der Alpen, auf der ganzen Welt schmelzen mit einer beispiellosen Geschwindigkeit. Sie bluten förmlich aus. Was bleibt, sind Geröllwüsten im Gebirge, aus dem Takt geratene Wassersyste- me, steigende Meeresspiegel.
Die Vermählung und Vermehrung von Gletschern, die die Menschen in der pakistanischen Region Baltistan unter grösstem Aufwand betreiben, berührte mich. Oder wie es bei Ernst Bloch heisst: «Das utopische Bewusstsein will weit hinaussehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zu durchdringen.» Sollte es möglich sein, dass die Balti, die seit Jahrhunderten im Schatten des Himalaja- und Karakorum-Gebirges leben, von den Gletschern etwas gelernt haben, das, na ja, die Welt retten könnte?
(…)
Der Kanarienvogel unter den Ozeanen
Der Freitag, November 2023
Dr. Roxy Mathew Koll ist einer der führenden Klimawissenschaftler Indiens. Seit Jahrzehnten erforscht er das Zusammenspiel zwischen dem Indischen Ozean und den Monsun-Zyklen sowie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region. Was heute schon im Indischen Ozean passiere, sagt Koll, spiegle die Zukunft aller Meere wieder – wenn wir nicht jetzt handeln.
Herr Koll, Sie schrieben in einem kürzlich veröffentlichten Artikel, der Indische Ozean gleiche einem Kanarienvogel in einer Kohlenmine – was meinen Sie damit?
Nun, früher sollen Bergleute ja kleine Vögel mit sich geführt haben, um giftige Gase aufzuspüren und ihnen zu signalisieren, wenn Gefahr drohte. Stirbt der Vogel, ist es höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Und der Indische Ozean, das kleinste Meer auf unserem Planeten, ist ebenso ein lebendiger Alarm: Er zeigt der Menschheit, was in den Ozeanen und im Klimasystem insgesamt passieren kann. Kein tropischer Ozean erwärmt sich derzeit schneller als der indische. Und die Auswirkungen sowohl auf das lokale Wetter als auch auf das globale Klima sind schon jetzt enorm. Wenn Sie in Europa wissen wollen, was passiert, wenn die Vorhersagen des IPCC eintreffen, dann schauen sie hierher: Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung lebt an den Küsten des Indischen Ozeans und die Auswirkungen des Klimawandels sind bereits vor unserer Haustür zu spüren.
Was sind die größten klimatischen Veränderungen?
Indien hat mehr als 7000 Kilometer Küstenlinie. Wir sind an drei Seiten vom Ozean umgeben und im Norden thront der Himalaya. Früher war das Wasser die Stärke des Landes: Es schützte die Menschen vor Invasionen, die Gletscher in den Bergen lieferten Süßwasser und der Ozean sorgte für die Monsun-Winde, die für 80 Prozent der jährlichen Niederschlagsmenge verantwortlich sind.
Doch jetzt ändert sich die gesamte Dynamik. Der Indische Ozean erwärmt sich rasant und die Gletscher schmelzen. Und die unmittelbarste Veränderung ist die des Monsuns: Seit den Fünfzigerjahren geht die Gesamtmenge der Niederschläge zurück, in einigen Regionen fällt heute bis zu 20 Prozent weniger Regen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der extremen Niederschlagsereignisse zu. Statt eines Monsuns, nach dem wir die Uhr stellen konnten, auf den unsere Kultur ausgerichtet ist und der unsere Felder zuverlässig mit Wasser versorgt hat, haben wir jetzt lange Trockenperioden, die sich mit kurzen Phasen heftiger Regenfälle abwechseln - der Regen eines ganzen Monats fällt manchmal innerhalb weniger Tage oder Stunden. Es kommt zu Sturzfluten, die Häuser mit sich reißen und Menschen töten.
Welche Rolle spielt die Erwärmung des Indischen Ozean für die Monsunwinde?
Eine entscheidende! Die Monsun-Winde versorgen das Land mit Wasser. Sie bilden sich als Reaktion auf den Temperaturunterschied zwischen Land und Ozean. Während des Sommers ist das Land normalerweise viel wärmer als das Meer. Dadurch entsteht ein Druckunterschied, die Winde vom Indischen Ozean wehen Richtung Himalaya, nehmen dabei Feuchtigkeit aus dem Ozean auf und regnen über dem Land ab.
Doch jetzt erwärmt sich der Indische Ozean aufgrund des Klimawandels schneller als das Land. Der gesamte Ozean ist bisher bis zu 0,8 Grad Celsius wärmer geworden im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter – im indischen Ozean ist das Wasser bereits bis zu 1,2 Grad wärmer. Der geringere Temperaturunterschied zwischen Land und Meer führt zu einem geringeren Druckunterschied – und das schwächt die Monsunwinde. Es gibt aufgrund der Erwärmung zwar mehr Verdunstung und mehr Feuchtigkeit in den Wolken, die Regenwolken schaffen es aber seltener bis ins Landesinnere und regnen oft einfach über dem Ozean wieder ab.
Und ist der Monsunwind einmal stark genug, dann kommt es häufig zu extremen Niederschlägen. In einigen Gebieten entlang der Westküste Indiens nimmt die Gesamtmenge der Niederschläge darum zu. Aber die Landwirte in Zentralindien gehen leer aus.
Etwa 60 Prozent der indischen Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, welcher Zusammenhang besteht zwischen Meer, Klima und Ernährungssicherheit?
Dieses Jahr ist ein El Niño-Jahr, darum setzt der Monsun verspätet und langsam ein. Die Vorhersagen prognostizieren einen Monsun, der leicht unter dem normalen Niveau liegt, mit größeren Regen-Defiziten in Nord- und Zentralindien. In Maharashtra, dem Bundesstaat, in dem ich lebe, liegen die meisten Wasserreservoirs bis zu 20 Prozent unter dem normalen Wasserstand. Wir haben hier also nicht genügend Regenwasser erhalten. An einigen Orten regnet es zwar sehr viel in kurzer Zeit, aber die Quellen werden nicht aufgefüllt. Die Menschen sind also zu Recht besorgt über die langfristige Wasserverfügbarkeit.
Hinzu kommt, dass die Landwirte nicht in der Lage waren, ihre Pflanzen zum richtigen Zeitpunkt auszusäen. Die komplette Ernte steht damit auf dem Spiel. Denn bei einer späten Aussaat sind die Pflanzen der zunehmende Hitze ab Mitte September ausgeliefert. Außerdem können heftige Regenfälle und Überschwemmungen die jungen Pflanzen schädigen. Die Bauern müssen in diesem Fall erneut aussähen – falls es dann noch nicht zu spät ist und sie sich das überhaupt leisten können.
Wie sehr der landwirtschaftliche Sektor in einem Jahr getroffen wurde, sieht man erst im Oktober, wenn die Ernten eingeholt werden. Aber starke, unerwartete Regenfälle im März haben schon jetzt dazu geführt, dass die Regierung den Export für manche Reissorten verboten hat und die bestehenden Exportbeschränkungen für Weizen und Zucker erneuert hat.
Warum erwärmt sich der Indische so viel schneller als die anderen Ozeane?
Das liegt an mehreren Faktoren. Der wichtigste ist, dass die durch die globale Erwärmung verursachte überschüssige Wärme in anderen Ozeanen Richtung der Pole transportiert und dort abgekühlt wird. Im Indischen Ozean ist aber die nördliche Transportroute durch Land blockiert – daraus ergeben sich ganz andere Temperaturreaktions-Muster aus ozeanischen und atmosphärischen Prozessen, Winden und Wolken.
Welche Rolle spielen die Ozeane in Bezug auf den Klimawandel?
Eine riesige. Wir können nicht über den Klimawandel nachdenken, ohne die Rolle der Ozeane zu berücksichtigen. Mehr als 93 Prozent der zusätzlichen Hitze aus der globalen Erwärmung wird in den Ozeanen gespeichert! Denn im Vergleich zu Luft hat Wasser eine erstaunliche Eigenschaft, die wir spezifische Wärmekapazität nennen: Wenn Sie eine Flasche mit heißem Wasser und eine Flasche mit heißer Luft füllen, kühlt die Luft schneller ab als das Wasser. Wasser erwärmt sich langsam, aber es speichert die Hitze auch länger. Und das erleben wir jetzt in den Weltmeeren. Neue Berechnungen zeigen: Unsere Ozeane haben durch die menschengemachte Erderwärmung so viel Energie in Form von Hitze aufgenommen, dass man 150 Jahre lang jede Sekunde eine Hiroshima-Bombe zünden müsste, um diese Energie zu erzeugen.
Gibt es einen Kipppunkt, an dem die Ozeane ihre Puffer-Funktion verlieren?
Ja, es gibt einen Punkt, ab dem die Ozean kein weiteres Kohlendioxid und keine weitere Wärme aus der Atmosphäre mehr aufnehmen können. Noch ist nicht sicher, ob wir diesen Punkt in naher Zukunft erreichen werden – Anzeichen dafür sind allerdings, wenn wie jetzt starke El Niño-Ereignisse oder marine Hitzewellen auftreten, die das Wetter auf der ganzen Welt beeinflussen. Man sieht dann, dass das Meer beginnt, die aufgenommene Wärmeenergie abzugeben. Ich würde noch nicht von einem Kipppunkt sprechen, aber die aktuellen Entwicklungen sind schon ziemlich einschneidend. Es sind irreversible, nachhaltige Veränderungen im System.
Was können wir tun, um die Pufferfunktion der Ozeane zu erhalten?
Es gibt eine sehr einfache Lösung: Wir müssen so schnell möglich von fossilen auf erneuerbare Energieträger umsteigen. Und die Zeit drängt, denn die Ozeane haben ein Langzeitgedächtnis: Selbst wenn wir heute alle Kohlenstoff-Emissionen stoppen würden, würde der Ozean die schon gespeicherte Wärme noch lange Zeit abgeben.
Welche Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel gibt es in Indien?
Wir haben an vielen Orten schon heute entweder Wasserknappheit oder Wasserüberfluss. Manchmal sogar beides am selben Ort. Wenn man es richtig anpackt, könnte man viel retten – aber dafür bräuchte es ökosystem-basierte Anpassung, besonders in den stetig wachsenden Megacities: In einer Stadt wie Mumbai leben heute schon rund 20 Millionen Menschen. Bis 2050 sollen es 40 Millionen Menschen werden. Aber bei der Urbanisierung wurden die klimatischen Veränderungen und die Umweltbedingungen nicht berücksichtigt. Und das zeigt sich jetzt in vollem Ausmaß: Viele unserer Flüsse sind mit Mauern umgeben und fließen in dicht besiedelten Gebieten in Betonkanälen, ohne sichere Überlaufmöglichkeiten. Für die meisten dieser Flüsse gibt es keine Pläne, dies zu ändern. Dabei weiß jeder, dass wir Platz schaffen müssen, damit das Wasser überlaufen und versickern kann, um unsere Wasserreservoirs zu füllen. Denn wir brauchen dieses Wasser für die Zeiten, in denen der Regen ausbleibt. Diese Art von langfristiger Flächen-Umnutzung findet bisher aber kaum statt.
Wie wichtig sind die Daten des Indian Ocean Observing System, um Menschen in Indien vor Extremwetterereignissen zu warnen?
Daten sind sehr wichtig, wenn man will, dass die Frühwarnsysteme zuverlässig sind und Leben retten. Vor 25 Jahren starben bei Wirbelstürmen auf dem indischen Subkontinent noch Zehntausende von Menschen. Jetzt sind es in den vergangenen zehn Jahren höchstens einige Hundert. Und das nur, weil sich die Vorhersagen drastisch verbessert haben.
Allerdings haben wir nur unzureichende Daten über den Indischen Ozean. Gerade weil er sich so schnell erwärmt, bräuchten wir besonders viele Messstationen. Doch es gibt Regionen, wie die vor der Küste Somalias, in der wir wegen der Piraterie kaum Bojen installieren können. Und wegen der Pandemie konnten unsere Stationen seit mehr als drei Jahren nicht gewartet werden. Manche Bojen liefern derzeit nur noch zwei Prozent der möglichen Messungen, also praktisch keine Daten. Wir hoffen, dass in diesem und im kommenden Jahr neue Wartungs-Fahrten gemacht und neue Plattformen installiert werden können. Aber der Verlust, den wir erlitten haben, ist gewaltig.
Wie wirkt sich das auf die Vorhersagen aus?
Ohne eingehende Modellsimulationen können wir nicht präzise sagen, wie sich der Mangel an Beobachtungen im Ozean auf die Vorhersagedauer ausgewirkt hat. Aber bei den jüngsten Wirbelstürmen im Arabischen Meer konnten wir die Meeresbedingungen wegen der schnellen Entwicklung der Wirbelstürme nicht genau beobachten. Wir gehen zu Bett und denken, dass sich da ein schwacher Wirbelsturm nähert, aber wenn wir aufwachen, ist es bereits ein Wirbelsturm der Kategorie 5 mit 200 Stundenkilometern, der unser Dach wegbläst.
Derzeit ist keines der weltweiten Modelle, auch keines der globalen Agenturen, in der Lage, die rasche Intensivierung von Wirbelstürmen präzise vorherzusagen. Das liegt auch an den fehlenden Messungen im Indischen Ozean.
Sie fordern rasches Handeln und Investitionen in die Forschung zum Schutz der Küstenbevölkerung vor Wirbelstürmen - wie könnte dieser Schutz konkret aussehen?
Im Moment können wir kaum mehr tun, als jeden Wirbelsturm zu überwachen und die Menschen auf seiner Route zu evakuieren. Aber was finden sie vor, wenn sie zurückkommen? Ihre Höfe und Häuser sind zerstört. Wir retten also das Leben, nicht aber die Lebensgrundlagen der Menschen. Deshalb müssen wir Wege suchen, um die Küstenregionen katastrophensicher zu machen. Nicht nur vor Stürmen, sondern auch vor extremen Fluten, deren Salzwasser das Ackerland auf Jahre zerstören. Wir müssen sie vor schweren Regenfällen, Überschwemmungen und vor dem Anstieg des Meeresspiegels schützen.
Eine der Möglichkeiten, sich darauf einzustellen, sind ökosystem-basierte Anpassungen wie Mangroven, die die Auswirkungen von Winden abschwächen, das Land vor Erosion schützen und das Salzwasser von Überschwemmungen absorbieren können. Und an Orten, an denen Mangroven nicht genug Schutz bieten, müssen wir vielleicht Dämme, erhöhte Straßen und andere Infrastrukturen bauen – eine Kombination aus solchen natürlichen und künstlichen Lösungen. Das wichtigste ist, dass wir keine weitere Zeit verlieren.
Sind Sie selbst schon aktiv geworden?
In meiner Heimatregion in Kerala gibt es einen Fluss namens Meenachil, der etwa 80 Kilometer lang ist und von den Bergen bis zur Küste fließt. In den vergangenen Jahren ist er entweder plötzlich innerhalb weniger Tage über die Ufer getreten oder über einen langen Zeitraum trocken gefallen. Die örtliche Umweltgruppe wollte das Problem wissenschaftlich angehen und hat mit mir Kontakt aufgenommen. Daraufhin haben wir Regenmesser installiert, um Regen und Wasserstand des Meenachil zu überwachen.
In Kerala gibt es in jedem Dorf eine Schule, alle paar Kilometer. Wir haben die Regenmesser also auf den Schulgeländen entlang des Flusses aufgestellt. Seither kümmern sie die Schulkinder um die Messungen: Jeden Morgen um 8.30 Uhr notieren sie, wie viel es in den letzten 24 Stunden geregnet hat und wie hoch die Höchst- und Tiefsttemperaturen waren – sie wachsen also mit einem geschärften Bewusstsein für das Wetter auf. Inzwischen gibt es etwa 200 Messgeräte und Pegelstands-Skalen entlang des Flusses. Und mit diesen Daten können wir nun eingrenzen, wie schnell starker Regen im oberen Teil des Flusses zu Überschwemmungen flussabwärts führen wird.
So konnte das Netzwerk auch schon Menschenleben retten: Bei den Überschwemmungen in Kerala 2018 erkannte die Umweltgruppe anhand ihrer Daten, dass eine Überschwemmung drohte. Daraufhin rieten sie einer Kolonie von etwa 60 Menschen zur Evakuierung. Zwar war der Fluss dort zu diesem Zeitpunkt immer noch trocken, aber die Menschen vertrauten dem Citizen Science Network und verließen das Tal. Nur drei Stunden später war das gesamte Gebiet vom Wasser überflutet.
Derzeit arbeiten wir auch daran, diese Gemeinschaftsaktion auf Vorhersagen von Erdrutschen und effektiver Regenwasser-Nutzung auszuweiten.
Wenn der Indische Ozean unser Kanarienvogel ist, wie düster ist die Lage für den Rest der Kohlemine?
Die globalen Meeres-Temperaturen haben in den vergangenen Monat Rekordwerte erreicht, und sie steigen weiter. Die Klimaprojektionen zeigen, dass der Arktische Ozean in etwa zehn Jahren in den Sommermonaten eisfrei sein könnte. Und der Atlantik folgt dem Indischen Ozean in Bezug auf die rasche Erwärmung. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich lieber nicht zu viel über die Gesamtsituation der Ozeane nachdenken.
Was tun Sie, um nicht von der Klima-Angst überwältigt zu werden?
Ich bin Wissenschaftler, ich versuche sachlich über den Klimawandel zu sprechen. Aber natürlich bewegt es mich, wenn alle Kurven, egal ob es sich um den Anstieg des Meeresspiegels, extreme Regenfälle, Hitzewellen oder tropische Wirbelstürme handelt, steil nach oben weisen. Vor ein paar Monaten starben in Maharashtra 14 Menschen an nur einem Tag aufgrund einer Hitzewelle – Menschen wie ich, die in meiner Nachbarschaft lebten. Wenn man sich die Daten ansieht, war es "nur" eine Hitzewelle. Aber für diese Menschen und ihre Familien war es das Ende ihrer Welt.
Was mich antreibt, ist die Hoffnung auf kollektives Handeln im Angesicht der Klimakrise. Regierungen, Unternehmen, Wissenschaftler, Aktivisten und einfache Bürger müssen zusammenarbeiten und auf lokaler Ebene Lösungen für die neuen Probleme finden. Das ist es, was ich mit Interviews wie diesem erreichen möchte.
Toxische Tanker
Der Freitag, Oktober 2023
Auf den Weltmeeren herrscht Gesetzlosigkeit: Es gibt keine Polizei, keine Marine, die international agierende Verbrecher aufhält. Deswegen können Reedereien ihre alten Schiffe unter schlimmsten Bedingungen in Südasien verschrotten lassen. Doch eine Allianz aus ErmittlerInnen und JuristInnen will das ändern.
Fast alles, was uns gehört, war schon mal auf Hoher See. Unsere Hosen, unser Schreibtisch, unser Kaffee. Auf dem Weg durchqueren sie die Ozeane mit maximal 30km/h auf Massengutfrachtern und Containerschiffen – Ungetümen aus Zehntausenden Tonnen Stahl, groß wie Hochhäuser. Bleiben sie stecken, wie 2021 im Suezkanal, stockt auch unser Alltag. Liefern sie nach Plan, sind diese Frachter das ultimative Schmiermittel der globalen Konsum-Maschinerie: Sie bringen das Mobiltelefon aus China, das Hemd aus Indien, die Steinkohle aus Australien – 90 Prozent des weltweiten Warenverkehrs läuft über die Meere. Die Reedereien in Kopenhagen, Hamburg oder Athen machen damit ein Milliardengeschäft. Ein schmutziges.
Denn nicht nur verursacht die internationale Schifffahrt jährlichen mehr Treibhausgas-Emissionen als Deutschland. Die Schiffe mit ihrer Asbestdämmung, den ölverseuchten Tanks und die mit giftigen Chemikalien ausgekleideten Motorräume werden am Ende ihrer Laufzeit zu Müll. Und der Müll zum Problem, das möglichst schnell und billig verschwinden soll.
„Das Abwracken der Schiffe an Bangladeschs Stränden kostet jeden Monat Menschenleben, es kostet uns Fischgründe und Mangrovenwälder“, sagt Rizwana Hasan, Umwelt- und Menschenrechtsanwältin aus Bangladesch, und fügt hinzu: „Diese Branche befeuert die Korruption und höhlt unsere Demokratie aus.“ Das Abwracken westlicher Schiffe in Südasien nennt Hasan einen „Fall globaler Verlogenheit“. Und ein weltumspannendes Umweltverbrechen. Hasan kämpft dagegen in Bangladesch, dazu später mehr. Aber auch an indischen und pakistanischen Stränden gibt es jedes Jahr Hunderte Fälle, die diese Praxis belegen: Die absolute Mehrheit der ausrangierten Handelsschiffe8 strandet am Ende ihrer Karriere in Alang (Indien), Gadani (Pakistan) und Chittagong (Bangladesch).
Allein im vergangenen Jahr starben an diesen Orten 16 Menschen. Weitere 33 wurden bei Unfällen zum Teil schwer verletzt; die Internationale Arbeitsorganisation nennt diese Abwrackarbeiten einen der gefährlichsten Jobs der Welt. Das Wasser, die Strände und das Hinterland der Werften werden dabei mit Öl, Chemikalien und Asbest verseucht. Und jedes Jahr landen dort neue alte Schiffe aus Europa – auch wenn das eigentlich gar nicht erlaubt ist.
Es sind Verbrechen an Umwelt und Menschen, die in den feinen Nachbarschaften in Amsterdam, Hamburg und Antwerpen beschlossen und an den Stränden Südasiens ausgeführt werden. Es sind Verbrechen, die sehr schwer zu beweisen sind. Ins Gefängnis musste dafür weltweit bisher nur ein Reeder: Der Norweger Georg Eide.
Der Fall Eide
Alles begann mit einem Brief ohne Absender, der im Sommer 2015 auf Ingvild Jenssens Schreibtisch in Brüssel landete. Sie ist politische Aktivistin, arbeitet seit fast 20 Jahren für die Organisation „Shipbreaking Platform“, einer internationalen Koalition von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, die dafür kämpft, dass der Müll des globalen Seehandels nicht an den Stränden der ärmsten und korruptesten Nationen landet. Gemeinsam mit JuristInnen, GewerkschafterInnen und UmweltaktivistInnen aus Europa, Pakistan, Indien und Bangladesch sammelt Jenssen Daten und führt Prozesse, um das System der illegalen Abwrackung zu Fall zu bringen. Und manche ihrer Fälle beginnen mit anonymen Tipps.
„In dem Brief stand, dass ein norwegischer Schwergutfrachter, der Eide Carrier, zum Abwracken nach Südasien verkauft worden sei“, erzählt Jenssen. Der Brief hatte einen deutschen Stempel, sie vermuteten einen Konkurrenten als Absender. Jenssen und ihr Team kontaktierten den Schiffseigner, die Eide Marine Eiendom AS, und teilten ihm mit, dass es illegal ist, das Schiff zum Abwracken nach Südasien zu exportieren – es verstößt gegen das Baseler Übereinkommen und die EU Abfall Verordnung (siehe Kasten). Die Reederei erwiderte, das Schiff weiter nutzen oder zur weiteren Nutzung verkaufen zu wollen. „Wir beschlossen, es im Auge zu behalten“, sagt Ingvild Jenssen.
Zu diesem Zeitpunkt lag der Eide Carrier im Hafen von Høylandsbygd, auf einer Insel im Westen Norwegens: Bunte Häuschen auf grünen Wiesen, am Horizont die Ausläufer der Folgefonna-Gletscherlandschaft, vor der zerklüfteten Küste die Nordsee. Der Eide Carrier war das Problem-Schiff der Reederei Eide: Der Schwergutfrachter lag damals schon seit acht Jahren ungenutzt an den Docks. Der Markt für diese Art von Frachter war zu dieser Zeit „nicht-existent“, schreibt das Landgericht Gulating, die Instandhaltungskosten waren dagegen sehr real: rund 530.000 Euro pro Jahr.1 Etwas musste passieren.
„Im Februar 2017, hören wir plötzlich in den Nachrichten, dass ein Schiff an der Westküste Norwegens treibt und eine Havarie befürchtet wird“, sagt Jenssen. Die Nachrichten sprachen von einem Schiff unter der der Flagge der Komoren mit dem Namen „Tide Carrier“. „Und da klingelt es bei uns. Das ist unser Schiff!“, sagt Jenssen. Das E in „Eide“ war mit einem T überpinselt und der Frachter in einem neuen Land gemeldet worden. „Für uns ein klares Signal dafür, dass das Schiff auf dem Weg zur Verschrottung in Südasien ist.“
Diese Befürchtung teilten die AktivistInnen mit der Polizei. Die fand an Bord des Schiffes doppelte Unterlagen über die Seetüchtigkeit des Frachters. Offiziell sollte er nur zur Reparatur in den Oman gebracht werden, die gefundenen Papiere zeigten aber, dass er auf der letzten Fahrt nach Pakistan war.
Der strauchelnde Tide Carrier wurde von der norwegischen Marine gerettet und durfte Norwegen erst verlassen, als eine EU-zertifizierte Recycling-Anlage für ihn gefunden war. Bis der Frachter allerdings in der Türkei fachgerecht recycelt wurde, sollte es noch drei Jahre, einen Namenswechsel (diesmal wurden ein paar mehr Buchstaben überpinselt und das Schiff so zum „Harrier“), einen Flaggenwechsel (zum Inselstaat Palau) und einen Ölunfall vor der Küste von Izmir (rund 4,3 Millionen Euro Schaden) dauern.
Der Reeder Georg Eide wurde im März 2022 in Norwegen zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er seinen nutzlos gewordene Frachter in Pakistan entsorgen wollte. Er kam ins Gefängnis für etwas, dass wohl alle Reedereien Europas tun: 60 Prozent der Altschiffe von EU-Unternehmen (oder assoziierten Ländern wie Island, Lichtenstein, Norwegen oder der Schweiz), werden an südasiatischen Stränden abgewrackt.
Denn das bringt der extrem volatilen Schiffsbranche, die zwar nach der Corona-Pandemie von rasant gestiegenen Frachtraten profitiert hat, aber derzeit durch fallende Preise unter Druck steht, bares Geld: Der Eide Carrier wiegt leer etwa 20.000 Tonnen. Wie die meisten dieser großen Frachter besteht er zu etwa 80 Prozent aus Stahl. In Pakistan, Indien und Bangladesch bekommt man derzeit zwischen 520 und 600 Euro pro Tonne Stahl, in der Türkei noch bis zu 220 Euro, in der EU nur etwa 130 Euro – im Fall des Eide-Carriers ergibt das einen potentiellen Preisunterschied von rund 7,5 Millionen Euro. Recycelter Stahl wird in der EU weniger nachgefragt, die Wiederverwertung ist durch hohe Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen nicht annähernd so rentabel wie in Südasien. In EU-zertifizierten Anlagen werden die Entsorgungskosten für die giftigen Abfälle wie Asbest gegengerechnet werden. Bei besonders giftigen Schiffen wie Erdöl- oder Erdgastankern müssen die VerkäuferInnen beim EU-Recycling oft sogar draufzahlen – und zwar bis zu doppelt so viel, wie sie Bangladesch, Indien oder Pakistan für den Schrott bekommen hätten.
Darum floriert das Geschäft mit dem Umwelt- und Menschenrechtsverbrechen. Oder wie Ingvild Jenssen von der Shipbreaking Platform sagt: „Je höher die Profite, desto schlimmer die Werft.“
Am falschen Ende
Das Ergebnis zeigt sich in Chittagong, Bangladesch. 21 Kilometer lang ist der Strandabschnitt im Norden der Hafenstadt, an dem die schrottreifen Frachter mit Volldampf bei Flut auf den Strand fahren, um anschließend in ihre Einzelteile zerstückelt zu werden. 150 Werften gibt es hier1, nirgendwo auf der Welt wurden in den vergangenen drei Jahren mehr Ozeanriesen abgewrackt. Seit 2020 haben rund 20.000 Arbeiter mehr als 520 Schiffe zerlegt – meist in Handarbeit, ohne Schutzausrüstung, für weniger als 4 Euro Lohn pro Tag.
Männer und Jungen, viele von ihnen aus dem armen Norden des Landes, erklimmen die riesigen Schiffe über Strickleitern, räumen die Frachter leer und zerlegen die großen Stahlplatten in kleinere Stücke, dann die Isolierungen, die Leitungen, Kabinen, Tanks, Motoren, bis zur letzten Schraube. Stahl ist der einträglichste Stoff, den sie dabei fördern können.
Und Bangladesch braucht Stahl, ohne den Rohstoff gibt es keine neuen Gebäude, Maschinen, Autos. Ein Report der Weltbank schätzte 2010, dass die Hälfte des im Land verwendeten Stahls aus der Abwrack-Industrie stammt, ExpertInnen gehen davon aus, dass es derzeit etwa 40 Prozent sind.
Auch die Einrichtungsgegenstände, Plastikteile und Kabel der Schiffe landen auf den lokalen Märkten, wo sie weiterverarbeitet und verkauft werden. Mit dabei: Asbestplatten und giftiger Müll, oft versteckt in Isolierungen, Lacken und Farben. Die Weltbank schätzt, dass bis 2030 rund 79.000 Tonnen Asbest, 240.000 Tonnen krebsauslösende Chlorverbindungen (PCB), 69.200 Tonnen giftige Farben und Lacke, 678 Tonnen Schwermetalle in die bangladeschische Umwelt gelangen werden. Der Schiffsschrott wird oft auch in der Nähe von Äckern verarbeitet, die freigesetzten Gifte gelangen so auf die Teller und in die Körper von Menschen, die nichts mit den Werften zu tun haben.
Wie es derzeit ganz genau in den Anlagen in Chittagong aussieht, ist schwer zu sagen, denn die Werften sind nicht öffentlich zugänglich und verwehren unabhängigen Organisationen und JournalistInnen den Zugang. AktivistInnen der Vereinigung der Umweltanwälte Bangladesch (BELA), die Teil der internationalen Shipbreaking Platform sind, fahren den Strand in der Nähe der Werften regelmäßig mit Booten an und sprechen mit Arbeitern, um einen Eindruck der Verhältnisse zu gewinnen.
In einem gerade veröffentlichten Report kommen sie anonymisiert zu Wort: „Das Schiff ist riesig", sagt etwa der 26-Jährige Ahmed, „Wir zerschneiden es, während wir mit Strickleitern an der Seite hängen. Manchmal rutschen Arbeiter dabei ab und fallen viele Meter tief ins Wasser." Viele Interviewte berichten, dass sie ihre eigenen Socken als Handschuhe benutzten, um sich beim Schneiden von geschmolzenem Stahl nicht die Hände zu verbrennen. Verletzungen durch herabfallende Stahlbrocken, durch Explosionen und Feuer kommen nach Angaben der Arbeiter regelmäßig vor.
Die bangladeschische Regierung kalkuliert, dass rund 18.000 Arbeiter in der Abwrackindustrie tätig sind. „Die genaue Zahl werden wir nie erfahren, denn die Arbeiter bekommen keine Verträge und die Überwachung durch das Arbeitsministerium ist sehr schwach. Wenn es also zu einem Unfall kommt, sagt der Werfteigentümer einfach: ‚Diesen Arbeiter kenne ich nicht‘“, sagt Rizwana Hasan. Die Anwältin, die das Abwracken einen „Fall globaler Verlogenheit“ nennt, setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte der ArbeiterInnen ein, vertritt durch Unfälle und Asbest Geschädigte vor Gericht und kämpft vor dem Obersten Gerichtshofs Bangladeschs gegen die Umweltverbrechen an der Küste ihrer Heimat. Durch ihren Austausch mit AktivistInnen wie Ingvild Jenssen in Brüssel weiß Hasan oft im Voraus, wenn besonders giftige Schiffe die Küste von Bangladesch ansteuern – und versucht, deren Einfahrt mit juristischen Mitteln zu verhindern.
Manchmal gelingt das, wie 2006 bei der MT Alfaship, der SS Norway und der MT Enterprise oder 2017 beim Schiff North Sea Producer – sie alle mussten vor der Küste Bangladeschs umkehren. Noch öfter scheitern die AktivistInnen allerdings, dann bleibt ihnen nur noch, die angelandeten Schiffe zu dokumentieren und die Listen an die Ermittlungsbehörden in Europa zu schicken. „Zur Hochzeit zwischen 2016 und 2017 waren es 148 Schiffe aus Deutschland“, sagt Hasan.
Ihre Arbeit geht aber weit über Einzelfälle hinaus: 2009 führte eine von Hasans Klagen dazu, dass der Oberste Gerichtshof von Bangladesch die Schließung aller Abwrackwerften in Chittagong anordnete, da keine der Werften über die für den Betrieb erforderlichen Umweltgenehmigungen verfügte. Ein großer Erfolg – auch, wenn die Werften nach nur zweimonatiger Schließung mit unvollständigen Genehmigungen und ohne Besserung wiedereröffneten. „Papier ist geduldig. Wir haben in Bangladesch Gesetze zum Schutz der ArbeitnehmerInnen und der Umwelt, die aber aufgrund schwacher Institutionen und des Drucks der Industrie ausgehebelt werden“, sagt Hasan, und fügt mit einem Seufzen hinzu: „Ich befürchte manchmal, ich werde dagegen kämpfen müssen, bis ich ins Grab steige.“
Rizwana Hasan gilt heute als eine der führenden Stimmen für Umweltschutz in Bangladesch und erfuhr dafür internationale Anerkennung (zum Beispiel den Goldman Environmental Prize, auch bekannt als „Grüner Nobelpreis“), wurde aber auch angegriffen, wie zuletzt im Januar 2023, als sie und ihr Team bei einem Termin in Chittagong mit Messern bedroht und mit Steinen beworfen wurden.1 „Ich bin durch meine Prominenz besser geschützt, aber meine MitarbeiterInnen und die Menschen, die unsere Hilfe suchen, nicht. Sie werden angegangen, unter falschen Vorwänden angezeigt und von der Polizei drangsaliert. Um Ihre Sicherheit mache ich mir große Sorgen.“
Dass diese Zustände in Bangladesch ebenso wie in Indien und Pakistan ein Problem sind, ist kein Geheimnis. Seit 2009 rang die International Maritime Organization (IMO) um Mehrheiten für das HongKong-Übereinkommen (siehe Kasten), das die globalen Standards für den Umgang mit den giftigen Resten der Welthandelsflotte anheben soll. Seit Juli 2023 sind genügend Länder bereit, das Übereinkommen mitzutragen2, 2025 wird das Abkommen in Kraft treten.
Das sei ein großer Schritt für die maritime Wirtschaft, sagt der Verband Deutscher Reeder VDR auf Anfrage. „Wir halten das Hongkong-Übereinkommen für das einzig wirksame Instrument, um in Südasien und weltweit einen tatsächlichen Wandel auf den Recyclingwerften herbeizuführen. (...) Wir sind sicher, dass sich die Standards auf den Recyclingwerften durch das Hongkong-Übereinkommen positiv verändern werden. Schon heute ist eine Vielzahl von Werften insbesondere in Südasien im Sinne der internationalen Standards vorzertifiziert.“ Er verweist auf Untersuchungsberichte von Gutachtern der Europäischen Kommission, die unter anderem in Indien Recyclingwerften begutachtet haben. „Optisch zeigen sich die zertifizierten Werften sauber und geordnet und scheinen längst mit europäischen Betrieben auf Augenhöhe zu stehen“, schreibt der VDR auf Anfrage. Was in den Gutachten aber auch steht: Es gibt trotz der großen Unfallgefahr keine medizinische Versorgung der Arbeiter. Und wo die Abfälle schließlich hinwandern, wird nicht erfasst.
Das grundlegende Problem des Hongkong-Übereinkommens: Es erlaubt, dass Schiffe weiterhin auf dem Strand ausgeschlachtet werden. Mit all den Folgen für Mensch und Umwelt vor Ort.
Das Abkommen sei schlicht Greenwashing, sagt Rizwana Hasan: „Die einflussreichen internationalen Reedereien wollten, dass das Geschäft in unserem Teil der Welt bleibt, und das Abkommen erlaubt es ihnen, einige der bangladeschischen Abwrackwerften als grün zu zertifizieren. Würde Deutschland eine Abwrackwerft auf dem Hamburger Elbstrand als „grün“ zertifiziert?“, fragt sie und beantwortet die Frage selbst: „Ich glaube nicht. Uns zeigt dieses Abkommen nur, dass dem Leben der ArbeiterInnen und der Umwelt in Bangladesch weniger Wert beigemessen wird.“
Doch die Zeit drängt. Denn das Klima wird heißer, der Meeresspiegel steigt, das Risiko für Überschwemmung nimmt zu und mit jeder Überflutung der Abwrack-Werften verteilen sich die Gifte weiter an Land und im Meer.
Die europäische Chance
Die Nummer 1257/2013 ist ein Teil der Lösung. Es ist die EU-Verordnung über das Recycling von Schiffen. Sie soll die Lücke schließen, die das Hongkong-Abkommen lässt – dafür sorgen, dass die alten Kähne nicht mehr auf den südasiatischen Stränden verschrottet werden. Die EU-Verordnung setzt strenge Standards für Umweltverträglichkeit und Sicherheit beim Schiffsrecycling. Sie schränkt den Einbau und die Verwendung von gefährlichen Stoffen wie Asbest ein. Und sie schreibt vor, dass europäische Schiffseigner ihre Schiffe nur in Einrichtungen recyceln dürfen, die den Standards genügen – das sind 47 Anlagen in Europa und der Türkei. Damit geht die Verordnung weit über das Hongkong-Übereinkommen hinaus.
Allerdings: Verordnung 1257/2013 ist seit fünf Jahren in Kraft. Und trotzdem werden nur etwa sieben Prozent der Schiffe von europäischen Reedereien in der EU recycelt.
Denn es gibt einen Trick, er nennt sich „Umflaggung“. Schon zu ihren aktiven Zeiten fahren die meisten Schiffe der europäischen Flotte unter der Flagge eines nicht-EU-Staates. Mehr als die Hälfte der deutschen Handelsflotte fährt derzeit etwa unter der Flagge von Liberia und Antigua und Barbuda – Länder mit weniger strengen Regulierungen der Schifffahrt.3 Die restliche knappe Hälfte der europäischen Schiffe verschwindet am Ende ihrer Laufzeit aus den Büchern der Reedereien in Portugal, Malta oder Zypern und tauchen kurz darauf unter den Flaggen von St. Kitts und Nevis, den Komoren oder Palau wieder auf.
Der einflussreiche Verband Deutscher Reeder rechtfertigt das so: Die weltweite Nachfrage nach Schiffsabwrackungen werde sich bis 2036 verfünffachen, in Bezug auf die europäische Handelsflotte sogar verachtfachen. Die von der EU zertifizierten Anlagen könnten diesen Andrang an alten Schiffen nicht bewältigen, deshalb brauche es „erhebliche zusätzliche Kapazitäten außerhalb der EU.“ Diese Rechnung ist allerdings umstritten, die NGO „Transport and Environment“ konnte in ihrem Bericht keine Kapazitätsmängel feststellen und wurden darin von der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs bestätigt.
Dabei würde selbst eine gute Begründung das Verbrechen nicht rechtfertigen. Im Gegenteil: Die Umweltkriminalität sei „gleichermaßen wie die der Betäubungskriminalität dadurch gekennzeichnet, dass die Täter in hohem Maße konspirativ vorgehen und zahlreiche Aktivitäten zur Verschleierung ihrer tatsächlichen Absichten unternehmen“, schreibt der Hamburger Oberstaatsanwalt Michael Elsner über das illegale Schiffsrecycling6. Kurz: Wenn es um ihren Müll geht, verhalten sich die europäischen Reeder nicht besser als Drogenschmuggler. Sie wissen, dass das, was sie tun illegal ist – und verwenden viel Energie darauf, es weiterhin tun zu können.
Das Problem ist die mangelnde Strafverfolgung. Aber das ändert sich gerade:
August 2021 – 70 ErmittlerInnen durchsuchen die Bürogebäude unter anderem der Erck Rickmers GmbH & Cie. KG an der Hamburger Außenalster. Es geht um die Schiffe „E.R. Hamburg“, „MS Florida 1“ und „MS Alexandra Rickmers“, die am Strand von Pakistan geendet sind. Die sichergestellten Beweise werden noch ausgewertet.
April 2022 – Gegen eine Reederei aus Rendsburg, Medienberichten zufolge die Peter Döhle Schifffahrts-KG, wird wegen des Verdachts auf Verschrottung von Schiffen im außereuropäischen Ausland das Hauptverfahren eröffnet.
September 2023 – In Hamburg wird ein weiteres Verfahren gegen die Reederei Döhle eröffnet, die „CS Discovery“ wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft illegal am Strand von Alang in Indien verschrottet.
Die ErmittlerInnen müssen den Reedereien nachweisen, dass sie die Entscheidung zur Verschrottung getroffen haben, bevor die Schiffe europäische Gewässer verlassen haben. Die zähen Verfahren basieren auf der Europäischen Verordnung zur Abfallverbringung (Nummer 1013/2006): Weil die alten Frachter juristisch als Müll gelten, wird ihre letzte Fahrt raus aus der EU als illegaler Müllexport gewertet.
Doch das Schlupfloch der Umflaggung, das die Verordnung zum Schiffsrecycling den Reedereien lässt, ist so groß, dass die Haftbarkeit für Schrottschiffe im Chaos von Zwischenhändlern und Briefkastenfirmen unterzugehen droht. Auf Anfrage heißt es aus der EU-Kommission, die Verordnung werde derzeit evaluiert, um die Gesetzeslücken so bald wie möglich zu schließen. Das wird aber noch viele Jahre dauern und hat mächtige Gegner: Die europäischen Reedereien.
Rizwana Hasan feiert die von der EU gesetzten Standards und die aktuellen Verfahren in Europa als großen Erfolg. Ihr oberstes Ziel sei aber noch immer weit entfernt. „Wir wollen, dass westliche Abfälle endlich von westlichen Ländern entsorgt werden“, so Hasan, „wir wollen unsere Strände zurück.“ Solange das nicht erreicht sei, wolle sie gegen jeden alten Frachter kämpfen, der die Küste Bangladeschs ansteuert.
Mieses Kiesgeschäft
Die Zeit, Oktober 2023
Die deutsche Kiesversorgung ist in Gefahr. In Bayern gibt es noch viel davon, doch der Abbau sorgt für Stress: Gerichtsprozesse, Sabotage und Rodungen ohne Genehmigung.
Die Hauptschlagader des Kieswerkes liegt ein paar Meter unter der Erde. Ein leises Rattern dringt aus einem mit Gebüsch bewachsenen Wall. Durch eine Metalltür gelangt man in sein Inneres, wo aus dem Rattern ein Rumpeln wird. Neonlicht erhellt einen Tunnel, ein Förderband rast auf Kopfhöhe vorbei, schleppt Kies, Sand, Erde durch die Röhre – all das, was am einen Ende des Tunnels abgebaggert wird und vier Kilometer weiter am anderen Ende im Kieswerk landet.
Neben dem Band steht Markus Wahl. "Hätten wir dieses Förderband nicht, würde der ganze Transport auf der Straße laufen", ruft er. Stolz zählt der Geschäftsführer des Kieswerkes die Kennzahlen der Anlage auf: zehn Stunden am Tag, vier Tage die Woche, von März bis Dezember schafft das Förderband den Rohkies ins Werk, ohne die dazwischenliegenden Dörfer mit Lärm und Staub zu belasten. 600 Tonnen pro Stunde, seit den Sechzigerjahren. "Das ist echter Umweltschutz!", brüllt Wahl, um den Lärm zu übertönen, aber vermutlich auch, weil er wirklich sauer ist. "Heute könnte man das nicht mehr bauen, selbst das würden die vermeintlichen Naturfreunde verhindern."
Der Grund für seinen Ärger: Das Kieswerk Glück, ein Familienunternehmen mit 150 Mitarbeitern, gelegen im bayerischen Gräfelfing, in einer der kiesreichsten Gegenden Deutschlands, könnte aus dieser Grube nach eigenen Angaben noch zwei Jahre lang Rohkies fördern, hätten Umweltschutzorganisationen nicht dagegen geklagt. Denn in Planegg, am anderen Ende des Tunnels, liegt nicht nur die Kiesgrube, sondern auch ein Wald.
Was wichtiger ist, der Kies oder die Bäume, darüber wird gestritten. In Gräfelfing – und im übrigen Deutschland.
Kies, das sind Steine mit einem Durchmesser zwischen 2 und 63 Millimetern. Unscheinbar, aber unentbehrlich. Ohne sie gäbe es keine Gebäude, Straßen, Brücken und keinen Beton. Allein rund 55 Hektar Fläche werden jeden Tag in Deutschland neu bebaut. Für all das benötigt man Kies. 270 Millionen Tonnen wurden hierzulande vergangenes Jahr verbraucht.
Die geologischen Vorräte an Sand und Kies in Deutschland könnten für Zehntausende Jahre reichen. Eines der größten Vorkommen liegt im Alpenvorland, in der sogenannten Münchner Schotterebene. Dort, wo das Flüsschen Würm rund hundert Meter vom Kieswerk Glück entfernt vor sich hin fließt. Während der letzten Eiszeit brachte es als gewaltiger Strom Geröll aus den Alpen mit sich. Was davon blieb, ist Kies.
Trotz dieser Vorkommen wird es für Unternehmen immer schwerer, Abbauflächen zu finden. Denn auf dem Kies stehen heute Dörfer, Äcker und Wälder und wer den Rohstoff fördern will, muss zunächst alles an der Oberfläche abbaggern. Daher kommen als neue Abbaugebiete nur unbebaute Flächen infrage, Äcker und Wälder. Aber vielerorts wollen Landwirte ihre Felder nicht verkaufen, zu rar sind gute Äcker geworden, die Preise für Ackerland sind zwischen 2007 und 2016 um durchschnittlich 142 Prozent gestiegen. Doch soll Wald gerodet werden, gehen wiederum Umwelt- und Klimaschützer auf die Barrikaden.
Auch global gibt es bei der Kiesförderung Probleme. Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen werden weltweit jährlich 50 Milliarden Tonnen Sand und Kies verbraucht. Von den natürlichen Ressourcen wird nur Wasser noch stärker genutzt. Der Abbau bedroht Ökosysteme und biologische Vielfalt, vor allem dort, wo er, wie in Indien oder Vietnam, illegal betrieben wird. Immerhin gelangt dieser Kies fast nie nach Deutschland. Denn während Länder wie China, Kanada oder Singapur große Mengen für den Bausektor importieren, spielt die Einfuhr von mineralischen Rohstoffen in der Bundesrepublik bisher kaum eine Rolle.
Hierzulande wird der Konflikt um Kies und Sand nicht auf globaler, sondern auf regionaler Ebene verhandelt – und fällt je nach Bundesland unterschiedlich aus: In Sachsen etwa liegt die Hälfte der Vorkommen unter Siedlungen, Wäldern oder Naturschutzgebieten und ist deshalb nicht mehr verfügbar. In Baden-Württemberg sind es gar 70 Prozent. In den vergangenen drei Jahrzehnten ist die Zahl der Abbaustellen um ein gutes Drittel gesunken, während der Bedarf unverändert hoch bleibt.
Eine aktuelle Analyse der Beratungsfirma Ernst & Young für das Bundeswirtschaftsministerium sieht die Versorgung mit Kies und Sand in den kommenden 25 Jahre gefährde8 (PDF). Die Lage werde mittelfristig in einigen Regionen problematisch, heißt es auch aus der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe: Im schlimmsten Fall müssten die Steine aus weiter entfernten Abbaustellen per Lkw oder Schiff angeliefert werden, was teuer und klimaschädlich wäre.
Derweil wird überall in Deutschland um Äcker und Wälder gestritten: In der Laußnitzer Heide hielten Umweltschützer ein Waldstück bis zur Räumung im Februar 2023 besetzt, um Rodung und Kiesabbau zu verhindern. Am Niederrhein protestieren Landwirte gegen neue Kieswerke und die Gemeinden klagen gegen weitere Kiesabbauflächen. Und auch in Gräfelfing wird um jeden Hektar gerungen. Mit Protesten, mit Sabotage und vor Gericht.
Dabei wuchs hier im Südwesten Münchens um das familiengeführte Glück-Kieswerk über die Jahrzehnte eine Einfamilienhaussiedlung. Zum Münchner Hauptbahnhof braucht die S-Bahn nur eine Viertelstunde. Zwei Feinkostläden und fünf Immobilienmakler auf der Hauptstraße lassen den Wohlstand der 14.000-Einwohner-Gemeinde erahnen.
In der Einfahrt vor den Geschäftsgebäuden des Kieswerkes steht ein Apfelbäumchen. Hier wird auch der Rohkies nach Größe geordnet, gewaschen, aufbereitet und in Silos oder haushohen Bergen gelagert, bis er per Lastwagen zu den Kunden gekarrt wird. Insgesamt produziert das Unternehmen jährlich rund 1,4 Millionen Tonnen Kies und Sand. Verbaut werden sie fast ausschließlich in der Region.
Über den Konflikt, der sein Kieswerk bedroht, will Geschäftsführer Markus Wahl am liebsten gar nicht mehr reden. "Da sind alle Argumente ausgetauscht", sagt Wahl – und gibt dann doch Auskunft: Seit den Neunzigerjahren streiten Naturschützer und Kieswerk über den Abbau im Wald. Damals wurde ein erster Abbauantrag abgelehnt. 2021 zündeten Unbekannte das Förderband des Kieswerkes an. Der Geschäftsführer verdächtigte radikale Naturschützer der Tat, spätestens seitdem sind die Fronten verhärtet.
2022 genehmigte das Landratsamt den Kiesabbau im Wald, wogegen der Naturschutzbund klagte. Im August 2023 bestätigte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Einwände der Naturschützer (PDF). Bis zur Hauptverhandlung, in der die Sache erneut aufgerollt wird, darf der Wald nicht gerodet und kein Kies abgebaut werden. Für Markus Wahl eine Katastrophe: "Uns bleibt nur noch die Möglichkeit, den Rohkies aus einer unserer anderen Gruben heranzufahren." 80 Kilometer sei diese entfernt.
Jene, die Markus Wahl das Geschäft mit dem Kies verderben, sitzen in einer Bäckerei in der Nähe des Bahnhofs Gräfelfing. Herbert Stepp, Physiker im Ruhestand und Vorsitzender des Grünzug-Netzwerks Würmtal und Malwina Andrassy, Vorsitzende des Bundes Naturschutz Würmtal-Nord. Andrassy kommt trotz Rückenschmerzen. "Das hier ist zu wichtig, um abzusagen." Stepp kommt mit einer Mappe voller Dokumente. Sie belegen seinen jahrzehntelangen Kampf: für den Grünzug und gegen die Ausweitung des Kiesabbaus.
Das Flurstück 195/T, um das im Dorf und vor Gericht gestritten wurde, umfasst 2,1 Hektar. Ein Wäldchen nur, aber mit großer Bedeutung. "Ein besonders geschützter Bannwald, Teil eines regionalen Grünzugs und Landschaftsschutzgebietes und wichtig für die Kühlluftschneise nach München", sagt Stepp. Ein Bannwald gilt laut dem Bayerischen Waldgesetz aufgrund seiner Lage und seiner Bedeutung für Klima, Wasserhaushalt oder Luftreinigung als unersetzlich.
"Wir sind nicht gegen Kiesabbau", sagt Andrassy, "aber dagegen, dass im Wald Kies abgebaut werden soll." Deshalb klagen die Naturschützer auch gegen andere Abbaupläne in den umliegenden Wäldern sowie auf Ackerflächen. "Die Klimakrise ist in vollem Gange und wir können uns diesen Kahlschlag einfach nicht mehr leisten", sagt Andrassy. Sie malt mit ihren Fingern Kreise auf eine Karte mit örtlichen Kiesgebieten, die vor ihr auf dem Tisch liegt. "Hier kann ja überall in waldfreien Gebieten gebaggert werden."
Eigentlich sollten solche Konflikte in Deutschland durch die sogenannte Raumplanung entschärft werden. Mit ihr werden auf Ebene der Bundesländer und der Regionen festgelegt, welche Flächen wie genutzt werden dürfen. In der Region München betrifft das 2.400 Hektar und 55 Einzelflächen, die von Vertretern der Städte und Gemeinden im regionalen Planungsverband bestimmt wurden. "Das Ziel dieser Planung ist es, den Kies so kurz wie möglich auf der Straße zu haben und bei Abbau so wenig Zerstörung wie möglich anzurichten", sagt Marc Wißmann, Geschäftsführer des Regionalen Planungsverbandes München.
Das ist auch der Anspruch im Rest der Republik: Selbst der aktuelle Koalitionsvertrag postuliert eine nachhaltige Rohstoffversorgung und heimischen Rohstoffabbau. Kies und Sand sollen so regional wie möglich abgebaut werden. So wird nicht nur das Klima geschont, es wird auch vermieden, sich von internationalen Märkten abhängig zu machen. So weit die Theorie.
In der Praxis fordern nicht nur Umweltschützer, sondern auch Landtagsabgeordnete der bayerischen Grünen ein Umdenken beim Kiesabbau. Sie verlangen, dass der Bedarf nicht wie bisher mithilfe der Angaben der betroffenen Industrieverbände ermittelt werden sollte, sondern durch eine unabhängige, staatliche Stelle.
Doch auch wenn der Kiesabbau umstritten ist, der Kiesbedarf ist es nicht. Mineralien fürs Bauen machen heute rund die Hälfte der gesamten Rohstoffgewinnung in Deutschland aus. Rund 30 Prozent aller 2021 fertiggestellten Wohngebäude bestehen aus Beton, bei anderen Gebäuden sind es sogar 65 Prozent. Und Beton besteht wiederum bis zu 80 Prozent aus Sand und Kies.
Eine naheliegende Lösung für den Streit in Gräfelfing und anderswo wäre, weniger zu bauen – unrealistisch angesichts von Wohnungsnot und bröckelnder Infrastruktur. Daher setzen Fachleute ihre Hoffnung in die Wiederverwertung von Rohstoffen.
Georg Schiller vom Leibniz-Institut für ökologische Raumforschung (IÖR) in Dresden untersucht seit Jahrzehnten das Recyclingpotenzial von Baumaterial. Der Wirtschaftsingenieur sagt: "Um aus abgerissenen Straßen und Häusern erneut Beton, Ziegel oder Gips herstellen zu können, braucht es Platz, eine transparente Materialerfassung und Bauherren, die bereit sind, für die Umwelt etwas mehr zu zahlen." Platz sei nötig, um die verschiedenen Materialien nach dem Abriss zu sortieren. Schwierig, in den engen Innenstädten Deutschlands. Und fast unmöglich, wenn die verbauten Materialien nicht zuvor aufgelistet wurden. Doch eine der größten Hürden, sagt der Wissenschaftler, sei, dass Sand und Kies immer noch zu billig wären, um auf Recyclingmaterial zu setzen.
In den vergangenen Jahren machten Recyclingbaustoffe nur rund 13 Prozent des verbauten Materials aus. Hochrechnungen des IÖR ergaben, dass zwar allein in Hamburg zwischen 2030 und 2050 etwa 3,5 Millionen Tonnen Recyclingmaterial verfügbar wären, das würde aber nur ein Drittel des Bedarfs decken. Anders ausgedrückt: Man müsste ganze Städte abreißen, um genug Recyclingmaterial zu haben.
Eine Chance auf Besserung eröffnet eine Regelung mit dem spröden Titel: "Mantelverordnung für Ersatzbaustoffe und Bodenschutz". Sie ist nach jahrzehntelangen Verhandlungen im August in Kraft getreten und regelt erstmals bundesweit, was mineralische Abfälle sind und wie sie verwertet werden dürfen. So sollen die 250 Millionen Tonnen Bauschutt, die jährlich in Deutschland anfallen, endlich effizient genutzt werden. Bisher verklappt man den Schutt meist in Gruben.
Für manche Landschaft kommt allerdings jede Verordnung zu spät. Am Rande des umstrittenen Wäldchens steht der Naturschützer Herbert Stepp mit seinem Fahrrad. Einst sei das hier ein beeindruckender Douglasienhain gewesen, sagt Stepp. Das Waldstück sei vor 27 Jahren zur Vorbereitung des Kiesabbaus gerodet worden, ohne Genehmigung des Landratsamtes. Geblieben sind akkurate Reihen kleiner Eschen, Ulmen und Ahornbäume. "Ein anschauliches Beispiel dafür, dass der Wald nach dem Aufforsten eben nicht wieder wie früher wird", sagt Stepp.
Dann zählt Herbert Stepp die Projekte auf, deren Umsetzung er in den vergangenen Jahrzehnten verhindert hat. Eine Mülldeponie, einen Autobahnausbau, ein neues Gewerbegebiet. Dass er diesen Widerstand nur leiste, weil er in der Gegend wohne, dagegen verwehrt sich Stepp. Der Grünzug sei ökologisch zu wichtig, um ihn zuzubauen.
Der letzte Protest von Anwohnern fand im vorigen Jahr statt. Es ging um eine Anlage, mit der man alten Schutt so wiederaufbereitet, dass damit neu gebaut werden kann. Sie wurde verhindert.
Warum wir einen Blue New Deal brauchen
Der Freitag, September 2023
Die Bedeutung der Meere für das Klima und das Überleben der Menschheit wird gefährlich unterschätzt. Unsere Serie „Blue New Deal“ soll das ändern.
Es gibt mehr Meer auf der Erde als Land. 71 Prozent der Erdoberfläche, 362 Millionen Quadratkilometer, 1,35 Milliarden Kubikkilometer Wasser. Trotzdem dient das Meer den meisten Menschen nur als Hintergrundkulisse romantischer Urlaubserinnerungen: Salz in den Haaren, Sand zwischen den Zehen, der Geruch von Sonnencreme auf der Haut. Doch das Meer ist kein Postkartenidyll. Es entscheidet über unser Überleben.
Die harten Fakten sind bekannt: Die Gletscher schmelzen. Die Meeresspiegel steigen immer weiter an. Die Ozeane werden immer saurer, sensible Ökosysteme sterben ab und die Nahrungskette droht zusammenzubrechen. Das Mittelmeer war im Juli mit durchschnittlich 28,7 Grad so warm wie nie zuvor; die Seegraswälder in der Ostsee sind zu sauerstoffarmen Wüsten geworden; die Korallenriffe in den tropischen Meeren erbleichen und sterben. Und die atlantische Umwälzzirkulation, die für den Austausch warmer und kalter Wassermassen im Atlantik sorgt und das Klima an Land maßgeblich bestimmt, könnte schon in den nächsten Jahren zusammenbrechen.
Die Ozeane werden in den kommenden Jahrzehnten entweder zur größten Bedrohung für die Menschheit – oder wir machen sie bei unserem Versuch, die Erderwärmung zu stoppen, zu unserem mächtigsten Verbündeten. Der Moment, das zu entscheiden, ist jetzt. Schon heute leisten die Weltmeere Enormes zur Regulierung des Klimas der Erde: Sie absorbieren ein Viertel des von der Menschheit ausgestoßenen CO2 und 93 Prozent der globalen Erwärmung.
Trotzdem ist die Bedeutung der Weltmeere für das gesamte Erdsystem – und für das Überleben der Menschheit – ein blinder Fleck in unserem kollektiven Bewusstsein. „Wir haben bessere Karten von der Oberfläche des Mars und des Mondes als vom Grund des Ozeans“, sagte NASA-Ozeanograf Gene Feldman schon vor fast zwanzig Jahren. Daran hat sich kaum etwas geändert: Immer noch sind mehr als 75 Prozent der Ozeane unbeschriebene Untiefen. Zwar soll ein Drittel der Hochsee in Zukunft wenigstens vor Überfischung und Verschmutzung geschützt werden, doch um die Ökosysteme an den Küsten sieht es, wie bereits erwähnt, vielerorts düster aus. Der Meeresgrund ist trotz jahrelanger Verhandlungen weiterhin ungeschützt. Er könnte bald schon von Bergbauunternehmen auf der Jagd nach Rohstoffen umgegraben werden.
Dabei ist das Klimaschutzpotenzial intakter Ozeane unbezahlbar: Ein Bericht des World Resources Forum kam zu dem Schluss, dass die Umsetzung von meeresbasierten Lösungen die globalen Treibhausgasemissionen im Jahr 2050 um mehr als elf Milliarden Tonnen reduzieren könnte – das entspräche den jährlichen Emissionen aller Kohlekraftwerke der Welt.
Dafür müsste viel getan werden: der Schiffsverkehr dekarbonisiert, der Ausbau von Off-Shore-Windenergie beschleunigt, die Wellenenergie der Meere endlich nutzbar gemacht werden. Was fehlt, ist der Wille. Bis 2030 müssen wir die globalen Emissionen halbiert haben, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Wir sind jetzt schon bei 1,2 Grad Erderwärmung angelangt. Was uns zurückhält, ist die trügerische Hoffnung, dass auch ohne unser Zutun alles doch noch gut wird. Warum fällt es uns so schwer, uns davon zu verabschieden?
Weil wir nicht alle gleichermaßen betroffen sind: Die meisten der mehr als 680 Millionen Menschen, die in niedrig gelegenen Küstengebieten wohnen, leben im globalen Süden. Sie haben ein 15-mal höheres Risiko, durch Überschwemmungen und Stürme getötet zu werden, als wir in Deutschland.
Wer das Meer nur aus dem Urlaub kennt, kann steigende Pegel leichter ignorieren. Die Küstenbewohner*innen im globalen Süden dagegen stehen unter besonderem Druck. Sie sind es auch, die schon heute an Lösungen arbeiten, um das Zusammenleben mit den Ozeanen zu verbessern.
Für unsere Serie „Blue New Deal“ besuchen wir jene Menschen, die am stärksten von der Klimakrise betroffen sind. Wir treffen Mangrovenförster in Kenia, Fischer in Honduras, Gewerkschafterinnen in Bangladesch. Und wir sprechen mit Forscher*innen aus aller Welt. Sie alle arbeiten schon daran, die Ozeane zu retten und einen neuen Umgang mit ihnen zu finden – zu ihrem Schutz, und zu unserem.
Die Wahrheit liegt im Keller
brand eins, Juli 2023
Zugige Fenster, Stromfresser, ineffiziente Heizanlagen: Mehr als ein Drittel der in Deutschland verbrauchten Energie verpufft in Gebäuden.
Bis 2030 sollen die Emissionen halbiert werden – und die notorisch klammen Kommunen sollen dabei Vorreiter sein. Wie das funktionieren kann, zeigt Gifhorn.
Neues Denken setzt sich nicht dadurch durch, dass dessen Gegner überzeugt werden, sondern dass sie allmählich aussterben – so soll einst der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck das Problem des zähen Wandels umrissen haben. Im niedersächsischen Landkreis Gifhorn ging es schneller: Die Einführung eines findigen und für die Verwaltung enorm kostensparenden Energiesparverfahrens dauerte dort nur ein paar Jahre.
Wie die Gebäude in Deutschland zukünftig geheizt werden sollen und wer für den überfälligen Umbau zah len soll, ist eines der größten Streit themen dieser Tage. Gifhorn könnte ein Modell für die ganze Republik sein.
Energiespar-Contracting (ESC), so heißt das dort angewendete Verfahren zur beschleunigten und effizienten Gebäudemodernisierung. Es geht dabei um große Komplexe wie Krankenhäuser, Schulen und Verwaltungstrakte – in Deutschland sind davon rund 186.000 Gebäude in öffentlicher Hand betroffen.
Und so funktioniert das: Die Kommune verteilt nicht einzelne Aufgaben an verschiedene Dienstleister, sondern schreibt die energetische Sanierung als Ganzes europaweit aus. Das spart Zeit und Geld.
Das Unternehmen, das den Zuschlag bekommt, muss die Energiekosten der Kommune in einem verein barten Zeitraum auf einen zuvor fest gelegten Betrag senken – sonst zahlt es drauf. Geht die Wette auf, werden die Investitionen einer Kommune in die Gebäudesanierung – der Einbau neuer Heizungen oder Anlagen – durch die niedrigeren Energiekosten amortisiert. Klimaschutz zum Nulltarif.
In anderen Ländern wie den USA ist das EnergiesparContracting schon lange üblich. Was könnte das neue Verfahren für Städte, Gemeinden und ihre Bewohner in ganz Deutschland bedeuten?
(…)
"Ich brachte euch das Feuer"
feuer.citizenkane.de, Mai 2023
Wie viel Energie verbrauchen wir, wie wirkt das auf die Zukunft und warum ist das Feuer des Prometheus heute mehr Last als Lösung?
Die Journalistin Julia Lauter ist diesen Fragen gemeinsam mit dem Citizen.KANE.Kollektiv und dem Théâtre du Point du Jour nachgegangen. Ihre Recherche zur Atom-, Kohle- und Automobilindustrie führte sie nach Lyon, Leipzig und Stuttgart, wo sie Arbeiter:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen interviewten.
Daraus entstand ein Essay, eine Performance und diese digitale Erzählung:
Sie zu lesen dauert 30 Minuten und verbraucht insgesamt 50 Kilokalorien – so viel, wie der Nährwert einer Zwiebel.
Prometheus brachte den Menschen das Feuer. Wir fragen, wer am Ende dafür zahlt?
Die ganz große Nähe
fluter.de, April 2023
Paris, Berlin oder Hamburg wollen eine „15-Minuten-Stadt“ sein. Sieht so die Metropole der Zukunft aus?
In einer Viertelstunde alles erreichen, was man für das tägliche Leben braucht: Lebensmittelhandel, Schulen, Kitas, Ärzt*innen, Parks und Sportplätze. Ohne Auto, dafür mit dem Rad, zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr. Das ist die simple Idee hinter der 15-Minuten-Stadt. Und gerade weil dieses anschauliche Leitbild im Kontrast steht zu vielen anderen akademischen Stadtkonzepten, ist die „15-Minuten-Stadt“ schwer in Mode.
Dabei ist die Idee nicht neu. Bereits seit den 1980er-Jahren kursieren Konzepte wie die „Stadt der kurzen Wege“ oder „Compact Cities“. Sie gelten als Gegenbewegungen zu dem Leitbild, das zuvor dominierte: die funktionelle Stadt, entwickelt 1933 und festgeschrieben vom Architekten Le Corbusier in der „Charta von Athen“. Ihr Ziel war eine Funktionstrennung: Arbeiten und Wohnen sollten an unterschiedlichen Orten stattfinden und durch gut ausgebaute Straßen miteinander verbunden sein. Die Effekte sehen wir bis heute. Große Autobahnen, die die Städte durchziehen, riesige Parkplätze im öffentlichen Raum, alltägliche Rushhours, die vom Speckgürteln in die Innenstadt und zurückstauen.
Veränderungen in der Stadtplanung brauchen lange, bis sie wirken. Bereits 2007 schrieb die EU in der „Leipzig-Charta“ die Neuausrichtung der Stadtentwicklung fest. Grün, gerecht und produktiv soll sie sein, so steht es in ihrer Weiterentwicklung, der „Neuen Leipzig-Charta“ von 2020. Heute bringt die „15-Minuten-Stadt“ diese Ausrichtung auf den Punkt: Wenn die einzelnen Quartiere die Bedürfnisse des Alltags abdecken können, dann haben die Bewohner*innen mehr Zeit, die Stadtplaner*innen mehr Platz abseits der Straßen, und es gibt weniger Lärm, Emissionen und Abgase in der Stadt. Welche Bedeutung der Umbau zu funktionierenden Quartieren haben kann, zeigte sich während der Pandemie. Wer krank war, kranke Menschen versorgte oder in der Quarantäne festsaß, war für eine gut ausgebaute Nahversorgung dankbar.
Paris zählt zu den Pionieren der 15-Minuten-Stadt. Zwischen 2010 und 2018 ist die Zahl der täglichen Fahrten in dem Ballungsgebiet Île-de-France mit dem Fahrrad um 30 Prozent gestiegen, was auch der Bürgermeisterin Anne Hidalgo zugeschrieben wird. Während der Pandemie wurden 50 Kilometer Radwege ausgebaut, bis zu den Olympischen Spielen 2024 soll jede Straße in der französischen Hauptstadt auch eine Radspur haben. Außerdem sollen 60.000 Straßenparkplätze aus dem öffentlichen Raum verschwinden und stattdessen Grün- und Freiflächen entstehen, auf denen die Bürger*innen explizit zum Gärtnern eingeladen sind. Schon seit 2016 sind in einigen Pariser Quartieren die Straßen an Sonn- und Feiertagen für den motorisierten Verkehr gesperrt. In vier Bezirken ist der erste Sonntag im Monat autofrei, an einem Tag im Jahr sogar die ganze Stadt.
Dieser Fokus auf lebenswerte Quartiere und nichtmotorisierten Verkehr wurde auch in anderen Städten aufgegriffen, etwa im australischen Melbourne, im kolumbianischen Bogotá, in Mailand, Kopenhagen, Utrecht und Wien.
Und wie sieht es in Deutschland aus? „Die ‚15-Minuten-Stadt‘ ist in den dicht bebauten Innenstädten bereits vielerorts Realität“, sagt Uta Bauer, Mobilitätsforscherin am Deutschen Institut für Urbanistik. „In kleineren Städten wie Jena, Landau oder Weimar ist das ganz offensichtlich, aber auch in Großstädten wie Berlin oder Hamburg sind die Alltagsziele zu Fuß, mit dem Rad oder ÖPNV selten weiter als 15 Minuten entfernt.“
Aber nicht überall. Die Bezirksamtsleiterin von Altona, Stefanie von Berg, sagt: „In den Außenbereichen der Städte ist die ‚15-Minuten-Stadt‘ leider bis heute noch nicht umgesetzt.“ Und auch da, wo die Erreichbarkeit schon gegeben sei, könne man noch viel tun, um die Lebensqualität zu erhöhen und die Verkehrswende voranzubringen. Der Plan sei, den öffentlichen Nahverkehr auszubauen, Sharing-Angebote auszuweiten und Fuß- und Radwege sicherer zu gestalten. Außerdem sollen mithilfe von Wirtschaftsförderungen Anreize für die Einrichtung von Kitas, Arztpraxen, Sportangeboten oder den Einzelhandel geschaffen werden, so Berg. „Am Ende ist die ‚15-Minuten-Stadt‘ ein Angebot. Und das Gelingen hängt wesentlich davon ab, dass die Menschen dieses Angebot auch wahrnehmen.“ Dem stimmt auch die Mobilitätsforscherin Uta Bauer zu: „Wer immer nur online bestellt, kann keinen Tante-Emma-Laden im Quartier erwarten“, sagt sie.
Im Internet kursieren derweil Verschwörungserzählungen zu den „15-Minuten-Städten“. Menschen sollten damit in ihren Stadtvierteln eingesperrt werden, heißt es, begründet auf Bestrebungen der Stadt Oxford, weniger Autoverkehr zuzulassen. Dafür sollen ab 2024 Kameras eingesetzt werden, die erkennen, welche Autos auf der Straße fahren dürfen und welche nicht. Diese Idee hängt aber gar nicht direkt mit der „15-Minuten-Stadt“ zusammen und betrifft andere Städte nicht.
Eine echte Kehrseite des Konzepts gibt es aber: Wo der Verkehr beruhigt und die Nahversorgung gut ist, da steigen oft die Mieten. Das könne man in Immobilienanzeigen nachvollziehen, sagt Bauer, ein lebenswertes Viertel werde von Vermietern vielerorts als Preiskatalysator genutzt. Ist die „15-Minuten-Stadt“ also nur ein weiterer Hebel für Gentrifizierung? „Das kann man nicht ausschließen“, sagt Uta Bauer. „Aber es ist ja auch keine Option, die Stadt laut und dreckig zu lassen.“ Gegen Gentrifizierung würden nur entschlossene wohnungspolitische Maßnahmen wie sozialer Wohnungsbau helfen. Und gegen die „15-Minuten-Stadt“ als Preistreiber nur eine flächendeckende Umsetzung. „Es sollte nicht nur dort investiert werden, wo die Anwohner am lautesten danach rufen“, sagt Bauer.
Doch selbst in den teuren urbanen Vierteln sind die Widerstände gegen verkehrsberuhigte Zonen enorm groß. Das zeigt etwa der zähe Streit um die Sperrung eines Teilstücks der Friedrichstraße in Berlin-Mitte. Und das hat auch Stefanie von Berg bei der Umsetzung des Projekts „Ottensen macht Platz“ erlebt: Der urbane, wohlhabende Stadtteil im Westen von Hamburg war zwischen September 2019 und Ende Januar 2020 weitgehend autofrei. Darüber und über die langfristige Sperrung zweier zentraler Verkehrsachsen für den Autoverkehr gibt es bis heute Streit in den sozialen Medien. „Die absolute Mehrheit der Anwohner will diesen Umbau. Aber für einige ist es schwer, jahrzehntealte Gewissheiten wie ‚Ich darf mein Auto überallhin fahren und kostenlos parken‘ aufzugeben,“ sagt von Berg. „Da muss man richtig dicke Bretter bohren.“ Es kann also noch Jahre dauern, bis der Verkehr in Ottensen tatsächlich entschleunigt wird.
Solche lokalen Beispiele zeigen deutlich, wie viel schneller eine „15-Minuten-Stadt“ ausgerufen als umgesetzt sei, sagt Mobilitätsforscherin Uta Bauer. Verwaltungsdogmen wie etwa die Straßenverkehrsordnung, die den fließenden Verkehr grundsätzlich begünstige, machten es schwer, autogerechte Stadtstrukturen aufzubrechen – zumal in einem Land mit einflussreicher Autolobby. „In den Städten wird sich nur dann etwas verändern, wenn die Menschen das konsequent einfordern und sich selbst als aktiven Teil der Stadt und ihres Viertels begreifen“, sagt Bauer. Die „15-Minuten-Stadt“ entsteht Straße für Straße.
Schwierige Nachbarschaft
Greenpeace Magazin, Februar 2023
Einst zählten sie zu den ersten Haustieren des Menschen, heute gelten Stadttauben als „Ratten der Lüfte“. Unsere Autorin versucht
eine Annäherung an ihre aufdringlichen Besucherinnen.
Viele Stadtmenschen sehnen sich nach Natur, nach wilden Wäldern und Begegnungen mit Tieren, die man nicht an Leinen führt. Doch was, wenn die ungezähmte Natur plötzlich vor dem Fenster sitzt, uns aus leuchtend orangenen Augen anstarrt und sich einfach nicht vertreiben lässt?
(…)
Ich bin mehr als eine Zahl
brand eins, Februar 2022
Die Schule sortiert Kinder und Jugendliche nach Noten, viele Fachleute fordern schon lange eine Reform des Zensurenkults. Bislang ohne Erfolg. Nun gehen Unternehmen voran.
Man mag sie gefürchtet oder mit Leichtigkeit errungen haben, jeder Schüler und jede Schülerin wurde mit ihnen bewertet: Noten, die unsere Lernleistungen darstellen und vergleichbar machen und uns schließlich für Ausbildungen und Berufe empfehlen sollen.
Doch was, wenn Unternehmen dieser Währung nicht mehr vertrauen? Immer häufiger machen Unternehmen Schlagzeilen, weil sie die Schulnoten bei der Auswahl ihrer Auszubildenden nicht mehr so stark berücksichtigen wollen: Die Deutsche Bahn erklärte bereits vor zehn Jahren, die Schulnoten sollten bei der Auswahl der Bewerber auf einen Ausbildungsplatz nicht länger ausschlaggebend sein und etablierte neben klassischen Interviews andere Einstellungstest und Assessment-Verfahren. Ähnlich hält es der Chemie-Konzern BASF oder der schwäbische Maschinenbauer Trumpf. Und ganz auf Noten verzichtet sei August 2022 das schweizerische Telekommunikations-Unternehmen Swisscom.
Marc Marthaler, früher Lehrer und heute Leiter der Berufsbildung bei Swisscom, hat mit seinem Team elf Monate lang an einem Bewerbungsverfahren getüftelt, das ohne die Berücksichtigung von Schulzensuren auskommt.
(…)
Erdöl zum Kuscheln
Die Zeit, Dezember 2022
Von der Wanderklamotte hat Fleece sich zum Gorpcore-Fashion-Darling gewandelt. Das Problem: Das Zeug hat eine miese Umweltbilanz. Doch richtiges Waschen hilft enorm.
Der wundersame Aufstieg des Fleece begann schon vor der Pandemie. Flauschige Pullis und Jacken, die man bis dahin in Outdoorläden, Baumärkten und Tchibo-Filialen erworben hatte, traten plötzlich auf den ganz großen Modebühnen auf: Influencerin Kendall Jenner oder Hailey Bieber ließen sich in übergroßen gelben, sehr kleinen tannengrünen und sogar in "rentnerbeigen" Fleecejacken fotografieren. Gucci brachte gemeinsam mit der Outdoormarke The North Face ein quietschbuntes Fleece für 2.600 Dollar auf den Markt. Seit die Vogue dem Kuschelmaterial attestierte, sexy zu sein, schreiben Modeblogs um die Wette, wie man Fleecejacken kombinieren muss, damit sie nicht nach Campingtrip oder Winter im zugigen Büro aussehen.
(…)
Was bleibt
Reihe 5 – Magazin der Staatstheater Stuttgart, September 2022
WhatsApp-Chats mit Verunglückten, Facebook-Seiten von Verstorbenen, Begegnungen mit toten Kindern: Wie verändert die Digitalisierung unsere Erinnerungskultur und wie werden wir morgen trauern und gedenken?
Eine Frau steht weinend und alleine vor einem Greenscreen, wiederholt immer wieder den Namen ihrer Tochter und greift ins Leere. Jang Ji-sung kann ihr Kind nicht berühren, nicht seine Hände halten. Denn Na-yeon, ihre siebenjährige Tochter, ist vor drei Jahren an Leukämie gestorben. Was die trauernde Mutter durch eine 3D-Brille vor sich sieht und zu streicheln versucht, ist eine digitale Nachbildung. „Ich möchte dich wirklich nur einmal berühren“, sagte Jang mit brüchiger Stimme und zitternden Händen. „Mama hat dich so vermisst.“
Die tränenreiche Begegnung ist eine Szene aus einem südkoreanischen Dokumentarfilm, der 2020 die Entstehung des digitalen Avatars von Na-yeon und das Abschiednehmen der Mutter mittels Virtual-Reality begleitet hat. Die Animation des Mädchens – sein Körper, seine Stimme, seine Bewegungen – wurde auf der Grundlage von Fotos und Erinnerungen ihrer Mutter und mithilfe einer Kinderschauspielerin erstellt. „Wir wollten herausfinden, ob Technologie trösten und das Herz erwärmen kann, wenn sie für Menschen eingesetzt wird", sagt einer der Studiodirektoren über das Projekt.
Bis heute haben über 31 Millionen Menschen das Youtube-Video dieser Begegnung gesehen – und kontrovers diskutiert. Denn Jang Ji-sungs Abschied von ihrer Tochter rüttelt an althergebrachten Vorstellungen des Trauerns. Jeden Tag sterben rund 178.000 Menschen weltweit, das sind rechnerisch 7.425 jede Stunde, 120 jede Minute. Und immer mehr dieser Toten hinterlassen digitale Spuren: Fotos, Videos, Sprachnachrichten – manche nur in privaten Chats, viele auch auf öffentlichen Social-Media-Kanälen. Blieben früher nur ein paar Bilder, Briefe, Kleidungsstücke und Möbel zurück, sind es heute oft Festplatten voller persönlicher Daten und Tausende virtuelle Freunde und Follower. Auf den Social-Media-Plattformen bleiben verwaiste Profile zurück, bei Facebook sollen es täglich rund 8000 sein, und werfen die Frage auf, wie man mit der digitalen Präsenz der Toten umgeht.
„Die meisten Menschen sind sehr dankbar über den digitalen Nachlass“, sagt der Soziologe Lorenz Widmaier. Er schreibt derzeit seine Promotion über neue Form der Erinnerungskultur und hat in den vergangenen vier Jahren Angehörigen zu ihrem Umgang mit digitalen Trauerpraktiken befragt: Wie sie mit Social-Media-Profilen verfahren und mit Fotos-, Videos- und Sprachnachrichten umgehen, ob sie Angebote wie digitale Friedhöfe oder Trauergruppen nutzen – und auch, ob sie mit ihren Angehörigen virtuell über den Tod hinaus kommunizieren.
„Es geht nicht ums Loslassen“, sagt Widmaier, „wenn jemand stirbt, dann verändert sich die Beziehung zum Verstorbenen, aber sie hört nicht einfach auf.“ Weit verbreitet sei heute noch die Theorie der „Fünf Phasen der Trauer“ wonach auf Verdrängung, Wut, Verhandlung und Verzweiflung schließlich Akzeptanz folgen soll. „Zeitgemäßer ist allerdings die Theorie der fortgesetzten Bindung, die davon ausgeht, dass es für die Hinterbliebenen normal und hilfreich ist, mit den Verstorbenen verbunden zu bleiben“, erklärt Widmaier und schließt daraus: „Man muss die Beziehung zu den Verstorbenen nicht beenden, sondern neu gestalten.“
Was das konkret bedeutet, eröffnete ihm eine Gesprächspartnerin, die ihren 18 Jahre alten Sohn bei einem Autounfall verloren hatte. Den Austausch über den Messenger-Dienst WhatsApp führte sie auch jahrelang nach seinem Tod weiter und schrieb Nachrichten an ihren Sohn. „Sie schilderte mir, wie wichtig es am Anfang für sie war, dass ihre Nachrichten zwei blauen Haken hatten und angekommen waren.“ Die Mutter lud das Smartphone des toten Sohnes immer wieder neu auf, damit diese Eingangsbestätigung als Zeichen einer Verbindung mit ihm erhalten blieb. „Später verloren die blauen Haken ihre Bedeutung, es reichte ihr, die Nachrichten abzuschicken. Dann lies sie das Handy ihres Sohnes ausgehen.“ Für Lorenz Widmaier ein Beispiel seiner These, dass die digitalen Trauerpraktiken nur in der Form neu sind: „Erzählungen von Naturbegegnungen, bei denen etwa Vogelgesang oder ein Regenbogen als Zeichen von Verstorbenen gewertet werden, gab es schon immer“, sagt er.
Die digitalen Zeichen der Verstorbenen berühren allerdings nicht nur die poetische, sondern auch die juristische Sphäre: Wer darf an einen Verstorbenen erinnern, welche Daten bleiben auch nach dem Tod privat und ist es angebracht, ein Social-Media-Profil fortzuführen? Dennis Schmolk hat über den Umgang mit dem digitalen Erbe einen Blog und ein Buch geschrieben, er sagt: „Viele dieser moralischen Fragen haben wir als Gesellschaft noch nicht ausgehandelt.“ Rechtlich zumindest wurde 2018 ein zentrales Urteil gefällt: Geklagt hatten die Eltern eines minderjährigen Mädchens, die sich aus Facebook-Nachrichten Klarheit über die Todesursache erhofften. Das Unternehmen lehnt den Zugriff ab, schließlich entschied der Bundesgerichtshof, dass die Nutzungsrechte an einem Social-Media-Profil an die Erben übergehen – außer es wurde zu Lebzeiten anders verfügt.
Die Frage, ob man die Daten eines Verstorbenen nicht nur sichten, sondern daraus eine Animation erstellen lassen würde, gab Lorenz Widmaier an seine Gesprächspartner weiter. „Das wäre so genial. Ich glaube es ist ein bisschen spooky, aber warum denn nicht, also wir fliegen auch zum Mond. (...) Das hätte mir am Anfang ungemein geholfen, dann hätte er da gesessen und alles wäre wie immer“, antwortete einer, ein anderer so: „Das würde ja so eine Präsenz vorgaukeln, da bin ich gar nicht interessiert (...) Ich will ihn nicht in diese Gegenwart holen. Und schon gar nicht über so eine Technik. (...) Klar schicke ich persönliche Nachrichten über WhatsApp, aber ich glaube das ist doch sehr anders.“
Soziologe Widmaier selbst sagt: „Solche Animationen werden in Zukunft sicher zunehmen, aber am Ende sind sie auch nur eine externalisierte Form bereits bestehender Erinnerungskultur.“ Viele Menschen würden mit ihren Verstorbenen Zwiesprache halten, „und die innere Kommunikation funktioniert mindestens genau so gut wie ein Chatbot oder eine 3D-Animation.“
In Südkorea brachte die einmalige Begegnung zwischen Mutter und Tochter jedenfalls ein versöhnliches Ende: Jang Ji-sung gab ihrem virtuell nachgebauten Kind ein Versprechen. „Ich werde nicht mehr weinen. Ich werde dich auch nicht mehr so sehr vermissen“, sagte sie. „Stattdessen werde ich dich für immer in meinem Herzen lieben. Ich werde dich sogar noch mehr lieben, als ich es jetzt tue.“
Wo kommst du denn her?
brand eins, September 2022
Unternehmen wollen vielfältiger werden. Bislang konzentrierten sich viele darauf, Frauen mehr Chancen zu geben. Aber auch andere Gruppen liefern neue Perspektiven, zum Beispiel Arbeiterkinder.
Als sich Monika Huesmann jener unsichtbaren Wand zum ersten Mal bewusst wurde, gegen die sie ihr Leben lang angerannt war, war sie 33 Jahre alt. „Freie Universität Berlin, erstes Semester BWL – da wurde mir klar, dass ich Arbeiterkind bin“, sagt sie.
Huesmann hatte gekämpft, um dorthin zu kommen, hatte nach fast 15 Jahren Arbeit als Erzieherin, Heilpädagogin und Leiterin einer Sondertagesstätte gegen viele Widerstände auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt. Sie hatte immer sehr gute Leistungen erbracht. Aber nun, angekommen an der Universität, schien ihr das entscheidende Wissen zu fehlen: „Ein Professor fragte in der mündlichen Prüfung, was man bei Kleists ,Prinz Friedrich von Homburg‘ über Führung lernt – ein Buch, das nicht auf dem Lehrplan stand, aber von dem er ganz selbstverständlich annahm, seine Studierenden würden es kennen.“ Der Habitus, die Haltung, die Sprache, das gesamte akademische Milieu sei ihr vollkommen fremd gewesen. „Es war ein regelrechter Schock“, sagt Huesmann.
Heute ist sie Professorin für Organisations-, Personal- und Informationsmanagement an der Hochschule für Wirt-
schaft und Recht in Berlin.
(…)
Ozeanische Gefühle
fluter, September 2022
Es gibt einen Ort auf unserem Planeten, der sich vor Milliarden von Jahren in unseren Körpern festgeschrieben hat, von dem bis heute unser Überleben abhängt und den wir dennoch schlechter kennen als manchen Nachbarplaneten: das Meer.
Wenn wir an seinen Ufern stehen, dem unaufhaltsamen Rhythmus seiner Wellen lauschen und uns im Angesicht der sich bis zum Horizont erstreckenden Wassermassen winzig fühlen, liegt es wie eine offene Frage vor uns: Was ist das Meer? Nüchtern heißt die Antwort: Eine 362 Millionen Quadratkilometer große Fläche, durchschnittlich fast 4.000 Meter tief, gefüllt mit etwa 1,35 Milliarden Kubikkilometern Salzwasser, verteilt auf die sieben Weltmeere Nord und Südatlantik, den Nord und Südpazifik, den Indischen, Antarktischen und Arktischen Ozean und die Nebenmeere. Diese Wassermassen bedecken rund 70 Prozent der
Erdoberfläche und sind der größte belebte Raum des Planeten. Über zehn Millionen Arten werden darin vermutet, von beinah unsichtbaren Mikroben, die 11.000 Meter unter der Wasseroberfläche von dem leben, was zu ihnen hinabschwebt,
über farbenfrohe Schwämme und Korallenriffe bis hin zu
riesenhaften Walen, die nomadisch die Ozeane durchstreifen. Wie viele Tier und Pflanzenarten jedoch genau in der lichtlosen Tiefsee leben, weiß niemand zu sagen.
„In der Tiefsee herrscht ein anderes Tempo als an der Erdoberfläche, viele Lebewesen dort werden sehr alt und wachsen nur langsam“, erzählt die Meeresbiologin Antje Boetius, die bis auf 3.450 Meter hinabgetaucht ist. Sie besucht Orte, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. „In der Tiefsee leben einzigartige Lebensformen, von denen viele wie Fantasiewesen aussehen“, in der absoluten Dunkelheit begegneten ihr leuchtende Meeresbewohner, die ihr eigenes Licht produzieren, die durch Strömung, Töne oder chemische Signale kommunizieren. Boetius’ Beschreibungen klingen wie aus einer anderen Welt – und stammen doch nur aus wenigen Tausend Metern Tiefe.
So fremd den meisten Menschen die von Kälte, Sauerstoffmangel, Druck und Finsternis geprägte Meereswelt ist, es gibt auch eine weitreichende Verbundenheit. Wer dem wie genden Rhythmus des Wellengangs zuhört, seinem Gluckern, Schlagen und Rauschen, fühlt sich nicht umsonst an den eigenen Herzschlag erinnert: Nicht nur besteht der Mensch überwiegend aus Wasser, auch das Mengenverhältnis von Natrium , Chlorid , Kalium und Kalziumionen ist im Meerwasser und im menschlichen Blutplasma sehr ähnlich. Würde man sich reines Blutplasma auf die Zunge legen, schmeckte es wohl nach Meer – eine Spur zu den Anfängen des Lebens auf der Erde, als Einzeller vor 3,5 Milliarden Jahren im Meer schwebten und sich dabei dem Salzwasser der Ozeane anpassten.
Und nicht nur unsere Körper, auch unsere gesamte Umwelt ist mit den Meeren unmittelbar verbunden: In den Ozeanen passieren Stoffkreisläufe, die für uns und den Rest der Welt überlebenswichtig sind. So ist alles Wasser auf der Erde miteinander verbunden, wird aus den Meeren, aus Seen, Flüssen und kleinsten Pfützen durch Verdunstung, Wind, Niederschlag und Versickerung immer wieder neu auf der Erde verteilt. Die Meere helfen uns beim Atmen, denn etwa die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre wird von Phytoplankton produziert. Und sie regulieren das Klima: 34.000 Gigatonnen Kohlenstoff wurden zwischen 1994 und 2007 in den Weltmeeren gebunden, die Ozeane „schluckten“ damit etwa ein Drittel der menschengemachten CO₂-Emissionen und bremsten die Erderwärmung ab.
Unser Leben ist nicht ohne das Meer und das Meer nicht ohne seine Tiefe zu begreifen. Wir, die wir nur an seinen Rändern planschen, vom Liegestuhl auf seine Oberfläche starren und auf seinen Wellen reiten, können seine Abgründe und deren Bedeutung nur erahnen. Albert Camus beschrieb dieses Gefühl in seinem Tagebuch so: „Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen.“
Kurzer Dienstweg
brand eins, August 2022
Mikroprozessoren sind derzeit rar. Ein Österreichisches Unternehmen hat sich daher auf seine regionalen Zulieferer besonnen. Über die Vorzüge eines direkten Drahts in unsicheren Zeiten
Um zu erklären, wie ein kleiner Hersteller von elektronischen Zahnbürsten die Chipkrise umschifft, muss Moritz Hoyos ganz vorn anfangen. Mithilfe eines Schlüssels dreht der Lieferketten-Manager des österreichisch-britischen Unternehmens Playbrush behände die Unterseite einer Elektro-Zahnbürste auf, zieht das Gehäuse ab und gibt den Blick frei auf die grüne Platine, das Herzstück. Drei Mikrochips, zusammen so groß wie ein Fingernagel, sind darauf verlötet, einer steuert den Motor, einer den Ladevorgang, einer die Bluetooth-Kommunikation. „Ohne diese Prozessoren gäbe es unser Produkt nicht“, sagt Hoyos und zeigt auf den größten der drei: „Und dieser hier wird seit Anfang des Jahres nicht mehr geliefert. Unsere Bestellung wurde von Monat zu Monat verschoben und soll nun vielleicht im Herbst, vielleicht aber auch erst nächstes Jahr geliefert werden.“
Was macht ein Hersteller von intelligenten Zahnbürsten ohne jene Teile, die sein Produkt erst intelligent machen? Und – vielleicht vorab – wofür braucht man überhaupt intelligente Zahnbürsten?
(…)
Die Suche nach dem Gift
GEO, August 2022
Synthetische Stoffe sind in fast allem enthalten, was wir essen, anziehen, konsumieren. In unseren Körpern reichern sich
so Chemikalien an, von denen nicht einmal Fachleute wissen, ob sie gefährlich sind. Zwei GEO-Autorinnen ließen ihre eigene Belastung testen und suchten nach den Ursachen der Verseuchung
An diesem frühen Morgen zerlegt die 58-jährige Ingenieurin Kerstin Beier mit geübten Handgriffen einen Verdachtsfall: einen Flip-Flop in Kindergröße mit blauen und weißen Haifischen darauf. Im Landeslabor Berlin-Brandenburg im Berliner Südosten stehen die Invaliden vergangener Untersuchungen in den Regalen: ein Spielzeug-Nilpferd mit amputiertem Hinterbein, eine halbe Quietscheente, ein Stofftier-Elefant ohne Fußsohlen. Dass der verdächtige Flip-Flop „Weichmacher“ enthält, steht außer Frage. Sie sind in sehr vielen Kunststoffen enthalten und machen sie weich, der Name sagt es schon. Kerstin Beier soll herausfinden, ob einer davon verboten ist und der Flip-Flop deshalb aus dem Verkehr gezogen werden muss.
Denn Weichmacher – oder, in der Fachsprache der Chemiker: „Phthalate“ – können uns gefährlich werden. Sie sollen deswegen nur in Ausnahmefällen zugelassen und vermarktet werden, das Umweltbundesamt hält eine Verwendung nur dann für hinnehmbar, wenn „es keine Alternativen gibt und der Nutzen für Mensch, Umwelt und Gesellschaft höher sind als die Risiken.“ Trotzdem finden sie sich zuhauf in unserer Umgebung.
Unsichtbare synthetische Stoffe sind immer bei uns, an uns, in uns. Sie haben verästelte Molekülstrukturen und komplizierte Namen, doch es lohnt, sie zu verstehen. Denn sie sind allgegenwärtig – und unabdingbar – in unserer modernen Industriegesellschaft. Wir wachen in Bettwäsche auf, aus der die ganze Nacht über Farbstoffe in unsere Haut eingedrungen sind. Wir öffnen das Fenster und atmen eine Mischung aus Feinstaub und Pestiziden ein, duschen mit Seife, die Phthalate in unsere Haut abgibt, braten unser Frühstücksei in einer Pfanne, die mit perfluorierten Alkylverbindungen beschichtet ist und trinken Saft aus mit Bisphenolen versetzten Bechern.
(…)
STREIT: Braucht es Aufrüstung, um Frieden zu sichern?
fluter.de, August 2022
Angesichts des russischen Angriffskriegs hat Deutschland seine Verteidigungsausgaben massiv erhöht. Aber trägt mehr Geld für Waffen wirklich dazu dabei, Konflikte zu lösen? Unser Autor und unsere Autorin streiten
Es herrscht Krieg in Europa. Der Krieg ist nah, nur acht Autostunden von der deutschen Grenze entfernt. Aber, und das ist wichtig, aktuell ist Deutschland nicht akut bedroht. Wer gegen Aufrüstung in Deutschland argumentiert, sagt nicht, dass ein von einer militärischen Übermacht angegriffenes Land wie die Ukraine sich nicht verteidigen sollte. Oder dass dieses Land bei seiner Verteidigung nicht unterstützt werden sollte. Aber trotz der Nähe ist Kiew eben nicht Berlin. In Berlin wurde jedoch kürzlich eine Grundgesetzänderung beschlossen, die ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ermöglicht – für Rüstung und die Einhaltung des NATO-Ziels, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben bereitzustellen. Der Beschluss fiel, ohne dass es dazu eine breite und tiefgehende Debatte in der Öffentlichkeit gab. Und das ist ein Problem.
Eine entscheidende Frage ist: Hätte ein besser ausgestattetes Militär in Deutschland den Krieg in der Ukraine verhindert? Die Antwort ist schlicht: Nein. Eine Mitgliedschaft im NATO-Bündnis oder in der EU, die die Ukraine seit langem anstrebt, hätte Russland vermutlich von der Invasion abgehalten – schließlich betrugen die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten schon 2021 rund 338 Milliarden US-Dollar und waren damit gut fünfmal so hoch wie die Russlands. Doch die Militärmacht ihrer westlichen Nachbarn nützt den Ukrainer:innen bis heute wenig, denn Waffenbestellungen für die Bundeswehr bedeuten nicht automatisch Waffenlieferungen an die Ukraine. Den Fehler, dem seit acht Jahren bedrohten Nachbarstaat die Bitten um Beistand und militärische Ausstattung nicht erfüllt zu haben, kann man mit einem milliardenschweren Rüstungspaket für das eigene Militär nicht einfach rückgängig machen.
Schon 2021 gab Deutschland 56 Milliarden US-Dollar für sein Militär aus und hatte damit den siebtgrößten Militärhaushalt der Welt. Die angekündigte Erhöhung der Verteidigungsausgaben – drei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine – ist auch eine Reaktion auf Ängste in der Bevölkerung. Das Sondervermögen soll signalisieren, dass etwas getan, dass Sicherheit hergestellt werden kann. Doch ist das Hochschrauben von Rüstungsausgaben das richtige Mittel?
Auch Konfliktforscher:innen wie Ursula Schröder vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sind nicht grundsätzlich dagegen, dass die Bundeswehr besser ausgestattet sein sollte. Die Frage sei, wie viel mehr Geld es dafür brauche, sagt Schröder: Sie würde „lieber von Ausrüstung, nicht von Aufrüstung sprechen“. Denn die vorhandenen Militärausgaben würden derzeit nicht effizient genug verwendet. „In einer idealen Welt käme erst eine nationale Sicherheitsstrategie, dann die Reform des mangelhaften Beschaffungssystems der Bundeswehr und dann zusätzliches Geld“, so Schröder. Denn nach zahlreichen Skandalen (60.000 Schuss Munition unauffindbar und Millionenverluste durch falsches Management) ist das Vertrauen darauf, dass das Geld bei der Bundeswehr sinnvoll verwendet wird, nicht sonderlich hoch. Oder wie der Fregattenkapitän Marco Thiele vom Bundeswehrverband gegenüber der ARD erklärte: Sollten die bestehenden Prozesse und Strukturen (…) nicht angepasst werden, drohten die 100 Milliarden Sonderinvestitionen zu verdampfen.
Der Trend zu immer höheren Investitionen in Waffensysteme war schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine klar erkennbar: 2021 stiegen die weltweiten Militärausgaben auf den Rekordwert von 2,1 Billionen US-Dollar an, wie das Stockholm International Peace Research Institute bekannt gab. Aus Sicht der Friedensforschung ist das eine besorgniserregende Entwicklung – sollten wir Normalbürger:innen die Aufrüstungseuphorie dann nicht ebenfalls kritisch hinterfragen?
Befeuert die Entwicklung das globale Wettrüsten? Was gehört – außer Waffen – zu einer funktionierenden Sicherheitspolitik? Und wie viel des Sondervermögens wird in Zukunft auf diese nichtmilitärischen Mittel verwendet werden? Solche Fragen geraten im Angesicht des nahen Krieges schnell aus dem Blick.
Ein gut aufgestelltes Militär würden auch viele Pazifist:innen nicht kategorisch ablehnen. Dass Investitionen ins Gesundheitswesen, in Bildung und Klimaschutzmaßnahmen hintangestellt werden, aber schon. Darüber, wie das Geld der Bürger:innen verwendet wird, sollte darum nicht nur unter Sicherheitsexpert:innen, sondern in der breiten Öffentlichkeit debattiert werden. Ein Aufrüstungsautomatismus ist keine adäquate Reaktion auf die zahlreichen Krisen unserer Zeit – von Pandemie bis Klimawandel. Denn die können nur zu einem sehr kleinen Teil durch militärische Mittel gelöst werden. Darum sollten wir über Aufrüstung weiterhin leidenschaftlich streiten.
Sonnen-Guerilla
brand eins, Juli 2022
Wie schwer ist es, eine kleine Solaranlage auf dem Balkon zu installieren? Knut Brenndöfer hat mit der Bürokratie gerungen und hat nun Verständnis mit jedem, der in den Untergrund geht
Die Idee, Energie nicht nur zu konsumieren, sondern selbst zu gewinnen, kann viele Gründe haben. Manche Menschen wollen ihren Beitrag zur Energiewende leisten. Andere wollen ihre Haushaltskasse entlasten. Und wieder andere wollen gewappnet sein für Zeiten, mit ungewisser Energieversorgung.
Bei Knut Brenndörfer kommen all diese Gründe zusammen. Brenndörfer, Ingenieur für Nachrichtentechnik im Ruhestand, lebt am Rande von Blaubeuren, einer Kleinstadt am Fuße der schwäbischen Alb. Und bisher ist sein Vorhaben, auf seinem Balkon Sonnenenergie zu ernten vor allem eins: ziemlich viel Arbeit. Im Wohnzimmer von Brenndörfers Eigentumswohnung stapeln sich Kisten voller Elektrozubehör, auf seinem Balkon stehen zwei Solarmodule, je 110cm auf 170 cm und 18 Kilo schwer, die zu Spitzenzeiten 660 Watt produzieren soll – damit sammelt er an einem sonnigen Tag in der Stunde Energie für grob 25 Stunden aktiver Laptop-Arbeit.
Vier Monate ist es her, dass der Privatier sich auf den Weg machte, selbst Strom-Produzent zu werden. „Ich hätte nie gedachte, dass es so kompliziert werden würde“, sagt Brenndörfer. Er, der lange Zeit als Ingenieur im Bereich der Raumfahrt und der Halbleiterentwicklung gearbeitet hat, meint damit nicht die technische Herausforderungen, sondern die bürokratischen Hürden bei der Installation einer kleinen Solaranlage. „Ich wollte eine „Plug-In-Solaranlage“ für meinen Balkon kaufen. Einfach aufstellen und einsteckt, das hat mich abgeholt“, sagt Brenndörfer. Doch das Versprechen habe sich bei genauem Hinsehen nicht bewahrheitet.
(…)
Darf’s noch etwas Gift sein?
fluter, Juli 2022
Um gesundheitliche Schäden zu vermeiden, gibt es Grenzwerte. Zum Beispiel für Pestizide auf Obst und Gemüse. Über Risiken im Milligrammbereich
Für viele Menschen ist ein Sommer ohne Erdbeeren kaum vorstellbar. 3,8 Kilo Erdbeeren isst jede und jeder Deutsche durchschnittlich im Jahr – ziemlich viel dafür, dass die Früchte hierzulande außerhalb von Gewächshäusern nur zwischen Ende Mai und September reif sind. Daher stillen auch Importe den deutschen Erdbeerhunger: Fast 130.000 Tonnen wurden im Jahr 2021 importiert. Zu den weltweit führenden Exportländern von Erdbeeren zählen Spanien, Mexiko und die USA.
Für das Sommergefühl mag es nicht so wichtig sein, auf welchen Feldern die Erdbeeren geerntet wurden. Für die Risikoabschätzung aber schon: Drei Viertel der Erdbeeren wiesen im Jahr 2020 Mehrfachrückstände durch Pestizide auf. Das sind chemische Stoffe, die in der Landwirtschaft zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt werden – und den Menschen gefährlich werden können. Um zu vermeiden, dass Pestizide außer Käfern, Fliegen und Pilzen auch Konsumenten schaden, legt die EU Grenzwerte fest. Und hier fängt der Streit an: Umwelt- und Verbraucherschützer fordern weniger Gift auf dem Acker, viele Bauern dagegen weniger rigide Pestizidverbote. Wer hat nun recht?
Das Beispiel der Erdbeere zeigt, dass eine Antwort nicht leicht ist: Für die süßen Früchte sind Stand März 2022 etwa in Bayern 37 Fungizide, 22 Insektizide und 15 Herbizide zugelassen. Über die Zulassung entscheidet die EU-Kommission. Dafür stellen die Pestizidproduzenten einen Antrag auf Genehmigung eines neuen Produkts in der EU. Hierzu müssen zahlreiche Studien vorliegen, die die Gefährlichkeit des Stoffes in Tierversuchen, der Anbaupraxis und im Endprodukt untersuchen.
Was auf den ersten Blick nachvollziehbar klingt, wird schnell kompliziert. Das zeigt der Fall Flutianil. Das Fungizid wird eingesetzt, um Erdbeerpflanzen vor Pilzbefall durch Mehltau zu schützen. In der EU ist der Wirkstoff seit 2019 genehmigt, verwendet wird er bisher nur in Italien, Portugal und Deutschland – hierzulande allerdings nur als Produkt für Zierpflanzen in Gewächshäusern.
Im März gab die EU-Kommission bekannt, dass sie den Importgrenzwert für das Fungizid anheben wolle: Äpfel, Süßkirschen, Gurken, Zucchini und, ja, auch Erdbeeren aus den USA sollten künftig ein Vielfaches an Flutianil enthalten dürfen. Das japanische Unternehmen OAT Agrio Co. Ltd., das in den USA gute Geschäfte mit dem Fungizid macht, hatte den Antrag dafür gestellt. Nun soll mit der Anhebung der EU-Werte für Produkte aus den USA ein erster Schritt dahin gemacht werden, dass das Fungizid den europäischen Markt erobert. Die EU-Kommission spricht von der „Vermeidung von Handelshemmnissen“. Das bedeutet, dass der Verkauf von Waren zwischen den USA und der EU vereinfacht wird, wovon die Wirtschaft auf beiden Seiten profitieren soll.
Zwar wäre die in Europa zulässige Menge immer noch sehr gering – 0,3 Milligramm Flutianil pro einem Kilo US- Erdbeeren, bisher waren es 0,01 Milligramm –, allerdings hat der Stoff den Ruf, auch schon in geringen Mengen gesundheitsschädlich zu sein: Studien zeigen, dass sich Flutianil bereits in sehr kleinen Dosen auf das Hormonsystem von Lebewesen auswirken kann. Zudem wurde das Fungizid zwischenzeitlich als krebserregend, fortpflanzungshemmend und hormonell wirksam eingestuft. Diese Einstufung wurde 2016 trotz Kritik rückgängig gemacht, sodass der Stoff 2019 schließlich für die EU zugelassen wurde. Die diesjährige Ankündigung, den Grenzwert nun sogar noch erhöhen zu wollen, lehnte der Umweltausschuss des EU-Parlaments zunächst ab. Mehrere Parlamentarier hatten zudem Einspruch gegen den Vorstoß der Kommission eingelegt, allen voran die Pharmazeutin Jutta Paulus von den Grünen. „Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist doch: Wie wichtig ist es wirklich, Erdbeeren aus den USA in die EU zu importieren?“, sagt sie. Den Parlamentariern würden immer wieder Grenzwertanhebungen für Pestizide vorgelegt mit der Begründung, dass man damit Handelshemmnisse beseitige. Dabei seien die USA nicht einmal unter den wichtigsten sechs Erdbeer-Lieferländern für Deutschland.
Paulus und einige andere EU-Abgeordnete kritisieren, dass neue Studien, die die Anhebung des Grenzwerts für unproblematisch erklären, nur geschwärzt zur Verfügung gestellt würden. Dadurch sollen die Geschäftsgeheimnisse des Antragstellers gehütet werden. „Wenn es um die Gesundheit von Menschen geht, darf das kein Geschäftsgeheimnis sein. Denn mit geschwärzten Studien ist es schwierig nachzuvollziehen, ob das Risiko tatsächlich niedriger ist“, sagt Paulus.
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das an der Zulassung von Pestiziden in Deutschland mitwirkt, merkt an, dass das EU-Genehmigungsverfahren für einen Wirkstoff wie Flutianil sehr komplex sei. Den offenen Fragen wie der nach der hormonellen Wirkung des Stoffes gingen eine Vielzahl von Bewertungsberichten von Expertengremien ausführlich nach.
„Diese Prozesse dauern einige Jahre, das passiert nicht von heute auf morgen“, erklärt die Lebensmittelchemikerin Marina Rusch vom BVL. Auch wenn die abschließende Bewertung der endokrinen Wirkung von Flutianil noch ausstehe, gelte bis dahin, dass eine Erhöhung beantragt werden dürfe, wenn der Wirkstoff in der EU zugelassen ist. „Alles andere wäre gegen das EU-Recht“, so Rusch.
Über die Grenzwertanhebung von Flutianil stimmte am 24. März 2022 das EU-Parlament ab und lehnte den Einwand der Parlamentarier um Paulus knapp ab. Das heißt: Aus den USA importierte Erdbeeren dürfen ab sofort die 30-fache Menge Flutianil enthalten. Ähnliches gilt für Äpfel, Süßkirschen und in geringerer Menge auch für Gurken und Zucchini. Diese Entscheidung bedeutet auch: Sobald es ein entsprechendes Produkt auf dem EU-Markt gibt, gilt dieser höhere Grenzwert auch dafür.
Ist die Anhebung der Werte für Importware also eine Hintertür für neue und mehr Pestizide auf dem Acker? Sicher ist, dass Importgrenzwerte ein kritischer Punkt sind. Nicht nur, weil man in eingeführten Produkten immer wieder Rückstände von Pestiziden nachweisen konnte, die in Europa nicht mehr zugelassen sind oder nie zugelassen waren. Sondern auch, weil diese Werte in Krisenzeiten schnell fallen gelassen werden.
So beschloss die EU-Kommission im März 2022, dass die Mitgliedstaaten eigene, zeitlich befristete Regeln für die Menge an Pestizidrückständen in importierten Pflanzen festlegen können, weil viele EU-Länder angesichts des Ukrainekrieges eine Getreidefutterknappheit für ihren Viehbestand befürchteten. Spanien lockerte daraufhin die Einfuhrnormen für Futtermais aus Brasilien und Argentinien, wodurch unter anderem zwei in der EU verbotene Pestizide die festgelegten Grenzwerte überschreiten, die die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) noch als sicher für die Konsumenten bewertet – und nun dennoch auch auf unseren Tellern landen könnten.
Auf Schnitzeljagd
brand eins, Juni 2022
Wer verdient wie viel an einem Schweineschnitzel?
Und was wäre ein fairer Preis?
Dem Veggie-Boom zum Trotz: Schnitzel, Steaks und Würstchen waren im Jahr 2021 mit 40,5 Milliarden Euro Umsatz im Schlachterei- und Fleischverarbeitungsgewerbe ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland. Die Industrie prägt die Landwirtschaft, beeinflusst die Umwelt und bringt jene 45,5 Kilogramm Fleisch auf den Tisch, die hierzulande trotz sinkender Nachfrage durchschnittlich jeder Mensch pro Jahr verspeist. Das meiste davon ist konventionell produziertes Schweinefleisch.
Obwohl viele Probleme der Branche bekannt sind, kommt das Wesentliche selten auf den Tisch: die wahren Kosten der Schnäppchen-Schnitzel. Wer bestimmt den Preis für ein konventionell produziertes Schweineschnitzel? Und wer hat am Ende welche Kosten?
(…)
Parkraum freischalten
brand eins, Mai 2022
Ein Züricher Start-up will das Parkplatzproblem in überfüllten Städten lösen – indem es ungenutzte Flächen zugänglich macht.
41 Stunden pro jahr – so viel Zeit verbringen Autofahrer in deutschen Städten durchschnittlcih mit der Parkplatzsuche. Das zehrt nicht nur an dern Nerven, sondern kostet auch richitg Geld: laut einer Studie 896 Euro pro Auto im Jahr. Knapp die Hälfte des Innenstadt-Verkehrs besteht aus Parkplatzsuchenden.
Das Problem ist bei Kommunen wie privaten Anbietern bekannt. Deren Lösungsansätze befassen sich aber nur mit frei verfügbaren Parkplätzen. Doch was, wenn man private, aber weitgehend ungenutze Flächen erschließen würde?
(…)
Exklusive Emissionen
Zeit, März 2022
Dienstreisen mit dem Flugzeug schienen durch die Pandemie endgültig überflüssig. Doch das Fliegen mit Privatjets boomt wie nie. Wer fliegt da? Manchmal nur Falken.
Die Privatjets der Reichen und Schönen fliegen vor einem unscheinbaren Flachdachbau ab. "Weg beim Jäger" lautet die Adresse des Hamburger Geschäftsfliegerzentrums, keine Hausnummer. Statt auf der Schnellstraße, die zu den Abflughallen der Linienflüge führt, fährt man auf schmalen Straßen am Rand des Rollfeldes entlang, um zu ihm zu gelangen. Vor der Tür lässt sich beobachten, wie die Reisenden vom Kapitän ihres Fluges in Empfang genommen werden, wie sie hinter dem Eingang den obligatorischen Sicherheitscheck durchlaufen und danach die kleine Wartehalle und den Posten der Bundespolizei passieren. Dunkle Mercedes-Minivans fahren sie zu den wenige hundert Meter entfernt parkenden Privatjets.
Ein Ausflug zum Weg beim Jäger ist ein Besuch in einer Parallelwelt.
(…)
Die großen Unbekannten
Amnesty Journal, Januar 2022
Algorithmen prägen unseren Alltag und bestimmen unseren Blick auf die Welt. Sie können Fortschritt bewirken, aber auch zu Gewalt führen. Nur, wenn wir ihre Wirkung auf unser Leben und die Gesellschaft verstehen lernen, können wir unsere Rechte im digitalen Raum schützen.
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen einen Brief. Das Finanzamt schreibt Ihnen, sie hätten sich Geld vom Staat erschlichen und müssten Zehntausende Euro zurückzahlen. Am Anfang glauben Sie an ein Missverständnis. Sie wissen, dass Sie nichts falsch gemacht haben. Aber niemand glaubt Ihnen. Ihr Lohn wird gepfändet. Sie müssen einen Kredit aufnehmen. Sie fallen in ein tiefes Loch, vernachlässigen den Haushalt und die Erziehung Ihres Kindes. Ihnen wird das Sorgerecht entzogen. Sie sind am Ende. Und das alles, weil ein Algorithmus Sie fälschlicherweise als Sozialbetrüger_in eingestuft hat.
Was wie der Beginn eines Science-Fiction-Dramas klingt, geschah in den Niederlanden: Zwischen 2013 und 2019 wurden dort rund 20.000 Eltern bezichtigt, den Staat um Zuschüsse zur Kinderbetreuung betrogen zu haben. Grund dafür war ein algorithmisches Entscheidungssystem, das Risikoprofile von Antragsteller_innen anlegte.
Dabei wurde schon eine nicht-niederländische Staatsbürgerschaft als Risikofaktor gewertet. Den Beamt_innen, die die Profile sichteten, reichten schon kleinste Ungereimtheiten, um den Betroffenen die Zuschüsse zu streichen und Geld zurückzufordern. Eine algorithmische Entscheidung bewirkte institutionellen Rassismus und sorgte für einen politischen Skandal. In der Folge trat im Januar 2021 die gesamte niederländische Regierung zurück.
Der Vorfall in den Niederlanden ist nur eines von unzähligen Beispielen dafür, wie unser Leben von halb- oder vollautomatisierten Entscheidungen auf Grundlage unserer persönlichen Daten abhängt. Die meiste Zeit über wirken unsere Begegnungen mit algorithmischen Entscheidungen unauffällig: In digitalen Netzwerken bestimmen sie, welche Beiträge wir sehen. Sie entscheiden, welche Ergebnisse Suchmaschinen anzeigen und welche Werbeangebote uns unterbreitet werden.
Dieses „Profiling“, bei dem personenbezogene Daten automatisiert ausgewertet werden, kann dazu beitragen, dass uns genau jene Lampe zum Kauf vorgeschlagen wird, die wir gerade suchen. Aber es kann auch dazu führen, dass wir als kreditunwürdig bewertet werden oder dass wir höhere Versicherungsprämien zahlen müssen oder – wie in den Niederlanden – zu Unrecht beschuldigt werden.
„Astronomische Gewinne“
Beide Seiten – die personalisierte Nutzung digitaler Dienste und die Preisgabe sensibler Daten – sind untrennbar miteinander verbunden. Algorithmische Entscheidungen durchdringen und prägen unseren Alltag, ohne dass wir deren Mechanismen nachvollziehen können. Nur die Firmen und Institutionen, die sie entwickeln und mit ihnen arbeiten, wissen, wie die Entscheidungen getroffen werden, welche Faktoren eine Rolle spielen und welche nicht. Algorithmen sind die großen Unbekannten in unserem Alltag. Und sie können eine Gefahr für unsere Rechte sein.
„Ich bin Facebook beigetreten, weil ich glaubte, dass es das Potenzial hat, das Beste in uns hervorzubringen. Aber ich bin heute hier, weil ich glaube, dass die Produkte von Facebook Kindern schaden, Spaltung schüren und unsere Demokratie schwächen.“ Mit diesen Worten eröffnete Frances Haugen im Oktober 2021 ihre Aussage vor dem US-Senat.
Die frühere Facebook-Managerin war gekommen, um gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber auszusagen. „Das Unternehmen weiß, wie man Facebook und Instagram sicherer machen kann, will aber die notwendigen Änderungen nicht vornehmen, weil es seine astronomischen Gewinne über die Menschen stellt.“ Und das ist gefährlich, weil Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter eine enorme Informationsmacht haben.
Die jüngsten Veröffentlichungen über Facebook zeichnen das Bild eines Unternehmens, das um jeden Preis die Nutzer_innen auf seinen Plattformen halten will – und dafür die Sicherheit ganzer Gesellschaften aufs Spiel setzt. In Myanmar hatten Analysen bereits 2018 gezeigt, dass Hassreden und Falschinformationen auf Facebook mit Angriffen auf Angehörige der Rohingya einhergingen: Die Inhalte der Plattform führten zu Gewalt in der realen Welt, Zehntausende Menschen starben bei der gewaltsamen Vertreibung, 750.000 verloren ihre Heimat.
Auch in Sri Lanka und Indien verbreiteten sich in den vergangenen Jahren gewaltverherrlichende und hasserfüllte Inhalte wie Lauffeuer. In Äthiopien, wo ein bewaffneter Konflikt zwischen der Zentralregierung und der Tigray People's Liberation Front ausgebrochen ist, führten Falschmeldungen und Hassreden zu ethnischer Gewalt mit vielen Toten.
Die Whistleblowerin Haugen bestätigte in ihrer Aussage vor dem US-Senat und zuletzt auch vor dem EU-Parlament, dass Facebook weiß, dass seine Darstellung von Inhalten gefährlich ist. Zwar versuche das Netzwerk, problematische Inhalte von der Plattform zu entfernen. Doch ohne durchschlagenden Erfolg, wie Haugen erklärte: „Die Algorithmen sind nicht effektiv und filtern maximal zehn Prozent der problematischen Beiträge heraus.“
Zudem flössen 87 Prozent des Budgets, das Facebook für die Klassifizierung von Fehlinformationen aufwende, in den Schutz des US-Marktes, während nur 13 Prozent für den Rest der Welt vorgesehen sind. Und das, obwohl die nordamerikanischen Nutzer_innen nur zehn Prozent der täglich aktiven Nutzer_innen des Online-Netzwerks ausmachten.
„Eine aggressive, hasserfüllte, kontroverse politische Kampagne ist fünf- bis zehnmal billiger als eine, die mit Empathie und Mitgefühl zu tun hat“, sagte Frances Haugen vor dem EU-Parlament. Das führe dazu, dass die Plattform Verständnis und Entgegenkommen untergrabe und damit die Grundlage der Demokratie angreife.
Facebook weist die Vorwürfe zurück. Der Konzern benannte sich kurz darauf in „Meta“ um und stellte mit dem „Metaverse“ eine Plattform für virtuelle Realität vor, auf der Nutzer_innen als Avatare interagieren können. Man könnte auch sagen: Statt Aufklärung bietet Facebook eine alternative Wirklichkeit an.
Selbstlernende Algorithmen
Natürlich erzeugen digitale Plattformen und ihre Algorithmen nicht nur Diskriminierung, Hass und Gewalt. In der Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) steckt auch ein großer Nutzen für die Menschheit. Unter diesem nicht trennscharfen Begriff werden allgemein Profiling, automatisierte Entscheidungen und Technologien des Maschinellen Lernens zusammengefasst – Anwendungen also, bei denen Maschinen komplexe Kombinationsleistungen erbringen.
Selbstlernende Algorithmen lassen PKWs automatisiert fahren oder übersetzen Texte in Sekundenschnelle. Man kann mit ihnen Bilder und Videos aus Kriegsgebieten auswerten und Rechtsverstöße dokumentieren; Software hilft Mediziner_innen bei der Verschreibung des passenden Antibiotikums oder berät Landwirt_innen, bei der Auswahl des Saatguts oder des optimalen Erntezeitpunktes.
Während der Covid-Pandemie helfen weltweit Kontaktverfolgungs-systeme bei der Eindämmung der Gesundheitskrise, indem sie aus unterschiedlichen Daten digitale Netze erzeugen, die potenzielle Infektionen erkennen und die Gesundheitssysteme vor Überlastung schützten. So hilfreich diese Systeme sind, sie zeigen auch, warum diese Techniken, wenn überhaupt, nur unter strengen Auflagen eingesetzt werden sollten. Denn sie greifen in unser Recht auf Privatsphäre, Gesundheit, Bildung, Freizügigkeit, Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit ein.
„Im besten Fall wird die digitale Revolution die Menschen befähigen, verbinden, informieren und Leben retten. Im schlimmsten Fall wird sie entmachten, trennen, fehlinformieren und Leben kosten“, sagte Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, bei der Vorstellung ihres Berichts über Risiken der Künstlichen Intelligenz im September 2021. Angesichts des schnellen und kontinuierlichen Wachstums der KI-Anwendungen sei es eine drängende Menschen-rechtsfrage, die immense Lücke in der Rechenschaftspflicht darüber, wie Daten gesammelt, gespeichert, geteilt und verwendet werden, zu schließen, erklärte Bachelet. Das Risiko der Diskriminierung im Zusammenhang mit KI-Entscheidungen sei sehr real. Sie forderte ein Moratorium für den Einsatz besonders risikoreicher KI-Anwendungen.
Digital Service und Digital Market Act
Die Frage ist, wie das konkret aussehen könnte. Den meisten Nutzer_innen ist klar, dass der Reichtum und die Macht von Konzernen wie Facebook und Google auf ihren persönlichen Daten basiert. Empörung gab es viel, aber kaum praktikable Gegenvorschläge. Doch nun kommt Bewegung in die festgefahrene Situation.
Im Dezember 2020 stellte die EU-Kommission ein Maßnahmenpaket vor, das den rechtlichen Rahmen für Online-Plattformen und den Umgang mit Digitalkonzernen regeln sollte, den Digital Service Act und den Digital Market Act. Bei der Vorstellung verglich die zuständige Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager das Vorhaben mit dem Aufstellen der ersten Ampel: Mit zunehmendem „Verkehr“ im digitalen Raum müsse die Politik nun Ordnung ins Chaos bringen.
Zum einen sollen Plattformen wie Facebook illegale Inhalte schneller löschen, den Nutzer_innen die Möglichkeit für rechtlichen Einspruch geben, Werbung unmissverständlich kennzeichnen sowie die Funktion ihrer Algorithmen verständlich machen. Zum anderen soll die Vor-machtstellung der Monopolisten Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft fallen: Vorinstallierte Anwendungen und Programme sollen verboten werden, die eigenen Dienste bei Suchabfragen nicht mehr bevorzugt präsentiert und Daten aus verschiedenen Portalen eines Anbieters nicht ohne Zustimmung der Nutzer_innen zusammen-geführt werden dürfen.
So ambitioniert das Vorhaben ist, so wenig greifbar ist die Umsetzung bisher: Was genau sollen die Konzerne offenlegen müssen? Welche Behörden kontrollieren die Regeln? Und schließlich: Was ändert es, wenn die Nutzer_innen zwar die Algorithmen der Plattformen kennen, es aber keine vergleichbaren Alternativen gibt, die ihre Rechte besser schützen? Hören wir tatsächlich auf zu „googeln“, wenn der Konzern sein Geschäftsgebaren offenlegt oder wird das nur ein weiteres Kästchen sein, das wir in Zukunft mit schlechtem Gewissen vor der Nutzung wegklicken?
Viele Leerstellen
Im April 2021 schlug die EU-Kommission darüber hinaus den Artifical Intelligence Act (AIA) vor, der schädliche Folgen automatisierter Entscheidungsalgorithmen verhindern soll. Danach sollen KI-Anwendungen nach den von ihnen ausgehenden Risiken klassifiziert und entsprechend stärker überwacht und reguliert werden. Doch auch dieser Vorstoß habe viele legale Leerstellen, erklärt Merel Koning vom Tech Programm von Amnesty International: „Es ist gut, dass die EU diese Rolle einnimmt. Wir brauchen dringend Regulierungen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz“, sagt die Anwältin. „Doch leider sind die vorgeschlagenen Regeln nicht annähernd da, wo sie sein sollten – es fehlt ihnen an Menschenrechtsgarantien.“
Auch der AIA-Vorschlag krankt daran, dass nicht klar ist, wer die Umsetzung überwacht und beaufsichtigt. KI-Systeme, die als besonders risikoträchtig klassifiziert werden, sollen zwar „hinreichend transparent“ entwickelt werden; was als transparent gilt, bleibt aber schwammig. Auch können Designer_innen, Entwickler_innen und Nutzer_innen von KI-Systemen weiterhin nicht für ihre Produkte zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem enthält der Vorschlag kein Verbot des Einsatzes von selbstlernenden Algorithmen im öffentlichen Sektor.
Besonders für die „präventive Verbrechensbekämpfung“ – wenn die Polizei auf Grundlage von Daten die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der Menschen die nächsten Straftäter_innen oder ein Ort der nächste Tatort ist – sind in dem Vorschlag großzügige Ausnahmen vermerkt, wie Koning kritisiert.
Ihrer Meinung nach sollten diese staatliche KI-Anwendungen strenger reguliert werden. „Die Programme, die in den Niederlanden und ganz Europa zur präventiven Verbrechensbekämpfung laufen, sind beängstigend. Sie werden sehr schnell eingeführt, es gibt keine Sicherheitsvorkehrungen und keine Regeln, wie mit den erstellten Profilen umgegangen werden soll“, sagt Koning. „Dabei ist doch eine der wichtigsten Säulen unserer freien Gesellschaft, dass man nicht unschuldig verurteilt wird.“
Was derzeit in Brüssel diskutiert wird, ist eine Chance – darauf, dass unsere Rechte in Zukunft nicht noch weiter von intransparenten technischen Anwendungen beschnitten werden. Doch um sie nutzen zu können, müssen die Bürger_innen begreifen, was auf dem Spiel steht. Nur wer sich die Einschränkungen bewusst macht, wird dagegen seine Stimme erheben und die politisch Verantwortlichen zum Handeln bewegen können.
Grand ReporTERRE#4: Deadline
Essay/Performance
euro-scene Leipzig, Staatstheater Stuttgart, Théâtre Point du Jour Lyon, November 2021
„Die Frage danach, wie wir Energie nutzen, ohne die Lebensgrundlage der kommenden Generationen zu zerstören, ist eine existenzielle Frage, die an den Grundfesten unseres Glaubens an Wohlstand und Fortschritt, an Gerechtigkeit und Zukunft rüttelt. Dieses Rütteln, das Beben des Umbruchs, beginnt jetzt. Und es beginnt mitten unter uns. Wir folgen seinen Spuren nach Leipzig, Lyon und Stuttgart.”
Gemeinsam mit der Journalistin Julia Lauter, denken das Théâtre du Point du Jour und das Citizen.KANE.Kollektiv die Entwicklung dreier Industrien zu Ende, die aufgrund der Klimakrise im Fokus der Kritik stehen. Was bedeutet der Ausstieg aus Kohle- und Atomkraft und die Umrüstung der Automobilindustrie für die Welt – und was bringt der Wandel für die Menschen in Leipzig, Lyon und Stuttgart mit sich?
Auf der Bühne zu sehen sind Interviews mit Arbeiter:innen, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Politiker:innen sowie der größte Held der menschlichen Kulturgeschichte: Prometheus.
„Müll ist eine menschliche Erfindung"
fluter, Oktober 2021
Was, wenn Waschmaschinen oder Autos so gestaltet wären, dass man sie ohne Probleme wieder auseinandernehmen könnte? Gespräch über eine Vision
Herr Braungart, was ist Müll?
Müll ist eine menschliche Erfindung. Wir sind die einzigen Lebewesen, die die Umwelt mit Dingen belasten, die für andere Lebewesen nachteilig sind. Was Pflanzen und Tiere hervorbringen, ist immer irgendwo, an irgendeiner anderen Stelle nützlich. Darum sind wir Menschen auch dümmer als alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten.
Die meisten Menschen fordern weniger Müll, Sie dagegen fordern, dass es gar keinen Müll mehr gibt. Wie soll das gehen?
Die Idee der Müllvermeidung ist schon das Problem. Denn dabei denken Sie ja immer noch an Müll. Ich denke dagegen ausschließlich an Nährstoffe. Alles, was uns umgibt, ist Nährstoff, für die Biosphäre oder die Technosphäre. Alles, was verschleißt – Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen –, sollten wir so gestalten, dass es nicht nur nicht giftig, sondern auch noch nützlich ist. Hinter der Forderung nach Müllvermeidung steckt ein grundlegend falsches Verständnis von Umweltschutz. Wir schützen die Umwelt nicht, wenn wir sie ein bisschen weniger zerstören oder ein bisschen weniger Müll machen. Es geht darum, alles neu zu denken. Der Abfall ist die Abweichung vom Normalen.
Wie sieht das neue System aus, das Sie etablieren wollen?
Die Idee von „Cradle to Cradle“ ist, die Menschen als Chance für diesen Planeten zu beschreiben und nicht als Belastung. Es geht nicht darum, den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sondern einen möglichst großen Fußabdruck zu haben – der aber ein Feuchtgebiet ist. Das bedeutet, dass alles, was wir verwenden, nach dem Verschleiß als biologische oder technische Nährstoffe genutzt werden sollte. Und das funktioniert zum Beispiel so: Statt einer Waschmaschine verkauft der Hersteller nur die Dienstleistung „3000 mal waschen“, statt eines Fensters mit Aluminiumrahmen nur „10 Jahre durchgucken“. Wenn man das macht, kann das Unternehmen für die Herstellung das qualitativ beste Material verwenden, weil man weiß, dass das Material in zehn Jahren zurückkommt. Statt 40 billiger Kunststoffe, die man später nur noch zu Parkbänken „downcyceln“ kann, können die Hersteller drei gute Kunststoffe verwenden, die praktisch endlos wieder eingesetzt werden können.
Bisher ist es ja so: Ich kaufe ein Fenster mit Aluminiumrahmen, und was später mit dem Metall passiert, ist dem Hersteller egal. Was ist der Anreiz für ein Unternehmen, es anders zu machen?
Das ist ganz einfach: Stoffe wie Aluminium sind sehr viel wert. Und der Wert steigt immer weiter, weil die energie intensive Herstellung durch die CO2-Bepreisung immer teurer wird. Bei anderen Materialien ist die Seltenheit ein Faktor: Wenn ich zum Beispiel Indium in einem Gerät verbaue, muss ich wissen: Das hat die Menschheit vielleicht noch für zehn Jahre zur Verfügung. Wie kann ich so blöd sein, das zu verkaufen, wenn ich es als Hersteller doch dringend brauche. Die Lösung ist: Ich leihe das Indium an den Konsumenten nur aus. Das Motiv für ein Umdenken ist also rein wirtschaftlich.
Und warum handelt dann derzeit kaum ein Unternehmen nach diesem Ansatz?
Die Generation von Menschen, die jetzt Entscheidungen treffen, hat das Eigentum lange angebetet wie einen Gott. Junge Leute wollen dagegen nur Dienstleistungen, die wollen das ganze Zeug nicht am Hals haben. Doch die Marktwirtschaft kommt dem noch nicht nach, weil die alten Leute noch immer so fixiert sind auf Eigentum, auf das „Habenmüssen“.
Sollte man Hersteller also einfach verpflichten, ihren Müll zurückzunehmen?
Nein, denn in meiner Vorstellung bleibt der Hersteller die ganze Zeit Eigentümer, und ich kaufe nur die Nutzungsdauer. Wenn ein Unternehmen etwas herstellt, das nicht verbrennbar oder kompostierbar ist und nicht in der Umwelt landen darf, dann bleibt das Produkt das Eigentum des Unternehmens. Und wenn ich irgendwo etwas davon finde, kann ich den Hersteller wegen der Vermüllung und der chemischen Belästigung verklagen.
Aber wenn in Tieren gefährliche Chemikalien gefunden werden, weiß ja niemand, wer der Verursacher ist.
In diesem Fall teile ich den Konzernen Quoten zu und sage: So viel habt ihr in Umlauf gebracht, das ist euer Problem, bezahlt dafür.
Derzeit stehen wir ja real vor riesigen Müllbergen in der Welt. Wie kann Ihr Konzept da helfen?
Die Reihenfolge der Aufgaben ist doch klar: Bei einer Flutkatastrophe muss man auch erst die Flut stoppen, bevor man mit den Aufräumarbeiten beginnt. Darum müssen wir auch die Müllproduktion erst stoppen und dann aufräumen. Wir haben zum Beispiel eine studentische Firma gegründet, die eine Maske entwickelt hat, die perfekt biologisch abbaubar ist. Wenn die in die Meere gelangt, ist das kein Problem, im Gegensatz zu den jetzigen medizinischen Masken, von denen mittlerweile über 2,5 Milliarden in den Weltmeeren herum schwimmen und sich dort 300 Jahre lang halten. Natürlich muss ich mich fragen, wie ich dieses Plastik wieder aus den Meeren rausbekomme – aber davor steht doch die Aufgabe, den weiteren Zustrom zu stoppen.
Müll entsteht nicht nur bei der Herstellung von komplexen Produkten, sondern fällt bei jedem Supermarkteinkauf massenweise an. Wie lässt sich dieser Abfall Ihrer Meinung nach vermeiden?
Ich habe in Hamburg den Müll untersucht, und 20 Prozent des Restmülls waren Windeln. Ein Baby braucht 3.000 Ein wegwindeln – statt eines Müllberges kann daraus aber auch ein Wald entstehen. Biologisch abbaubare „Cradle to Cradle“ Windeln enthalten zellulosebasierte Superabsorber, von denen ein Gramm über einen Liter Wasser speichert. Mit dem Windelverbrauch eines Babys kann man 250 Bäume in regen armen Gebieten pflanzen – und das Baby wirkt mit seinem „Abfall“ klimapositiv. Da, wo so eine produktive Zweitnutzung nicht möglich ist, muss man für Verpackungen Hightech materialien verwenden. Wenn auf alle Verpackungen, auch die von Salzstangen und Chips, ein Pfand erhoben würde, würden die Verpackungen zurück in den Laden und zu den Herstellern kommen – und könnten dann praktisch endlos wieder eingesetzt werden.
Echtes Recycling ist oft deshalb nicht möglich, weil zu viele verschiedene Materialien verbunden werden, die am Ende nicht mehr sauber getrennt werden können.
Geht es bei „Cradle to Cradle“ also einfach um schlichteres Design?
In den meisten Verpackungen sind fünf bis sieben verschiedene Kunststoffe zusammengefasst. Da ist wenig mit Recycling, darum landet das Zeug dann in Bergwerken oder in Vietnam – dort läuft man meterhoch durch deutsche Verpackungsabfälle. Das ist Kolonialismus pur. Was wir stattdessen brauchen, sind Verpackungen, die nur aus einem Material bestehen und auf die ein Pfand erhoben wird. Derzeit wird überall das billigste Material eingesetzt, und dadurch wird es für die Gesellschaft viel, viel teurer. Die Gewinne bleiben bei den Unternehmen, die Risiken werden vergesellschaftet.
Stößt die Suche nach „müllarmen“ Produktdesigns in Deutschland auf besonderes Interesse?
Es gibt viele Kulturen, in denen eher in Kreisläufen gedacht wird. In Deutschland dagegen betrachten wir nie Kreisläufe, sondern denken immer nur linear. Ich nutze Deutschland eher als abschreckendes Beispiel, denn die Leute denken hier, sie machen Umweltschutz, wenn sie Verbrennungsanlagen bauen. Das Böse, der Müll, soll mit Feuer ausgelöscht werden. Und dann wird die Energie aus der Müllverbrennung noch als erneuerbare Energie ausgegeben – und wir werden für unsere Müllvernichtungsfähigkeit auf der ganzen Welt bewundert.
Ein bisschen scheint es so, als würden Sie mit dem „Cradle to Cradle“-Prinzip eine Art Perpetuum mobile für das konsumistische Zeitalter versprechen. Wir dürfen alle weitershoppen, nur ohne die zerstörerischen Auswirkungen. Das klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.
In der jetzigen Umweltdiskussion heißt es oft: „Du musst vermeiden, sparen, verzichten.“ Wenn man aber den Leuten sagt, dass sie etwas nicht haben können, dann wollen sie es erst recht haben – und denken sich: „Bevor es mir jemand verbietet, schaff ich es mir noch selber an.“ Man erreicht also genau das Gegenteil. Ich glaube, wir brauchen eine Kultur der Großzügigkeit, die zur Bescheidenheit führt – das ist zwar ein Paradox, aber so funktioniert der Mensch nun mal.
Michael Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und an der Leuphana Universität Lüneburg. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts. Er gilt als Miterfinder des „Cradle to Cradle“-Prinzips, das eine müllfreie Kreislaufwirtschaft zum Ziel hat.
Saubere Sache
brand eins, Juni 2021
Ein Hamburger Start-up bietet Kosmetikprodukte in Glasflaschen an, die einfach am Pfandautomaten zurückgegeben werden können.
Wer im Supermarkt nach Seife sucht, sieht eine Flut von bunten Einweg-Plastikflaschen. Verpackungen wie diese machen weit über die Hälfte Plastikabfälle durch Endverbraucher in Deutschland aus. Meist landen die bunte Tiegel und Döschen nach einmaligem Gebrauch im Müll, nur ein kleiner Teil kann sortenrein wiederverwertet werden. Und das Problem mit den Bergen von nicht-recycelten Kunststoffabfällen in Deutschland und auf der ganzen Welt ist hinlänglich bekannt: Jedes Jahr gelangen 5 bis 13 Millionen Tonnen Plastikmüll in die Weltmeere.
Dabei liegt eine Lösung für das Einweg-Problem nur wenige Regalmeter entfernt: in der Getränkeabteilung, wo es von Mehrwegflaschen nur so wimmelt. Warum verkauft man nicht auch Seife, Spülmittel und Co. in Pfandgläsern? Diese einfache Frage stellte sich der Mathematiker Lars Buck im Sommer 2019 unter der Dusche – er nennt es seinen „Heureka-Moment“.
Dabei ist der 45-Jährige weder ein ausgesprochener Kosmetik-Fan noch ein Plastik-Hasser. Was ihn umtreibt, sind Fragen der Nachhaltigkeit und die Liebe zu durchdachten Systemen. Lars Buck arbeitet seit 20 Jahren als Unternehmensberater, ist Gründer und Geschäftsführer der Hamburger Beratungsfirma „Nord Nord“ – und seit seiner Erweckung unter der Dusche nun auch Mehrweg-Visionär.
„Das bestehende Mehrwegsystem auf Kosmetikprodukte auszuweiten, klingt einfach und bestechend. Ich habe mich gefragt: warum macht das bisher keiner?“, sagt Buck. Zwar gab es vereinzelt kleine Bio-Hersteller, die Kosmetik in Gläsern lieferten, doch ihnen fehlte eine schlüssige Rückgabemöglichkeit – kein Konzept für den Massenmarkt, fand Buck und begann, Gespräche mit Mehrweg-Experten zu führen, mit Pfandautomatenhersteller, mit dem Handel. Und merkte, dass die einfache Idee gar nicht so leicht umzusetzen ist.
„Die Rückmeldung war eindeutig: Es ist möglich, aber ein Riesen-Aufriss“, sagt er. Für ein funktionierendes Mehrweg-System braucht es eine ausgeklügelte Logistik, die die benutzen Flaschen von den Pfandautomaten zur Spülstraße, zur Abfüllanlage und erneut in den Handel bringt. Buck ließ sich davon nicht abschrecken und investierte einen mittleren fünfstelligen Betrag aus eigener Tasche, um einen Prototyp zu entwerfen. Um zu beweisen, dass das Mehrweg-Konzept auch praktisch umsetzbar ist, wagte Buck rasch den nächsten großen Schritt und gründete das Start-Up Sea Me, das Handseife und Desinfektionsmittel in schlichten Viertelliterflaschen mit dickem Boden verkauft, die eher nach edlem Gin als schnöder Hygiene aussehen. Das Besondere daran: Nach dem Gebrauch können die Behälter dort, wo sie gekauft wurden, an handelsüblichen Pfandautomaten oder an der Kasse zurückgegeben werden.
Seine Produkte sollen beweisen, dass das bestehende Mehrwegkonzept auf Non-Food-Produkte übertragbar ist. „Wir wollen mit unseren Seifen nicht nur weitere Kosmetik auf den Markt bringen, sondern damit einen neuen Standard etablieren“, sagt Buck. Sein Vorbild: die 0,33-Liter-Long-Neck-Flasche, auf deren Form sich viele Getränkehersteller geeinigten haben. Nach Bucks Vorstellung soll die Sea-Me-Flasche diesen Standard für den Kosmetikbereich setzen.
Wagniskapitalgeber konnte er für die Idee von der Seife im Glas nicht erwärmen. Buck fand stattdessen über private Kontakte einen Investor und bekam einen Kredit von der GLS Bank. So konnte er im Oktober 2020 die ersten Mitarbeiter einstellen, heute arbeiten neun Menschen in der Firma.
Im September 2020 zeichnete der Arbeitskreis Mehrweg, ein Verband großer Getränkehersteller und Umweltschutzorganisationen, seine Flasche als erste Non-Food-Verpackung mit dem Siegel „Mehrweg für die Umwelt“ aus. Seit Anfang 2021 sind die ersten Produkte des Start-Ups im Rahmen eines Pilotprojektes in Drogeriemärkten in Hamburg und Supermärkten in Baden-Württemberg erhältlich. „Wir haben überdurchschnittliche Verkaufszahlen im Vergleich zu anderen Handseifen – und das obwohl wir mit 5,49 Euro plus 50 Cent Pfand eher teuer sind“, sagt Buck.
Sein Vorstoß scheint den Zeitgeist zu treffen: In einer Umfrage des Branchennetzwerk Deutsches Verpackungsinstitut (DVI) Anfang des Jahres sind gut 40 Prozent der Befragten auch bei Körperpflegeprodukten für ein Pfandsystem. „Damit die Ökobilanz stimmt, ist es allerdings entscheidend, wie weit die Transportwege zwischen den einzelnen Stationen der Flaschen sind“, sagt Kim Cheng, Geschäftsführerin beim DVI. Denn Mehrweg ist nicht automatisch ökologisch, so wie Plastik nicht nur schlecht sein muss. Die Rechnung ist komplizierter. Bei Sea Me pendeln die Produkte zwischen der Glashütte in Bayern, der Befüllung in Hessen und Hamburg und der Spülstraße in Hannover – und jeder Kilometer kratzt an der Nachhaltigkeit des Vorhabens. „Am besten funktioniert die Kreislauf-Idee, wenn viele mitmachen.Vielversprechend für das Mehrweg-Unterfangen wäre also, wenn auch andere Hersteller die Sea-Me-Flasche für ihre Produkte nutzen“, sagt Cheng.
Bisher stehen die Zeichen für das kleine Unternehmen gut: Noch in diesem Jahr sollen weitere Produkte auf den Markt kommen, im Herbst wird das Sortiment etwa um einen Badezusatz ergänzt. Bis dahin, so das Ziel des Gründers, soll das Unternehmen 30.000 Euro monatlich umsetzen und bis 2023 schwarze Zahlen schreiben. „Ich bin von dem System überzeugt – und jetzt will ich die großen Player ebenfalls davon überzeugen“, sagt Buck. Seine große Vision ist die eines Dienstleister, der keine eigenen Inhalte verkauft, sondern andere Non-Food-Hersteller in der Umsetzung seines Pfandsystems berät. Dass er dafür zum Seifenverkäufer werden würde, hätte sich Buck dereinst unter der Dusche wohl nicht träumen lassen.
Angst
fluter, Juli 2021
Die Kriminalität in Deutschland ist auf dem niedrigsten Stand seit 1993. Und dennoch fühlen sich viele Menschen in Deutschland nicht sicherer. Woran liegt das?
Angst ist eine komplexe Schöpfung des Geistes. Bis das Gefühl in uns aufkommt, hat das Gehirn bereits Bilder, Gerüche und Geräusche wahrgenommen, interpretiert und mit Erinnerungen an Gefahren abgeglichen. Erst, wenn unser Angstzentrum, die Amygdala, das „Go“ gibt, manifestiert sich die Furcht: unser Herzschlag wird schneller, die Muskeln angespannt, die Atmung beschleunigt, die Konzentration hochgefahren. Es dauert eine fünftel Sekunde bis ein Mensch flucht- und kampfbereit ist.
Gefahren zu bewerten – und so das Fürchten zu lernen – ist eine der mächtigsten Funktionen des Gehirns, schreibt der Neurowissenschaftler und Angst-Forscher Joseph LeDoux. Aber sie habe einen hohen Preis: Weil Menschen sich Ängste ausmalen, Gefahren empfinden, wo keine sind und die so geweckte Furcht nicht kontrollieren können. „Wir haben mehr Ängste, als nötig wäre“, so LeDoux.
Und Angst ist eine politisch relevante Größen. Doch das Gefühl zu messen ist schwer. Eine Möglichkeit der Annäherung sind die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die jährlich erhoben werden. Sie zeigen, wie viele Straftaten in Deutschland im vergangenen Jahr begangen wurden und wie wahrscheinlich es ist, Opfer eines Verbrechens zu werden. Nüchtern betrachtet gibt diese Statistik seit Jahren Anlass zur Beruhigung: 2020 wurden 2,3 Prozent weniger Straftaten als im Jahr zuvor registriert. Die Kriminalität in Deutschland ist auf dem niedrigsten Stand seit 1993 – bei einer wachsenden Bevölkerung. Und die Aufklärungsquote steigt.
Doch Gefühle halten sich nicht an Statistiken. Obwohl viele Delikte wie Gewaltverbrechen, Wohnungseinbrüche oder Diebstähle seit Jahren rückläufig sind, scheint das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung leicht abzunehmen. Das zeigen Untersuchungen die jene Kriminalität in den Blick nimmt, die nie zur Anzeige kommt: das sogenannte Dunkelfeld. Dunkelfeldstudien befragen zufällig ausgewählte Personen danach, ob sie im vorigen Jahr Opfer einer Straftat wurden – und versuchen damit die offizielle Kriminalitätstatistik „aufzuhellen“. Gleichzeitig wird in diesen Befragungen auch das subjektive Sicherheitsempfinden untersucht: „Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie tagsüber alleine in ihrem Wohngebiet spazierengehen?“ Mit Standard-Fragen wie dieser tasten die Interviewer die Ränder der Angst ab.
Die letzte bundesweiten Befragung dieser Art hatte das Bundeskriminalamt (BKA) zwischen Juli 2017 und Januar 2018 durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die gefühlte Unsicherheit seit der vorhergehenden Befragung fünf Jahre zuvor in fast allen Bundesländern leicht zugenommen hatte. Am meisten Angst hatten die Menschen in Sachsen-Anhalt (30 Prozent), doch auch in Sachsen und Berlin fürchteten sich auffallend viele Menschen vor Straftaten (28 Prozent). In Ostdeutschland fühlt sich etwa jeder Vierte unsicher in seinem Wohngebiet, in Westdeutschland jeder Fünfte.
Woher die Unsicherheit rührt, dazu gibt die Untersuchung streng genommen keine Auskunft. Doch es gibt Erklärungshypothesen, wie der Studienleiter Christoph Birkel erläutert: „Der öffentliche Diskurs über den Zuzug von Flüchtlingen 2015 könnte einen Einfluß auf das Sicherheitsempfinden gehabt haben, ebenso wie die Berichterstattung über gewaltätige Übergriffe in der Silversternacht 2015 in Köln“, sagt Dunkelfeldforscher Birkel. In der Folge habe es in den Medien einen starken Fokus auf von Migranten verübte Straftaten gegeben, erklärt der BKA-Fachbereichsleiter. Dass das die Unsicherheit verstärkt haben könnte, sei nicht belegt, aber plausibel, so Birkel.
Der Schluss liegt nahe, dass bestimmte Medienberichte die Angst anheizen. Nicht nur, indem sie über Einzelfälle besonders intensiv berichten. Sondern auch in der Art, wie Kriminalstatistiken wiedergegeben werden. Im März titelte etwa die Tageszeitung „Die Welt“: „Zahl der Verurteilungen von Ausländern steigt um 51 Prozent“. Was wie eine exklusive Enthüllung klingt, ist öffentlich in der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts nachzulesen. Und das ist nur eines von vielen Problemen mit dieser Zahl: Der Vergleichszeitraum (2010 bis 2019) ist bewusst so gewählt, dass er den dramatischsten Zuwachs zeigt. Egal ob man die Betrachtung früher (2005) oder später (2015) beginnt, die Zahl wäre weniger spektakulär. Und bei den verzeichneten Straftaten handelt es sich nicht selten um Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, die nur Ausländer begehen können. Auch ist die Zahl der als Ausländer gezählten Menschen im Betrachtungszeitraum um mindestens 40 Prozent gestiegen. „Zugespitzt gesagt: Nichts deutet darauf hin, dass Ausländer in Deutschland krimineller sind als früher. Es gibt nur viel mehr Ausländer in Deutschland als früher“, folgert der Medienblog „Übermedien“. Für den Welt-Artikel stand offensichtlich eine Kleine Anfrage der AfD Pate, deren Framing übernommen wurde. Für die in Teilen rechtsextreme Partei ist diese Schlagzeile ein Erfolg. Und für Zeitungen mit sinkender Auflage ist das Geschäft mit der Angst verlockend.
Dennoch mahnt die Juristin Rita Haverkamp davor, den traditionellen Medien eine zu große Rolle im Diskurs über Sicherheitswahrnehmung einzuräumen: „Wichtig zu sehen ist, dass Medien eine verstärkende Funktion auf Unsicherheit haben, aber keine Auslöser sind“, erklärt die Professorin für Kriminalprävention an der Universität Tübingen. „Furchtsame Menschen füttern ihre Unsicherheit mit entsprechender Berichterstattung.“ Größere Sorgen bereiten ihr, ebenso wie vielen Kriminalisten, die Echokammern in den sozialen Medien, wo Menschen sich ungefiltert und ohne Faktencheck einem ständigen Zustrom von Geschichten aussetzen, die ausschließlich ihre eigenen Vorannahmen widerspiegeln. Auf Youtube und Co. ist man immer nur einen Klick vom nächsten Beitrag entfernt, der die eigenen Ängste uneingeschränkt bestätigt. Auch das Alter spiele eine wichtige Rolle, so Rita Haverkamp. Wer schlechter sähe und weniger gut zu Fuß sei, fühle sich angreifbarer. „Mich überrascht es nicht, dass in einer Gesellschaft mit dem Altersdurchschnitt von 45 Jahren auch mehr Unsicherheit herrscht.“
Die Kriminalitätsfurcht ist nur eine von vielen Ängsten – aber eben der am einfachsten messbare Wert. Um ihn zu ermitteln begann im Oktober 2020 eine weitere Befragung durch das Bundeskriminalamt. „Die Ergebnissen werden uns zeigen, ob es tatsächlich einen Trend zur Unsicherheit gibt“, erklärt der Kriminalist Christoph Birkel, der auch die neue Studienreihe koordiniert. Der Gefühls-Profi vom BKA sagt, ihm persönlich gebe es Sicherheit, dass er die Aussage von Statistiken richtig erfassen könne: „Ich weiß, wie gering das Risiko tatsächlich ist, Opfer einer Straftat zu werden.“ Das lasse ihn ruhig schlafen. Richtig zitiert und verstanden können Zahlen die Angst auch besiegen.
Alles Gute kommt von unten
fluter, März 2021
Ohne Boden gäbe es weder Pflanzen noch Tiere und Menschen. Doch auch wenn unsere gesamte Zivilisation auf ihm gründet, ist er für die meisten nicht mehr als der Dreck an unseren Schuhen. Zeit für eine Reise zur Erde.
Die Füßen streifen durch raschelndes Laub, über dem Kopf rauscht das Blätterdach, knacken Äste im Wind, rufen die Vögel. Der Wald lebt, klar, aber noch viel belebter ist das Erdreich. Unter unseren Füßen im Wald sind mehr Lebewesen unterwegs, als es Menschen auf der Erde gibt. Billionen von Mikroorganismen, viele nicht mal namentlich bekannt, Milliarden von Pilzen, Millionen Geißeltierchen, Zehntausende Springschwänze und Weißwürmer, hunderte Regenwürmer und dutzende Schnecken, Hundertfüßler, Asseln – ein ganzes Universum in nur einem Kubikmeter Erde. Ohne diese Unterwelt und ihre Bewohner gäbe es keine Pflanzen und Wälder, keine Äcker und Städte. Es gäbe keine Menschen. Ohne Humus (lat. Erde) kein Homo (lat. Mensch).
Die Erde wäre ohne Boden wüst und leer. Zu unserem Glück hat sich ihre oberste dünne Schicht über Jahrmillionen aus nacktem Gestein zu Böden entwickelt. Unterschiedlichste Formen der Verwitterung haben das Gestein zerkleinert, darauf siedelten vor etwa 475 Millionen Jahren die ersten Pflanzen, die aus den Meeren und Flüssen an Land drängten. Sie lösten mit ihren Wurzeln die harte Schale unseres Planeten weiter auf, wuchsen und vergingen. Ihre Überreste reicherten den Boden an, auf dem wieder Pflanzen sprossen – so entstand in unermesslichen Zeiträumen der Boden, auf dem wir heute stehen. Zwei Meter dick ist er weltweit durchschnittlich. Ein Apfel müsste einen Durchmesser von 8,5 Kilometern haben, damit seine dünne Schale der Bodenschicht der Erde entspräche.
Unser Planet ist der einzige im Sonnensystem, auf dem es diese Art von Boden gibt. Und Äpfel. Im Wald ist diese vor Urzeiten begründete Einheit von Boden und Pflanzen greifbar: Zuoberst liegt das Laub des vergangenen Herbstes, verwelkte und faulig braune Blätter, Krabbler wie der Hundertfüßler, die Asseln oder der Kugelspringer fressen sich durch die Streu und erledigen den ersten Teil der Kompostierung.
Schiebt man die Streu beiseite, finden sich braune Krümel – das Ergebnis einiger Jahre „Bodenarbeit“. Greift man in den lockeren dunklen Humus, hat man schnell einige Jahrzehnte in der Hand. Zentimeter um Zentimeter finden sich weniger Tiere und mehr mineralische Substanzen, bis man schließlich auf festen Untergrund stößt.
Der Boden unter unseren Füßen wächst. Auf der ganzen Welt unterschiedlich schnell, aber grob überschlagen sind es rund zehn Zentimeter in 2.000 Jahren – 80 Generationen, bis eine Handbreit Boden nachwächst. Die Äcker, von denen wir hierzulande unser Gemüse einfahren, sind etwa 10.000 Jahre alt und entstanden, als am Ende der vorigen Eiszeit die Gletscher aus Mitteleuropa verschwanden.
Das gleichförmige Wiederkehren von Entstehen und Vergehen, der Rhythmus des Bodens, ist in menschlichen Zeiträumen kaum zu erfassen, so langsam geschehen die Prozesse unter der Erde. Eine Ahnung von deren Bedeutsamkeit hatten wohl schon unsere Vorfahren. Archäologen entdecken immer wieder Darstellungen von „Erdgöttinnen“, mit denen Menschen der Altsteinzeit möglicherweise dem Boden und seiner Fruchtbarkeit gehuldigt haben. Zu den bekanntesten Funden Europas zählen die sogenannten Venusfigurinen, handgroße, ausladend geformte Gestalten aus Stein, Ton oder auch Elfenbein – entstanden vor ungefähr 29.500 Jahren, als die Menschen in Europa dem Beginn der Eiszeit machtlos und hungernd entgegensahen.
Dass es ohne gesunden Boden kein Essen gibt, gilt heute wie damals. Denn auch wenn sich mittlerweile Pflanzen in Nährlösungen züchten lassen, ist das bisher noch zu teuer und energieintensiv, um damit die Menschheit mit Nahrung zu versorgen. Rund 90 Prozent unserer Nahrungsmittel werden mit Boden erzeugt, für fünf Kilogramm Obst wird eine Fläche von dreieinhalb Quadratmetern benötigt, für die gleiche Menge Rindfleisch benötigt man 44-mal so viel Fläche. Um genügend Weizen, Yams und Linsen für die bald acht Milliarden Menschen auf dem Planeten zu produzieren, braucht es keine Gewächshäuser, sondern Felder. Die Menschen des 21. Jahrhunderts sind auf Humus angewiesen – genau wie einst die Steinzeitmenschen.
Mehr noch: Heute wissen wir, dass Böden uns nicht nur ernähren, sondern auch Regenwasser filtern und so neues, sauberes Trinkwasser schaffen. Gesunde Erde speichert Wasser und verhindert Überschwemmungen. Sie reguliert das Klima, kann Hitze und Kälte abpuffern. Und Böden speichern mehr Kohlenstoff als alle Wälder der Welt zusammen – mit großen Auswirkungen auf die Atmosphäre und die Erwärmung der Erde.
Die größte Gefahr für das Bodenuniversum sind wir. In einer Welt ohne den Menschen lägen dichte Wälder und Graslandschaften über der Erde wie eine grüne Decke, Boden und Pflanzen würden einander halten und nähren. Stattdessen isst und verheizt die Menschheit den natürlichen Schutzfilm des Bodens. Für uns mag ein umgegrabener Acker eine Banalität sein, aber in der Einheit von Pflanzen und Böden ist er eine Wunde. Die Ernte, die auf unseren Tellern landet, wird dem Kreislauf entnommen, und ohne organisches Material, das in den Ackerboden eingeht, kann dieser nicht wachsen. Schlimmer noch: Wird er nicht gewissenhaft gepflegt, schwemmt Wasser und weht Wind den Ackerboden unwiederbringlich davon.
Ein so aus dem Takt gebrachter Boden kann gefährlich werden. Als sich beispielsweise im April vor zehn Jahren in Mecklenburg-Vorpommern eine riesige Sandwolke wie ein brauner Teppich auf die Autobahn legte, kollidierten 85 Autos und acht Menschen starben, weil der starke Wind die oberste Bodenschicht eines nahen Feldes aufgewirbelt hatte. Langfristig macht die Misswirtschaft den Boden zur Mangelware: Nur rund elf Prozent der Landoberfläche der Erde sind Ackerland, und jedes Jahr verschwinden davon etwa zehn Millionen Hektar – weil es falsch genutzt oder überbaut wird. Der Klimawandel trägt sein Übriges dazu bei, wenn Wetterextreme die Erosion beschleunigen oder die Tiere und Mikroorganismen im Boden unter den veränderten Bedingungen leiden. So schrumpft nicht nur die globale Ackerfläche, sondern auch die darauf erwirtschaftete Ernte.
Das Science-Fiction-Genre projiziert dieses Szenario immer wieder in die ferne Zukunft: den Verlust des Bodens, die intergalaktische Suche nach fruchtbarer Erde, einer neuen Heimat auf fernen Planeten. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass auf der Erde schon vielfach Zivilisationen an ihrem Umgang mit Boden gescheitert sind: Rom musste ab dem Jahr null jedes Jahr schätzungsweise 200.000 Tonnen Getreide aus den römischen Provinzen in Nordafrika importieren, die ausgelaugten Felder des Umlandes konnten die Bewohner nicht mehr ernähren. Die Hochkultur der Maya hatte um das Jahr 800 n. Chr. ihren Höhepunkt erreicht, bis zu sechs Millionen Menschen lebten im Tiefland von Yucatán im heutigen Mexiko. Die intensive Bewirtschaftung ließ den Boden erodieren, was wohl zum Niedergang des indigenen Volkes beitrug. Von anderen Gesellschaften wie den ersten Bewohnern der Osterinsel ist nicht viel mehr geblieben als beeindruckende meterhohe Steinskulpturen. Die heute weitgehend kahle Insel im Südostpazifik muss einst ein palmenbewaldetes Paradies gewesen sein – Heimat einer Kultur mit Sinn für monumentale Kunst und einem verhängnisvollen Hang zur Übernutzung natürlicher Ressourcen.
Es gibt viele Gründe, warum diese Zivilisationen ein Ende fanden – Angriffe von außen, Verwerfungen im Inneren, harte Winter, lange Dürren. Doch ihnen allen ist gemein, dass sie es versäumt hatten, den Boden – die Grundlage ihres Wohlstandes und die Basis ihrer Gesellschaft – ausreichend zu schützen.
Die vielleicht wertvollste Eigenschaft des Bodens ist aber die: Er verzeiht. Wo man mit dem Boden nicht auch das Klima zerstört, hat er das Potenzial, sich wieder zu erholen. Selbst Supermarkterde aus dem Plastiksack, kaum mehr als steriler Dreck, kann mit etwas Mühe, Kompost und Würmern wieder zum Leben erweckt werden. Wird Boden schonend bewirtschaftet, nicht ausgelaugt, sondern geschützt, schließt sich der Kreis zwischen Pflanzen und Boden – und Menschen.
Denn natürlich sind auch wir ein Teil des Ganzen. Auch unsere Körper werden einmal in den Boden eingehen, von den Bodenbewohnern zersetzt, bis nach einigen Jahren nur noch unsere Knochen und nach Jahrzehnten nichts mehr von uns übrig sein wird. Selbst zu Asche verbrannt nähren unsere Überreste den Boden. Und etwas Neues beginnt.
HOMING
descoperind acasa // auf der Suche nach Zuhause
Ausstellung, Casa Artelor Timisoara 2019, Literaturhaus Stuttgart 2020
Wer nie weggehen musste, wer tief verwurzelt und eingebettet in seine Umgebung lebt, dem mag sich Zuhause vielleicht nie als Frage stellen. Doch selbst, wenn Zuhause gewiss scheint: Wissen wir, was Zuhause wirklich ist? Wie essenziell, wie verletzlich unser Zuhause ist, merken wir erst, wenn wir es in Frage stellen. Wenn Fremde ins Zuhause kommen. Wenn Neues ins Zuhause drängt. Wann fangen wir an und wann hören wir auf, uns Zuhause zu fühlen?
Zuhause tut gut. Zuhause tut weh. Zuhause rührt an das Innerste.
Irgendwo auf den vielen Wegen, die wir gegangen sind, haben wir das Gefühl für Zuhause verloren. Wir füllen diese Lücke mit Ritualen, mit Musik, mit Essen. Indem wir die Geister unserer Kindheit beschwören. Indem wir das neue Zuhause zum Transit erklären. Indem wir Häuser bauen in der Hoffnung, endlich irgendwo anzukommen: Eine Millionen Häuser wie eine Millionen Decken, mit denen wir die Sehnsucht vor uns selbst verbergen und uns darin verstecken.
Was ist Zuhause? Eine Erinnerung, ein Ort, eine Hoffnung?
Um die Decken zu lüften hat das rumänisch-deutsche Künstlerïnnenkollektiv HOMING seit Frühjahr 2019 untersucht, wie sich Menschen ein Zuhause schaffen. Über ein halbes Jahr lang haben die Künstlerïnnen mit Menschen in Deutschland und Rumänien gesprochen, mit Aufgebrochen, mit Zurückgekehrten, mit Seeligen und mit Verlorenen. Hunderte tief trauriger und schwer komischer Geschichten von Zuhause haben sie dabei gesammelt, mal rätselhaft, mal sehnsuchtsvoll, mal mit bitterem Beigeschmack. Die Frage nach dem Kern des Zuhause führt mitten hinein ins tiefste Innere des Menschen. Zuhause bleibt eine nie vollendete Baustelle.
Stein für Stein bauen wir uns ein Zuhause.
Wessen Leiden zählt wie viel?
Das Magazin, Februar 2021
Von Svenja Beller und Julia Lauter
Tierversuche sind in der Forschung noch immer der Standard – obwohl viele ungenau sind und es längst Alternativen gibt. Warum also müssen Tiere weiterhin leiden?
Es sind Ställe, nicht Labore, sagen die Ärzte. Doch der lange, grell beleuchtete Gang in dem unscheinbaren Gebäude auf dem Campus der Charité in Berlin sieht aus wie ein in die Jahre gekommener Spitalflur. Auf dem Boden erkennt man schmale Hufspuren, die kreuz und quer über das graue Linoleum verlaufen. Das hier ist der Spielplatz der Versuchstiere.
Schweinchen, so nennen die Ärzte ihre Probanden. Göttinger Miniaturschweine, so nennen sie die Züchter. 24 sind es, sie toben durch den Flur, plündern das Futter der Laborratten und zerren an den Schutzanzügen der Mediziner. Die Schweine sind hier, weil ihr Herz-Kreislauf-System dem von Menschen sehr ähnlich ist. In wenigen Wochen wird einem Grossteil der Minischweine ein Herzschrittmacher eingepflanzt. Der wird ihren Puls langsam steigern, die Herzmuskeln wochenlang überanstrengen und das Organ schwer schädigen. Die Forscher machen die gesunden Schweine krank, um dann eine neue Therapie an ihnen zu testen: Die Tiere werden einen Wirkstoff inhalieren, der ihre Herzen stärken soll. Gelingt dies, könnte er auch Menschen mit Herzinsuffizienz helfen, hoffen die Forscher. Sie sind überzeugt, das Richtige zu tun. Sie wissen aber auch, welcher Hass ihnen entgegenschlüge, würde man ihre Namen mit dem Versuch in Verbindung bringen. Darum bleiben sie in dieser Geschichte anonym. Und darum verrät auch kein Schild am Eingang des Gebäudes, welche Versuche hier stattfinden.
Ist dieser Tierversuch gerechtfertigt? Wie würden Sie urteilen? Allein in der Schweiz leiden rund 120.000 Menschen an Herzschwäche, schätzungsweise mehr als 10.000 Patienten sterben jährlich an den Folgen. Dagegen steht das Leid von 24 Schweinen. «Wenn ein Tier oder auch ein Dutzend Tiere Experimente erleiden müsste, um Tausende [Menschenleben] zu retten, würde ich es im Hinblick auf die gleiche Interessenabwägung für richtig halten, dass sie leiden», schreibt selbst der Tierethiker Peter Singer, der für seine radikalen Forderungen nach mehr Rechten für Tiere bekannt ist. Doch es braucht nicht viel, um solche Abwägungen aus der Balance zu bringen. Der Versuch an den Schweinen wurde von den Forschern als «schwer belastend» eingestuft – die höchste Belastungsstufe auf einer europaweit verwendeten Skala, die den Schweregrad von Tierversuchen anzeigt. Am Ende des Versuchs werden die Tiere getötet. Würden Sie den Versuch ebenso gerechtfertigt finden, wenn er an Hunden durchgeführt würde, für die ein solcher Versuch ursprünglich entwickelt worden ist? Ändert es Ihre Haltung, wenn Sie erfahren, dass dem Test bereits viele Versuche an Mäusen, Ratten und Minischweinen vorausgegangen sind und weitere an Minischweinen folgen werden? Oder dass der Versuchsleiter die Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf den Menschen lediglich als «ganz gut» einschätzt?
Und wie urteilen Sie, wenn Ihr eigenes Wohl und das der Weltgemeinschaft von Tierversuchen abhängt? In Zeiten einer globalen Pandemie ist das kein Gedankenexperiment, sondern Wirklichkeit: Die Impfstoffe gegen das Covid-19-Virus, in die wir alle unsere Hoffnung auf eine baldige Normalität setzen, werden an Tieren erprobt. So werden Mäusen und Affen mögliche Impfstoffe verabreicht, um zu testen, ob sie eine Immunreaktion auslösen können. Mehr als 100 Millionen Erkrankte, mehr als zwei Millionen Tote und eine Welt in Wartestellung gegen das Leiden und Sterben von Tieren – wie kann man das abwägen?
Das Nachdenken über Tierversuche tastet die Ränder unserer Moralität ab: Wessen Leben und Leiden zählt wie viel? Laut dem Eurobarometer 2010, einer Meinungsumfrage des Europäischen Parlaments, fanden 66 Prozent der befragten Europäer, neue Erkenntnisse über Krankheiten beim Menschen rechtfertigten Tierversuche an Mäusen. Tests an größeren Tierarten befürworteten nur 44 Prozent. Während die Zahl der Versuche mit schweren gesundheitlichen Folgen für Tiere ständig steigt, sinkt die gesellschaftliche Akzeptanz: In der Schweiz ruft derzeit die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» zu einem Totalverbot auf, europaweit blockieren Demonstranten regelmäßig Labore, militante Tierschützer bedrohen Forscher und ihre Familien. Unter dem Druck der Öffentlichkeit verlegte der Nobelpreis-Anwärter Nikos Logothetis 2020 seine Forschung an Primaten von Deutschland nach China – und folgt damit dem bedenklichen Trend der Auslagerung von Tierversuchen an weniger regulierte Institute im nicht-europäischen Ausland.
Die große Frage lautet: Ist das Leiden und Sterben der Tiere in jedem Fall nötig? In der EU wurden 2018 rund acht Millionen Tierversuche durchgeführt, in der Schweiz, in der zwei der größten Pharmaunternehmen der Welt ihren Sitz haben, sind es jährlich an die 600.000. Rund zwei Drittel der hiesigen Tierversuche werden als nicht oder wenig belastend eingestuft, worunter kleine Eingriffe, Injektionen oder etwa der Hot-Plate-Test fallen: Dabei sitzt ein Tier auf einer immer heißer werdenden Platte, an seiner Reaktion wird sein Schmerzempfinden gemessen. Bei knapp einem weiteren Drittel der Versuche erleiden die Tiere leichte bis mittelgradige Schmerzen oder Angst, etwa wenn ihnen ein zweites Herz in die Bauchhöhle implantiert oder Parkinson erzeugt wird. Rund drei Prozent der Tests gelten als schwer belastend, wenn den Tieren etwa große Tumore angezüchtet oder dauerhaft Apparaturen implantiert werden und sie dabei starke Schmerzen oder große Angst erleiden. Die heimlichen Aufnahmen, die Tierschützer von diesen schwer belastenden Experimenten veröffentlichen – Affen mit aufgebohrten Schädeln, Mäuse, überwuchert von Tumoren, Hunde in blutverschmierten Ställen –, prägen das Bild von Tierversuchen in der Öffentlichkeit.
Angewandt werden die Tests an Tieren in sehr unterschiedlichen Bereichen: In der Schweiz fallen 22 Prozent bei der Entwicklung, Erprobung und Qualitätskontrolle neuer Therapien an. 2,3 Prozent werden zum «Schutz von Mensch, Tier und Umwelt» durchgeführt, noch weniger für die Ausbildung von Forschern und Labordiagnostik, 13 Prozent finden in etwas nebulösen «anderen Zusammenhängen» statt. Der mit Abstand größte Anteil dieser Versuche aber, 60 Prozent, entfällt auf die Grundlagenforschung – jenen Forschungsbereich, der nicht auf unmittelbare praktische Anwendung hin betrieben wird.
Während die angewandte Forschung, die vor allem Unternehmen betreiben, etwa fragt: «Wie kann man eine Krankheit des Gehirns heilen?», fragt die Grundlagenforschung allgemeiner: «Wie funktioniert das Gehirn?» Sie ist vor allem die Domäne der Universitäten. Wer wissenschaftlichen Fortschritt will, lautet der Tenor der akademischen Welt, muss Tierversuche in der Grundlagenforschung in Kauf nehmen. So stellt es auch das Infoportal «Tierversuche verstehen» dar, betrieben von einer Allianz großer deutscher Wissenschaftsbetriebe. «Versuchstiere», heißt es dort, seien «für die Grundlagenforschung unverzichtbar».
Mehr Nutzen als Leid?
«Ein Grund, es Grundlagenforschung zu nennen, findet sich immer», sagt Marcel Leist, ein Toxikologe, der seit vierzehn Jahren das «Zentrum für Alternativen zu Tierversuchen» in Konstanz leitet, den europäischen Ableger des amerikanischen Center for Alternatives to Animal Testing (CAAT) des Johns Hopkins University Center. «Die Grenze zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung ist künstlich, nicht mehr als ein Feld in einem Formular, eine Eintragung in die Statistik.» Die Forschungsprojekte seien fast immer komplexer als die bürokratischen Kategorien. Entsprechend komplex kann die Antwort auf die Frage ausfallen, der sich jedes Tierexperiment stellen muss: Überwiegt der Nutzen das Leid?
In Leists Fachgebiet, der Toxikologie, lässt sich das sehr viel einfacher entscheiden. Denn Toxikologen benutzen Tierversuche zur Beantwortung einer simplen Frage: Ist etwas giftig oder nicht? Die Beschichtung unserer Handys, der Lack auf den Autos, unsere Kopfschmerztabletten – jede chemische Substanz, die auf den Markt kommt, muss im Tierversuch beweisen, dass sie nicht schädlich ist. Es gibt keinen Stoff in unserer Umgebung, der nicht zuvor an Mäusen, Kaninchen, Ratten, Fischen, Schweinen oder Hunden getestet wurde. In der EU machen diese regulatorischen Tests 23 Prozent aller Tierversuche aus, in der Schweiz sind es laut dem Bundesamt für Veterinärwesen rund 10 Prozent. In die Öffentlichkeit schaffen es diese Experimente nur in absoluten Ausnahmen – etwa als 2018 bekannt wurde, dass große Autokonzerne wie Volkswagen, Daimler und BMW die Schädlichkeit von Abgasen an Affen testeten.
Am penibelsten wird jedoch in der Medikamentenherstellung getestet, kein einziger Wirkstoff kommt ohne Tierversuche auf den Markt: «Dabei können wir sehr viele dieser archaischen Versuche längst ersetzen», sagt Leist. Auch er hat an Tieren geforscht. Für seine Doktorarbeit musste er als junger Laborant Ratten töten, um ihnen die Leber zu entnehmen. «Die ersten Tierversuche vergisst niemand», sagt er. «Ich musste ihre Köpfe in eine kleine Guillotine stecken und, zack, abtrennen. Ein schnelles, schmerzfreies Ende, aber eine Riesensauerei, überall spritzt das Blut», erzählt er. «Doch am Ende ist man so abgestumpft, dass man nebenher sein Pausenbrot essen könnte.»
Auch Leists Rattenexperimente folgten der Annahme, dass sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen. Das galt lange als unbestritten. Doch in den letzten Jahrzehnten mehrten sich Zweifel. Nur einer von rund zwölf Wirkstoffen, die durch Tests an Tieren für gut befunden werden, wird am Ende auch zugelassen. Versuche an Tieren können oft nicht einmal die Hälfte der unerwünschten Medikamentenwirkungen beim Menschen vorhersagen. Die schlechte Übertragbarkeit zeigt sich auch in mehreren Skandalen, bei denen Menschen schwer krank wurden oder starben, obwohl vorausgegangene Tierversuche die Wirkstoffe als sicher bewertet hatten. Prominentes Beispiel dafür ist das Schlafmittel Contergan, das in Tierversuchen gut abschnitt und bei Menschen Missbildungen bei Ungeborenen verursachte.
Das Problem wirkt aber auch in die entgegengesetzte Richtung: Der Wirkstoff Acetylsalicylsäure wird von Menschen seit mehr als einem Jahrhundert in Form von Aspirin als Schmerzmittel genutzt. In für den Menschen relevanten Dosen ist es für Ratten und Mäuse tödlich und führt bei Katzen, Hunden und Affen zu Missbildungen – Aspirin hätte nach heutigen Bestimmungen niemals zugelassen werden dürfen.
Weil Tiere sich so schlecht als Modell für den Menschen eignen, fing die Forschung an, sich passendere Tiere zu bauen, indem sie ihre Gene manipulierte. Sogenannte transgene Mäuse spielen auch in der Covid-19-Forschung eine große Rolle: Weil eine normale Maus keinen passenden Rezeptor für das Virus hat, baute man ihn ihr ein. Die transgene K18-hACE2-Maus kann sich mit dem Virus infizieren – die Forscher räumen aber ein, dass sie anders als das humane System darauf reagiere. Der Mensch ist eben keine 70-Kilo-Maus.
Dennoch halten viele Forscher und wissenschaftliche Institutionen an dieser Vorstellung fest und stützen ihre Erkenntnisse vorrangig auf Tierversuche. Hinzu kommt, dass Versuchsergebnisse, welche die Hypothese einer Studie nicht stützen, seltener publiziert werden – sie verschwinden oftmals in der Schublade. Publication bias nennt sich diese Verzerrung der Wirklichkeit, durch die wissenschaftliche Forschung perfekter erscheint, als sie ist. Für Tierstudien bedeutet dies auch: Viele Tiere leiden umsonst, da die unliebsamen Ergebnisse der Versuche nicht verwendet werden.
Große Mengen öffentlicher Gelder fließen so weiter in die Forschung mit Tieren, die noch immer als «Goldstandard» gilt. Der Schweizerische Nationalfonds gab im Jahr 2019 rund 135 Millionen Franken für Projekte mit Tierversuchen aus. Für die dezidierte Förderung tierfreier und tierfreundlicherer Forschungsvorhaben gab es gerade einmal 1,3 Millionen Franken. Dabei existieren längst Alternativen zu Tierversuchen.
In den USA werden diese tierfreien Methoden massiv gefördert: Die Umweltschutzbehörde EPA kündigte an, ab 2035 für Giftigkeitsstudien keine Versuche an Säugetieren mehr zu finanzieren oder sie nur noch mit Sondergenehmigung zuzulassen. Den Startschuss für die Forschungswende gab 2006 die renommierte National Academy of Science. In ihrer Toxizitätsstrategie schrieb sie damals, die Forscher sollten – statt an Tieren zu experimentieren – die Wirkungsweisen im menschlichen Körper besser verstehen lernen. Mehr computerbasierte Analysen, mehr Tests im Reagenzglas, weniger Tiermodelle. «Im Laufe der Zeit sollte die Notwendigkeit traditioneller Tierversuche stark reduziert und möglicherweise sogar eliminiert werden», so die Akademie.
Heutzutage gibt jedes Forschungsinstitut an, Tierversuche, die Zahl der verwendeten Tiere sowie ihr Leiden auf das geringstmögliche Maß zu beschränken. Replacement (Ersatz), Reduction (Reduktion), Refinement (Verbesserung), diese 3R genannten drei Prinzipien der humanen Experimentiertechnik, die von den Forschern William Russell und Rex Burch aufgestellt wurden, sind bereits seit 1978 im Schweizer Tierschutzgesetz festgeschrieben, seit 2010 auch in einer EU-Richtlinie. Doch der Weg vom Lippenbekenntnis zur echten Veränderung ist lang.
Marcel Leist, der Toxikologe aus Konstanz, will diesen Weg verkürzen. Dabei zieht er in Betracht, wovor den meisten Wissenschaftlern graut: Verbote. «Vorgaben aus der Politik können die Kreativität der Forscher befeuern und ihnen die Mittel für ihre Innovationen zuspielen», sagt der Wissenschaftler. So geschehen bei Kosmetika: Für deren Entwicklung sind Tierversuche seit 2013 in der EU verboten, deshalb wurden zahlreiche Alternativmethoden entwickelt, die sich auch für Industrie-Chemikalien und Medikamente verwenden lassen. «Man darf nur nicht zu viel verbieten, dann wird alles nach Indien oder China ausgelagert», warnt Leist. Trotzdem müsse klar sein: «Tiere sind kein Material, sie träumen, sie haben soziale Beziehungen. Wir tragen ihnen gegenüber Verantwortung, und der müssen wir gerecht werden.»
Doch von der standardmäßigen Anwendung sind selbst simple Alternativverfahren in der Petrischale noch weit entfernt. Obwohl kein Forscher gerne Tiere tötet, schleppt sich die Entwicklung dahin. Was also bremst die Revolution?
Daten nutzen statt Tiere
«Angst», sagt Thomas Hartung. «Es ist die Angst, etwas anders zu machen als bisher.» Sie lasse Kollegen, Firmen, Geldgeber, Fachmagazine und Regulierungsbehörden krampfhaft an Tierversuchen festhalten. Hartung ist ein langjähriger Weggefährte von Marcel Leist, er hat mit ihm studiert und sich über Zellkulturen in Petrischalen gebeugt, während alle anderen noch an Tieren forschten. Heute arbeitet Hartung an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore in den USA, wo er den amerikanischen Sitz des CAAT leitet. Hartung treibt die Revolution voran. Und er redet gerne darüber. Er nennt die Toxikologie das «Hauptschlachtfeld von Tierversuchen gegen Alternativmethoden», was sich dort ersetzen lasse, könne auch in anderen Bereichen ersetzt werden.
Hartung und sein Team konnten nachweisen, dass die meisten Alternativmethoden in ihrem Feld bessere Ergebnisse als Tierversuche erzielen. Vor zwei Jahren nahmen sie sich die sechs wichtigsten Tierversuche der Toxikologie vor, «das Sixpack», wie Hartung es nennt. Mit ihnen werden Stoffe unter anderem darauf untersucht, ob sie die Augen oder die Haut reizen, ob sie die Fähigkeit haben, Mutationen auszulösen, oder ob sie akut oder langfristig giftig wirken. Jedes Land der Welt verlässt sich auf diese Tests, wenn es um die Zulassung neuer Stoffe geht. Hartung und sein Team stellten fest, dass sie bei Wiederholung nur zu 81 Prozent dasselbe Ergebnis lieferten. Er nennt das die Reproduzierbarkeitskrise. Gegen die Tierversuche ließen er und sein Team einen Algorithmus antreten, den sie mit einer großen Datenbank bereits untersuchter Stoffe trainierten, Read-across nennt sich das Verfahren. Es nutzt Daten statt Tiere. Der Algorithmus erreichte eine Genauigkeit von 87 Prozent – sechs Prozentpunkte besser als die Tierversuche.
Für diese computerbasierte Methode gäbe es eine riesige Nachfrage, wie das Beispiel der REACH-Verordnung zeigt, in der die EU 2007 bestimmte, dass jede Chemikalie neu registriert und getestet werden muss – das gilt auch für Schweizer Firmen, die in die EU exportieren. Die Europäische Chemikalienagentur rechnete deswegen mit 9 Millionen zusätzlichen Tierversuchen, Thomas Hartung sogar mit 54 Millionen. Allein schon aus Zeitgründen planten viele von der Industrie beauftragte Labore, das Read-across-Verfahren für die Flut der zu überprüfenden Chemikalien anzuwenden. Ihre Anträge lehnte die Agentur aber fast alle ab, erst 2017, zehn Jahre später, ließ sie das Computerverfahren zu.
Thomas Hartung weiß, wie zäh der Zulassungsprozess neuer Methoden ist. Er hat es am eigenen Leib erlebt. Seit zwanzig Jahren widmet er sich der Aufgabe, den Pyrogentest an Kaninchen zu ersetzen. Mit diesem wird jede Charge von Medikamenten, die ins Blut injiziert werden, darauf hin überprüft, ob sie mit fieberauslösenden Stoffen (Pyrogenen) verunreinigt ist. Das gilt auch für jede Charge der Covid-19-Impfstoffe, denn schon kleinste Mengen von Pyrogenen können zum Tod führen. Es ist mehr als hundert Jahre her, dass die britischen Bakteriologen Edward Collett Hort und William James Penfold 1912 den ersten Test dafür erfanden. Und obwohl sich der medizinische Fortschritt seitdem überschlagen hat, ist der Test bis heute nahezu unverändert geblieben: Drei Kaninchen werden für gut vier Stunden in einem kleinen Kasten fixiert. Ihre Körpertemperatur wird immer wieder gemessen, wofür den Tieren ein Fieberthermometer sechs Zentimeter tief in ihr Rektum geschoben wird – ganz grob auf den Menschen übertragen, wären das dreissig Zentimeter. Reagieren ein oder zwei Kaninchen mit einer erhöhten Temperatur, wird der Test auf weitere fünf Kaninchen ausgeweitet. Zwar werden die Tiere für diesen Versuch nicht getötet, aber sie müssen diese Prozedur ein ums andere Mal durchlaufen.
In der Schweiz wurde so ein Test das letzte Mal 2015 durchgeführt, in der gesamten Europäischen Union im letzten Erhebungszeitraum, 2017, noch 35.172-mal. Und das, obwohl es theoretisch seit Jahrzehnten null sein könnten. Hartung entwickelte schon 1995 eine Alternativmethode im Reagenzglas. Diese basiert darauf, dass Monozyten – im Blut zirkulierende Zellen des Immunsystems – Pyrogene erkennen und mit dem Fieberbotenstoff Interleukin-1 Alarm schlagen. Und der lässt sich ganz einfach nachweisen. Mit diesem Wissen braucht man für den Test nicht mehr als einen Tropfen menschliches Blut. «Eine normale Blutspende würde für rund 25.000 Pyrogentests reichen», erklärt Thomas Hartung. Mit weniger als anderthalb Blutspenden hätte man also alle Pyrogentests der EU aus dem Jahr 2017 durchführen können.
Warum das nicht geschah? «Es gibt ein Tal des Todes, die meisten Methoden sterben da», sagt Hartung und meint damit, dass es neuen Alternativmethoden sehr schwer gemacht wird, tradierte Tierversuche abzulösen. Neue Testverfahren müssen aufwendig und teuer validiert werden, Studie um Studie durchlaufen und mit Institutionen abgestimmt werden – keiner der gängigen Tierversuche musste diese Hürden je nehmen. Um erfolgreich zu sein, muss eine Methode darüber hinaus in die Arzneibücher der Welt aufgenommen werden. Darin steht, welche Tests ein Medikament bestehen muss, damit es zugelassen werden kann. Es dauerte mehr als fünfzehn Jahre, bis Hartungs Pyrogenitätstest in das Europäische Arzneimittelbuch aufgenommen wurde, weitere sieben Jahre, bis es darin ausdrücklich empfohlen wurde. Das Amerikanische Arzneibuch, das den Test vor zwei Jahren aufnahm, empfiehlt ihn bis heute nicht. Und weil die meisten europäischen Hersteller auch für den großen amerikanischen Markt produzieren, bleibt vorerst alles beim Alten.
Dabei ist der Bluttest nicht nur die ethisch korrektere Methode, sondern auch die elegantere. Denn Tierversuche wurden als sogenannte Blackbox-Systeme entwickelt: «Bei solchen Ansätzen schmeißt man was rein und guckt, was passiert, ohne die Vorgänge verstehen zu müssen», so erklärt das Hartungs Kollege Marcel Leist. Die meisten der noch heute genutzten toxikologischen Tierversuche wurden Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt, oft als Reaktion auf Skandale wie den der Mascara «Lash Lure». Als diese 1933 in den USA auf den Markt kam, erblindeten mehrere Frauen durch das darin enthaltene p-Phenylendiamin, mindestens eine starb sogar. Daraufhin wurde der Draize-Augenreizungstest entwickelt, bei dem die zu prüfende Substanz Kaninchen in den Lidsack geträufelt wird. Mit jedem Skandal wuchs die Toxikologie wie ein Flickenteppich.
Um diesen aufzutrennen, braucht es punktgenaue Alternativen. Doch die Angst, das System der Tierversuche infrage zu stellen, ist enorm: Was, wenn etwas schiefgeht? Wenn zwar weniger Tiere leiden müssen, aber dafür mehr Menschen gefährdet werden? Sicherheit ist die höchste Priorität der zuständigen Behörden. Die Standards, nach denen in der Schweiz, der EU oder den USA Chemikalien überprüft und Medikamente zugelassen werden, sind deswegen sehr hoch. Den Preis für unsere Ängstlichkeit zahlen bis jetzt die Mäuse, Ratten, Kaninchen und Affen in den Laboren. Doch die Tür zu einer tierleidfreien Zukunft beginnt sich zu öffnen.
Teil einer grossen Revolution
In Basel wirkt diese Zukunft schon zum Greifen nahe. In einem lichtdurchfluteten Labor liegen dort winzige menschliche Lungen in einer Nährlösung. Sie sind kaum zwei Wochen alt, mit bloßem Auge wirken die erbsengroßen Zellhaufen unscheinbar. Erst unter dem Mikroskop sieht man, dass die «Mini-Lungen» pulsieren – es sieht aus, als würden sie atmen. Diese kleinen Organoide sind Teil einer großen Revolution.
Die Grundlage dafür legte 2006 der Mediziner Shin’ya Yamanaka, als er entdeckte, dass man ausgewachsene menschliche Zellen in einen ursprünglichen Zustand zurückversetzen kann. Musste man zuvor auf embryonale Stammzellen zurückgreifen, konnte man fortan eine Hautzelle in eine sogenannte pluripotente Stammzelle verwandeln und daraus Organoide züchten. Yamanaka bekam den Medizinnobelpreis und die Forschung ein neues Werkzeug an die Hand.
«Wir versuchen, die komplexen Strukturen von Organen nachzubilden, um an ihnen zu forschen», sagt die Hüterin der Organoide in Basel, Ekaterina Breous-Nystrom. Die Immunonkologin leitet bei Roche Pharma die Abteilung, in der neue Krebsmedikamente auf ihre Sicherheit hin untersucht werden. Erst danach dürfen sie in klinischen Studien am Menschen getestet werden. Diese «Mini-Organe» könnten Tierversuche dafür eines Tages überflüssig machen. Noch sind sie aber nicht so weit. «Im Moment können wir Organmodelle noch nicht so miteinander verknüpfen, dass der gesamte menschliche Organismus nachgeahmt werden kann», sagt Ekaterina Breous-Nystrom. Denn selbst wenn es so aussieht, als würden die Zellhaufen atmen: Was sich bewegt, sind nur die Wimpernzellen, welche die Lunge von Schleim reinigen. Das Lungenorganoid bildet zwar alle Zellen aus, die auch die echte Lunge hat, doch anders als im Körper gehen durch den Zellhaufen unter Breous-Nystroms Mikroskop kein Atemzug und kein Tropfen Blut – der Zellhaufen hat keine Funktion. Trotzdem können Forscher an Organoiden wegweisende Entdeckungen machen: Thomas Hartung forscht in Baltimore an solchen «Mini-Gehirnen», es war eine wissenschaftliche Sensation, als es ihm und seinem Team gelang nachzuweisen, dass das Sars-CoV-2-Virus das menschliche Gehirn infizieren kann.
Näher dran, ein funktionierendes menschliches Organ zu imitieren, ist aber eine andere Technik, die Ekaterina Breous-Nystrom vorführt: Aus einer Art Kühlschrank holt sie vorsichtig einen Mikrochip heraus. Er ist etwa so gross wie ein Dominospielstein und aus einem durchsichtigen, silikonartigen Material. Im Inneren sind feine Kanäle sichtbar. Lässt man auf diesem Chip menschliche Zellen wie etwa die der Lunge wachsen, kann man sie mit Nährlösung und Wasser versorgen und so die Atemkontraktion und den Blutdruck imitieren. Breous-Nystrom hält den Chip andächtig in den Händen: «Damit können wir die Lungenzellen tatsächlich atmen lassen», erklärt sie. «Das ist eines der komplexesten Modelle menschlicher Organe, die es derzeit auf dem Markt gibt.»
An ihrem Entwicklungsstandort in Basel hat Roche Pharma alle lebenswichtigen Organe als Organoid oder Organ-on-a-Chip entwickelt: Zellkulturen von Herzmuskeln, von Leber, Darm und Nieren wachsen hier im Reagenzglas oder auf Chips zu Modellen heran. Derzeit wird an ihnen nur die Giftigkeit von Medikamenten überprüft – in Zukunft könnten diese Techniken aber auch weit über den Bereich der Toxikologie hinaus wirken.
Dafür entscheidend ist der nächste Schritt, möglichst viele Organoide und Mikrochips zu verknüpfen. Erst wenn sie das Zusammenspiel von Organen nachbilden, können sie Auskunft über die Wirkung im Menschen geben – und damit Tierversuche langfristig ersetzen. «Es geht darum, das menschliche System im Reagenzglas nachzubilden. Das ist es, worauf all unsere Bemühungen gerichtet sind», erklärt Breous-Nystrom. Am Wyss Institute der Harvard University, mit dem Roche Pharma zusammenarbeitet, wurden bereits mehrere Mikrochip-Organe verbunden. Die Forscher konnten beobachten, wie ein Medikament vom Darm-Chip absorbiert wird, wie es vom Leber-Chip verstoffwechselt wird und dann im Nieren-Chip wirkt. Um die Entwicklung von Organ-Chips hat weltweit ein Wettlauf der Hightech-Forschung begonnen.
Auch wenn Roche Pharma ganz vorne mitspielt bei den neuen Technologien: Noch gehören tausendfach durchgeführte Tierversuche zur Realität des Konzerns. Die Pharmaindustrie thematisiert den Umfang ihrer Tierversuche nur ungern, die letzten offiziellen Zahlen aus dem Hause Roche sind neun Jahre alt. Damals gab das Unternehmen an, rund 470.000 Tiere für die eigene Forschung verwendet und Versuche an weiteren knapp 69.000 Tieren in Auftrag gegeben zu haben. Anfragen zu aktuellen Zahlen lässt das Unternehmen bei aller Gesprächsbereitschaft über Alternativmethoden ins Leere laufen.
Tobias Schnitzer, Veterinär und Chef der Abteilungen Pharmakologie und Toxikologie bei Roche, erklärt, das Unternehmen habe die Anzahl der genutzten Versuchstiere seit 2010 um 40 Prozent reduziert – obwohl es in diesem Zeitraum mehr Forschungsprojekte gab. Seit vier Jahren investiert Roche verstärkt in den Ausbau der In-vitro-Methoden, wurden Abteilungen, die an Organoiden und Organs-on-a-Chip arbeiten, ausgebaut und Experten eingekauft. Fünf Medikamenten-Wirkstoffe habe das Unternehmen bereits ganz ohne Tierversuche zur Zulassung zu klinischen Tests an Menschen gebracht, sagt Schnitzer. Welche Wirkstoffe das sind, will er allerdings nicht verraten. Betriebsgeheimnis.
Der Pharmakologe empfängt zurzeit viele Besucher im neuesten Gebäude auf dem Roche Campus im Baseler Stadtviertel Wettstein, wenige Hundert Meter vom Rheinufer entfernt. Gebäude 98 wurde im Oktober eröffnet und hat 245 Millionen Franken gekostet. Das überdachte Atrium im Zentrum gibt den Blick auf sechs Stockwerke frei. An den Fassaden hängen weiße Singvogel-Skulpturen, die ab und an zwitschern. Aus den Laboren glimmt rotes Licht, man sieht lange Reihen von Gitterkäfigen, darin leben die echten Tiere. Gebäude 98 ist das neue Tierforschungszentrum des Unternehmens, hier können an über 10.000 Tieren gleichzeitig Versuche durchgeführt werden. «Das hier ist wahrscheinlich das modernste Forschungszentrum der Welt», sagt Schnitzer. 22 Grad warm, eine Luftfeuchtigkeit von rund 55 Prozent und streng kontrollierte Lichtverhältnisse für Mäuse, Ratten, Zebrafische und Kaninchen. «Nur wenn es den Tieren gut geht, sind die Daten aus den Versuchen für uns nützlich», sagt Schnitzer. «Unsere Tiere haben hier besser kontrollierte Bedingungen als in 98 Prozent der Privathaushalte, geschweige denn in der Landwirtschaft.»
Es dauert zwischen drei und fünf Jahre, um aus über einer Million verfügbarer Substanzen ein neues Wirkstoff-Molekül auszumachen. Dabei nutzten die Forscher Datenanalysen, In-vitro-Tests und Tierversuche gleichermaßen, erklärt Schnitzer: «Das effektivste Experiment zum besten Zeitpunkt einsetzen, das ist die Kunst der Medikamentenherstellung.» Die 245-Millionen-Franken-Investition in die Zukunft der Tierforschung sieht er pragmatisch: «Wenn es morgen ohne Tierversuche und mit Organs-on-a-Chip geht, finden wir eine andere Nutzung für das neue Gebäude.»
Der Kostenpunkt dürfte für Pharmafirmen wie Roche ein grosser Anreiz sein, auf Alternativmethoden zu setzen. Denn Tests ohne Tiere sind oft billiger: Der Kaninchen-Pyrogenitätstest kostet bis zu 910 Schweizer Franken pro Studie, der In-vitro-Test mit menschlichem Blut rund 90 Franken. Und ein Minischwein, wie es in der Berliner Charité verwendet wird, kostet rund 2200 Franken, für eine aussagekräftige Grosstierstudie braucht man selten weniger als zwanzig Tiere.
Während man in der Berliner Charité nicht daran glaubt, die Versuche an Minischweinen bald durch neue Technologien ersetzen zu können, ist Ekaterina Breous-Nystrom zuversichtlich: «Das wird noch in unserer Lebenszeit passieren: Wir haben hier schlagende menschliche Herzmuskeln, wir haben die Lunge, wir werden bald die nötigen Gefäße haben.» Doch auch wenn Forscherinnen wie Breous-Nystrom Tag für Tag die Grenze verschieben – die Versuche an Organoiden und Organs-on-a-Chip sind noch nicht als Ersatz für Tierversuche zugelassen. In ihrem Labor erproben sie und ihr Team daher parallel zu den vorgeschriebenen Tierversuchen die In-vitro-Methoden – so generieren sie Daten, die den Behörden beweisen sollen, dass die Tests an Organoiden und Mikrochips genauso gut oder sogar besser sind als Tierversuche. Denn ob eine Methode zugelassen wird, bestimmen nicht Forschende oder Unternehmen, sondern Behörden. «Die entscheidende Frage ist», sagt Breous-Nystrom, «ob die Regulatoren offen sind, von den Tierversuchen abzulassen.»
Menschenschutz vor Tierschutz
Sonja Beken sagt entschieden «Ja». Sie koordiniert ein Team von Regulatoren bei der belgischen Föderalen Agentur für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte, dem Pendant zu Swissmedic. An diesen Behörden muss ein Medikament vorbei, bevor es in der klinischen Phase an Menschen getestet werden kann. Mit welchen Versuchen die Unternehmen das machen, können sie keinesfalls selbst entscheiden. Dafür gibt es Regeln. Die sind in der ganzen EU und in der Schweiz dieselben, denn kaum ein Medikament wird allein für den hiesigen Markt zugelassen. Die Regeln sind festgehalten in dem bereits erwähnten Europäischen Arzneibuch, das vorschreibt, welche Tests ein Medikament durchlaufen muss, damit es zugelassen werden kann. Darüber hinaus schreibt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) Richtlinien dafür, wann welcher Versuch verwendet werden sollte. Außerdem formuliert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Richtlinien für die Zulassung von Chemikalien, die auch für den Pharmabereich relevant sein können. Weil das alles hochkomplex ist, gibt es Menschen wie Sonja Beken, Regulatoren genannt, die sicherstellen, dass sich alle an die Regeln halten. Wie sehr sie dabei den Tierschutz im Blick haben, hängt davon ab, wie progressiv die jeweiligen Regulatoren sind – oder wie ängstlich. Ihr oberstes Prinzip ist es, Menschen vor wirkungslosen oder gefährlichen Medikamenten zu schützen. Erst danach kommen die Tiere. Viele Forscher halten die Regulatoren darum für den Flaschenhals, in dem die Alternativen zu Tierversuchen stecken bleiben.
Sonja Beken gehört zu den progressiven Kräften ihrer Profession. Die studierte Genetikerin will Alternativmethoden in den Regelbüchern verankern – und die anderen Regulatoren dazu bringen, die tierfreien Tests zu bevorzugen. Sie weiss, wie schwerfällig sich das System verändert. «Aber wir gehen vorwärts», sagt sie, «Schritt für Schritt, sehr kleine Schritte.» Damit die Schritte größer werden, sollten die Regulatoren möglichst früh bei der Entwicklung neuer Testmethoden eingebunden werden, sagt Beken. «Bei den neuen Technologien sitzen wir gemeinsam am Reissbrett», erzählt sie, vorbildlich passiere das etwa schon beim Einsatz von Organs-on-a-Chip.
Beken wehrt sich dagegen, dass allein die Regulatoren schuld daran sein sollen, dass Tierversuche meist immer noch das Mittel der Wahl sind. Tatsächlich haben sie und ihre Kollegen auf einen Großteil der Versuche keinen Einfluss – auf all jene, die vor dem Zulassungsverfahren stattfinden. Bis ein Medikament auf Bekens Schreibtischen landet, hat es unzählige Versuche durchlaufen, etwa im weiten Feld der bereits erwähnten Grundlagenforschung, in dem in der Schweiz 60 Prozent der Tierversuche durchgeführt werden. Tierexperimente in diesem Bereich müssen beim zuständigen Veterinäramt beantragt, belastende Tierversuche von der kantonalen Tierversuchskommission, gemeinhin Ethikkommissionen genannt, genehmigt werden. Diese sieht Sonja Beken neben den Medikamentenentwicklern in der Pflicht: «Die Ethikkommissionen tragen eine grosse Verantwortung, denn sie können die Anwendung der 3R fördern und unnötige Tierversuche schon zu Beginn der Arzneimittelentwicklung verhindern.» Laut Gesetz können sie Nachforderungen stellen und Anträge ablehnen. Doch so einfach ist das in der Praxis nicht.
«Der Name ist irreführend, denn Ethiker sitzen da nicht drin», sagt ein Mitglied einer solchen Kommission in Deutschland. Seine Arbeit ist vertraulich, er muss in diesem Text deswegen anonym bleiben. Anstelle von Philosophen sitzen in diesen ehrenamtlichen Kommissionen in der Regel vier Naturwissenschaftler, Mediziner oder Veterinärmediziner und zwei Vertreter des Tierschutzes, eingesetzt von der zuständigen Behörde. In Deutschland sind nicht die Veterinärämter zuständig, sondern je nach Bundesland unterschiedliche regionale Behörden. Eine spezifische Expertise über Ethik oder Alternativmethoden muss niemand haben. Unser Gesprächspartner wurde von einer Tierschutzorganisation vorgeschlagen, er sagt, er sei in seiner Kommission «der Stein im Schuh», da er die Tierversuchsanträge am kritischsten prüfe. Dauere das Genehmigungsverfahren den antragstellenden Forschern zu lange, so habe er auch schon erlebt, dass diese Druck auf die zuständigen Behördenchefs ausübten – mit dem Ergebnis, dass die Kommission zu einem umgehenden Votum für oder gegen den Versuchsantrag gedrängt wurde. Stoppen könne er die Anträge kaum je, sagt unser Gesprächspartner, denn das Kommissionsvotum wird per Mehrheitsabstimmung ermittelt – beim Verhältnis von vier zu zwei sei der Ausgang klar. Das Votum der Kommission ist zudem nicht bindend für die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Genehmigung; selbst bei ablehnendem Votum könne die Behörde genehmigen.
Laut einer Analyse der «Ärzte gegen Tierversuche» wurden zwischen 2015 und 2017 weniger als ein Prozent der Anträge in Deutschland abgelehnt. Wegen der mangelhaften Kontrolle leitete die EU inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Hierzulande sieht es nicht besser aus. Auch in den schweizerischen Kommissionen sind Tierschützer massiv untervertreten, einzig im Kanton Zürich haben sie ein Vetorecht. Von allen Tierversuchsanträgen zwischen 2008 und 2018 lehnten die schweizerischen Kommissionen gerade einmal 0,2 Prozent ab. Der Schweizer Tierschutz hat seinen Glauben an die Kommissionen verloren und sich mit der Begründung zurückgezogen, er wolle ihnen nicht länger als «Feigenblatt» dienen.
Die Tierschutzorganisation kritisiert zudem, dass zu lasch kontrolliert werde. Gerade wurden zwei Fälle von Tierquälerei an Labormäusen in Basel publik, bei denen Versuchsleiter Tumore fast doppelt so gross wuchern ließen wie erlaubt und Schädeldecken vorschriftswidrig aufbohrten und mit Sekundenkleber verklebten. Beide Verstöße wurden mit 2000 Franken bestraft. Strafrechtliche Verfolgungen wie diese sind allerdings die Ausnahme, oft bleibt es bei einem Verweis.
Forscher und Konzerne mauern
Solche Fälle erhöhen den Druck, Tierversuche stärker zu überwachen – oder sie, besser noch, ganz zu ersetzen. Die akademischen Forscher sehen dafür die Industrie in der Pflicht, die Industrie wartet auf die Zustimmung der Regulatoren, die Regulatoren verweisen auf die Ethikkommissionen, und die fordern ein Umdenken der akademischen Forscher – ein geschlossener Zirkel, in dem die Interessen der Tiere nur langsam mehr Gewicht bekommen.
Dafür, dass innerhalb dieses Systems dennoch ein Wandel passiert, soll in der Schweiz das 3R-Kompetenzzentrum (3RCC) sorgen. Die Einrichtung wird vom Bund und dem Interessenverband Interpharma finanziert und fördert etwa Forschungsprojekte, die den Ersatz, die Reduktion oder die Verbesserung von Tierversuchen zum Ziel haben – letztes Jahr mit dem oben genannten schmalen Budget von 1,3 Millionen Franken. «Es gibt sehr viele Fragen, die wir derzeit nicht anders als an komplexen, tierischen Systemen beantworten können», sagt die Molekularbiologin Jenny Sandström, die seit Oktober die neue Geschäftsführerin des 3RCC ist. Es sei ihr wichtig, keine falschen Erwartungen zu schüren: «Experimente mit Tieren werden noch sehr lange ein Teil der Grundlagenforschung sein.»
Ein Verbot von Tierversuchen wie in der Kosmetikherstellung sei laut Sandström hier nicht in Sicht. «Wir verstehen mittlerweile relativ gut, wie das System Haut funktioniert. Darum können wir toxikologische Tests für Kosmetika durch adäquate Methoden ersetzen. Aber von diesem Verständnis sind wir zum Beispiel beim Gehirn weit entfernt», sagt Sandström. Sie, die lange selbst in der Grundlagenforschung tätig war, will vermitteln, dass dieser Forschungsbereich nicht nur viele Tiere «verbraucht», sondern auch zur Abkehr von Tiertests beitrage. «Es gäbe ohne die Grundlagenforschung keine Organoide und kein Organ-on-a-Chip», sagt Sandström, viele Ersatzmethoden würden täglich in Laboren angewendet. Aber es gibt keine Zahlen dazu, wie viele Tiere durch neue Methoden heute schon verschont werden. Zwar sinkt die Gesamtzahl der Tierversuche in der Schweiz seit einigen Jahren, dafür könnte aber auch die Verlagerung von Tierversuchen ins Ausland verantwortlich sein. Die offiziellen Daten geben darüber keine Auskunft, Forscher und Konzerne mauern. Sandström hat es sich und dem 3RCC für die nächsten Jahre zum Ziel gesetzt, mehr Transparenz in die verschwiegene Wissenschaft zu bringen.
Denn es sind die Zweifel an den Zahlen, an den Kontrollinstanzen und der Integrität der Pharmaunternehmen, die Tierschützer wie die Initiatoren der Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» antreiben. Sie wähnen den medizinischen Fortschritt ohne Tierversuche schon viel weiter und fordern den umgehenden Stopp der Experimente. «Ich kann die Initiative nachvollziehen und ihr in Teilen auch zustimmen. Natürlich will niemand, dass Tiere leiden», sagt Sandström. «Aber das ist eben nur die emotionale Sichtweise. Unser Ziel sollte es aber sein, faktenbasierte Entscheidungen zu treffen.» Im Bundesrat wurde die Volksinitiative bereits im Dezember 2019 abgelehnt, voraussichtlich dieses Frühjahr wird sie in der Bundesversammlung diskutiert und vermutlich ebenfalls abgewiesen werden. Doch auch wenn die Kampagne scheitert, könnte die öffentliche Debatte über die Notwendigkeit von Tierversuchen die Arbeit des 3RCC erleichtern, sagt Jenny Sandström. Tatsächlich kündigte das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation Ende 2020 eine substanzielle Erhöhung des Budgets für das Zentrum an. Ob das ein Erfolg der kritischen Zivilgesellschaft ist oder schlicht eine aussichtsreiche Investition, darüber lässt sich nur mutmaßen.
Am Schicksal der Minischweine an der Berliner Charité ändert diese Diskussion nichts mehr. Sie haben nun zwei Wochen lang jeden Tag für fünfzehn Minuten, in einer Hängematte liegend, den neuen Wirkstoff inhaliert. Die Tiere sind munter, laufen neugierig durch das Labor, noch immer unermüdlich auf der Suche nach Fressen. Weil es ihnen gut geht, soll der Versuch nachträglich als «mittel belastend» eingestuft werden, sagt der Versuchsleiter, ihr Leben sei deutlich annehmlicher als das der meisten Schweine in der Nutztierhaltung. Er ist zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen. Wenn alles nach Plan laufe, erzählt der Kardiologe, könne das Medikament 2024 in klinischen Studien getestet werden und 2030 auf den Markt kommen. Dann könnte es jenen Herzpatienten helfen, die er bislang bei seiner Arbeit in der Klinik oft nicht retten kann. Auch wenn es ihm schwerfällt, für den Arzt rechtfertigt diese Aussicht das unausweichliche Ende des Versuchs für die Schweine. Sie werden mit Benzodiazepin narkotisiert, danach spritzen die Forscher ihnen hochdosiertes Kalium. Ihre Herzen werden voll aufgepumpt stehen bleiben und für weitere Untersuchungen entnommen.
Die Revolution der Forschung kommt für sie zu spät.
Bilder aus dem gespaltenem Tal
Protokoll des Pulitzerpreisträgers Dar Yasins
Reporter ohne Grenzen, Mai 2020
Die Grenzregion zwischen Pakistan und Indien ist seit Jahrzehnten umstritten. Doch 2019 flammte der Konflikt in Kaschmir erneut mit aller Kraft auf. Der Fotojournalist Dar Yasin erzählt in seinen Bildern von einer Reion, die zu zerbrechen droht – und von unerschütterlichen Kaschmiris, die der Krise trotzen.
Schönheit und Zerbrechlichkeit sind in meiner Heimat Kaschmir untrennbar miteinander verwoben. Das Schöne ist unübersehbar: die massiven Bergketten der Himalayas, die sanft geschwungenen Täler, die Gebirgsseen mit dem klarsten Wasser, das Sie je gesehen haben. Die Zerbrechlichkeit auf der anderen Seite, kommt durch den ewigen Konflikt, der uns seit 1947 zwischen Indien und Pakistan zerreibt. Die Bedrohung ist hier überall spürbar, die Spannung liegt in der Luft wie ein Knistern. Manchmal habe ich das Gefühl, das Unheil verstärkt die Schönheit Kaschmirs noch. Mit meinen Bilder arbeite ich gegen die Vergänglichkeit an, halte einzelne Momente fest, weil schon im nächsten Moment alles anders sein kann.
Für uns Kaschmiris ist der Konflikt ein Teil unserer Normalität geworden. Ich bin 1973 geboren, damals war die Lage noch entspannter. Erst mit dem Aufstand 1989 wurde die Gewalt auf der Straße zu einem allgegenwärtig Phänomen. Als ich in der fünften oder sechsten Klasse war, sah ich das erste Mal einen toten Körper. Es war die Leiche meines Nachbarn, ein Junge in meinem Alter, mit dem ich manchmal gespielt hatte. Er hatte Protesten auf der Straße durch einen Spalt im Zaun zugesehen. Ich sah, wie er vor seinem Haus lag, mit einem großen Loch im Kopf. Das Bild habe ich noch genau vor mir. Seitdem habe ich viele Tote gesehen, alle hier haben das, auch meine Kinder. Ich will sie davor beschützen, aber ich kann es nicht.
Wer sich meine Fotos genau ansieht, erkennt, dass die Menschen in den Bilder sich oft anfassen, immer hält jemanden den anderen. Eine Frau stützt den Kopf der anderen, Trauernde halten sich an den Händen, umarmen sich. In Kaschmir findet man immer jemanden, der einen tröstet und einem in der schwersten Zeit beisteht – alle wissen, dass es jederzeit auch sie treffen kann. Die vergangenen Jahrzehnte haben unseren Gemeinschaftssinn enorm gestärkt.
Obwohl meine Bilder oft in gefährlichen und unruhigen Situationen entstehen, versuche ich, in ihnen Ruhe und Konzentration herzustellen. Ich konzentriere mich auf den bestmöglichen Moment in den unangenehmsten Momenten.
Und obwohl es anders wirken mag: der Konflikt ist eben nur ein Teil unserer Normalität. Wir haben auch einen anderen Alltag, der in der internationalen Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird. Jetzt etwa, im Winter, verbringt die ganze Familie die meiste Zeit gemeinsam im Hamam, dem Raum im Haus, dessen Steinboden mit Holzfeuer beheizt wird. Viele Kaschmiris haben große Häuser, aber die meisten sind nicht besonders gut isoliert. Also sitzen wir bei Kälte im Hamam, reden, essen, spielen mit den Kindern. Der Winter ist hart, aber er hat auch einen besonderen Reiz. Wir nehmen Zuflucht in unseren Häusern. Wir essen dann zum Frühstück Harissa, eine Spezialität aus stundenlang gekochtem Hammelfleisch, Reismehl und Gewürzen und sehen zu, wie die Außenwelt mit einem tröstlichen weißen Teppich aus Schnee bedeckt wird. In guten Zeiten gehen wir Skifahren oder rodeln auf selbstgebauten Schlitten die Hänge herunter. Es gibt diese Welt auch heute noch in Kaschmir, trotz allem. Ich will auch Bilder von dieser Seite unseres Lebens zeigen, aber im schnellen globalen Nachrichtenzyklus finden sie weniger Anklang als die Bilder von Gefechten und Demonstrationen.
Und tatsächlich waren die letzten Monate in Kaschmir besonders hart. Seit der Eskalation des Konfliktes Anfang 2019 hat sich die Lage hier zusehends verschärft. Im März dachten viele, dass es jetzt zum Krieg zwischen Indien und Pakistan kommen würde. Alle hatten Angst. Es ist seltsam, in so einer Situation über das eigene Zuhause zu berichten. Aber was uns quält, hält uns auch beschäftigt. Ich fand damals kaum Zeit, um nachzudenken, ich habe einfach weitergemacht. Auf mich hatte das auch einen kathartischen Effekt.
Dann kam die Kommunikationsblockade. Das war am 4. August 2019, dem Tag, bevor die indische Regierung Kaschmirs Autonomiestatus aufhob. Wir standen morgens auf und hatten plötzlich kein Internet mehr, kein Handynetz, unsere Telefonleitungen waren tot. Es war nicht das erste Mal, dass die Regierung uns von der Kommunikation abgeschnitten hat. Immer wieder wird in Landesteilen, in denen es zu Protesten kommt, das Internet abgeschaltet. Alleine in den letzten drei Jahren kam es in Indien 159 mal dazu. Doch bei dieser Blockade waren sieben Millionen Menschen monatelang von der Welt abgeschnitten worden, es heißt es sei die längste Kommunikationsblockade, die es je in einer Demokratie gab. Es fühlte sich an, als seien wir in ein tiefes, schwarzes Loch gestoßen worden.
Während der ersten 20 Tage blieb mir nicht anderes übrig, als meine Fotos auf Datenträgern zu speichern und Menschen mitzugeben, die raus aus Kaschmir fuhren – anders hätte ich meine Bilder nicht an die Öffentlichkeit gebracht.
Bald wurde dann in Srinagar eine Stelle eingerichtet, in der Journalisten ihre Daten verschicken konnten. Wenn man nichts zu verbergen hat, kann man das bereitgestellte Internet dort nutzen. Für alle anderen blieb es aber weiter schwierig. Erst im Oktober wurden die Blockade etwas gelockert, etwa die Telefonleitungen wieder in Betrieb genommen. Mit Vertrags-Handys funktionieren seitdem einige Dienste wieder, die rund zwei Millionen Prepaid-Telefone blieben weiterhin gesperrt.
Diese fünf Monate waren bitter und lähmend für uns. Viele Menschen sind weiterhin sehr vorsichtig. Auch wenn die Schule wieder geöffnet sind unterrichte ich meine Kinder weiterhin zuhause. Die Lage auf den Straßen ist unberechenbar und ich will sie keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Wir sind noch nicht wieder in der Normalität angekommen. Zu erklären, was diese dunklen Monate für mich und meine Familie bedeutet hat, dafür fehlen mir bis heute die Worte.
Die derzeitigen politischen Vorgänge in Kaschmir und in ganz Indien möchte ich nicht öffentlich kommentieren. Ich zeige lieber mit meinen Bildern, was passiert. Das ist mein Job, darin bin ich gut. Ich habe keine Agenda. Trotzdem gibt es natürlich Momente, in denen ich eingreifen musste. Im Frühjahr 2017 fotografierte ich einen Protest von Schülerinnen. Ein junges Mädchen wurde bei der Demonstration verletzt, sie blutete stark am Kopf. Da ich weit und breit keine Hilfe sah, hob ich sie kurzerhand hoch und trug sie zu einem Arzt. Später tauchten Bilder davon in den sozialen Medien auf und ich bekam viel positive, aber auch manche negative Rückmeldung. Für mich war das alternativlos, ich hatte keine Wahl als zu helfen. Ich denke, jeder hätte in dieser Situation dasselbe getan.
Die Zeiten für Fotojournalisten sind hart in Kaschmir, ich und meine Kollegen merken das jeden Tag. Die Behörden wollen nicht, dass wir sie fotografieren und die Leute auf der Straße ebenso wenig. Ich wurde schon von beiden Seiten bedrängt und geschlagen – manche Tagen laufen einfach schlecht. Besonders schmerzhaft ist es, von der eigenen Gemeinschaft angefeindet zu werden. Vor denen kann ich nicht weglaufen, ich bin hier ja Zuhause. Aber viele verstehen den Nutzen unserer Fotos nicht, dass man mit ihnen beweisen kann, was wirklich geschehen ist und dass die Bilder Geschichte dokumentieren.
Zu meiner Sicherheit bekomme ich regelmäßig Trainings, meine Agentur stellt mir Sicherheitsausrüstung zur Verfügung und unterstützt mich. Das ist sehr wichtig, denn das Fotografieren ist keine Ein-Mann-Show. Die Hilfe von Redakteuren, Buchaltern und Kollegen macht es mir überhaupt erst möglich, meinen Job gut zu machen. Mit den Jahren hat sich die rote Linie, das, was ich bereit bin für ein Foto zu tun, verschoben. Heute kann ich ganz sicher sagen, dass ich mich für ein Bild nicht wissentlich in Gefahr bringen würde. Kein Bild ist ein Leben wert. Ich will nicht, dass die Kollegen eines Tages über mich berichten. Man muss lebendig sein, um die Geschichten von morgen zu erzählen.
Ich mache meine Fotos für die Zukunft. Gewalt und Blutvergießen haben in unserer Heimat ihre Spuren hinterlassen. Ich sehe es als meine Aufgabe, in unserer kurzsichtigen und kurzlebigen Zeit die kollektive Erinnerung wach zu halten. Ich brenne für meinen Beruf - so wie wir heute auf die Höhlenschnitzereien und historische Manuskripte unserer Vorfahren blicken, um ihr Leben zu verstehen, so werden vielleicht eines Tages meine Urenkel auf meine Bilder blicken und meine Geschichte nachvollziehen. Schließlich weiß niemand, was in Kaschmir in Zukunft passieren wird.
Atheisten in Gefahr
Reportagen #47, Mai 2019
Indien ist ein spiritueller Sehnsuchtsort – doch für Ungläubige ist er ein Albtraum. Atheisten müssen um ihr Leben fürchten. Nun rüsten sie sich in geheimen Zirkeln für den Kampf um die Vernunft.
1 Die Entzauberung
Die Finsternis kommt nicht auf einen Schlag. Sie sickert unbemerkt in unsere Mitte, Tropfen für Tropfen speist sie das Zwielicht, bis es mit einem Mal dunkle Nacht ist.
In Indien begann der Einbruch der Finsternis mit einem weinenden Kreuz.
Am 10. März 2012 drängen sich Hunderte Pilger in einer kleinen Gasse in Vile Parle, einer verschlafenen Nachbarscha im Nordwesten der 20-Millionen-Metropole Mumbais, kauern dicht an dicht auf dem Boden, es ist stickig, eng und staubig. In ihrer Mitte prangt ein zwei Meter hohes Holzkreuz, an das eine Messias-Figur geschlagen ist. Im Sekundentakt rinnen Wassertropfen vom Fuss des Gottessohns, die von Priestern aufgefangen und an die Gläubigen weitergereicht werden. Die Pilger benetzen sich Stirn und Lippen, trinken die Tränen des Kreuzes, die Glück und Gesundheit bringen, so versprechen es die Priester. Die Menschen knien im Staub und beten zum weinenden Kreuz.
Sanal Edamaruku bahnt sich seinen Weg durch die aufgebrachte Menge, er ist wie immer akkurat gekleidet, sein Kinnbart sorgsam getrimmt. Der 57-Jährige trägt ein blütenweisses Hemd und läuft mit der selbstbewussten Eleganz des ausgebildeten klassischen indischen Tänzers auf das Kreuz zu. Edamaruku ist Präsident der Indischen Vereinigung der Rationalisten, ein bekannter Guru-Buster, berüchtigt dafür, die Wunder der Gurus und Magier zu entzaubern. In einer Talkshow hat er vor kurzem bestritten, dass es auf dieser Erde wirkliche Wunder gibt, worauf Vertreter der katholischen Kirche ihn zum weinenden Kreuz einluden. Er ist eigens aus Delhi angereist, tausend Kilometer entfernt, um den Pilgern ihr Wunder zu verderben.
(…)
Das große Zittern
Süddeutsche Zeitung Magazin, Juli 2019
Von Svenja Beller und Julia Lauter
Fachleute sind sich einig: In Südeuropa stehen gewaltige Erdbeben und Vulkanausbrüche bevor. Millionen von Menschen in Neapel, Lissabon und Istanbul sind in Gefahr. Doch die Warnungen werden nicht ernst genug genommen.
Der Erzbischof von Neapel steht vor der ungeduldigen Menschenmenge und dreht eine gläserne Ampulle in seinen Händen. Das heilige Blut muss flüssig werden, sonst beginnt das Inferno.
Am Strand von Lissabon baut ein Mann Figuren aus Sand. Wenn eine Welle kommt, werden sie sich in einzelne Körner auflösen. Wenn die große Welle kommt, wird die Stadt es ihnen gleichtun.
Nahe Istanbul proben die Rettungsmannschaften den Ernstfall am Modell eines zusammengesackten Hauses. „Es ist wie damals“, raunt einer. „Nur der süßliche Geruch der Verwesung fehlt.“
Die drei europäischen Metropolen Neapel, Lissabon und Istanbul eint das gleiche Schicksal: Sie werden ihre Bewohner zu Tausenden unter sich begraben und die Überlebenden in einen Horror stürzen. Für jede dieser Städte wird der Tag der Zerstörung kommen, nur vermag niemand zu sagen, wann. Denn während sich die Menschheit auf eine Expedition zum Mars vorbereitet, hat sie es noch nicht tiefer als zwölf Kilometer unter die Erdoberfläche geschafft. Und so können Wissenschaftler nur die Vorhersage geben, dass starke Erdbeben und Vulkanausbrüche die drei Städte verwüsten werden. Vielleicht werden die jetzigen Bewohner dann schon lange tot sein. Vielleicht trifft es sie auch schon morgen.
(...)
Dem Menschen ein Wolf
Dummy, März 2020
Ein Fehler im menschlichen Immunsystem und die Abwehrkräfte greifen nicht Viren und Bakterien an, sondern den gesunden Körper. Der Mensch will leben, doch sein Organismus zerstört sich selbst: Das ist die Geschichte der Krankheit Lupus.
Es ist fast immer Sommer, wenn die Schlacht beginnt. Die Sonne scheint, ihre Strahlen wärmen die Haut, im glühenden Mittag steht die Hitze still. Man hört nur das Pochen des Herzschlages, das Pumpen der Lungen, das Tösen des Blutes. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.
Diese Schlacht wird nicht auf freiem Feld stattfinden, sondern in den tieferen Hautschichten und den Eingeweiden des Körpers. Dort wird die Sonne eine unheilvolle Reaktion in Gang setzen. Die körpereigenen Abwehreinheiten werden sich hastig für die Verteidigung rüsten; eifrige Zellsoldaten, die ihr ganzes Leben lang auf diesen Einsatz gewartet haben. Sie schauen nicht zurück und wissen nicht, dass ihre Mission auf einem Verrat fußt. Sie sehen nicht nach vorn und ahnen nicht, dass diese Schlacht auch ihr Ende sein wird. Das ist der Selbstmord des Körpers. Das ist die Krankheit Lupus.
Der Systemische Lupus erythematodes ist eine der komplexesten Autoimmunerkrankungen, schwer greifbar, schwer behandelbar. Die Selbstzerstörung des Körpers zeigt sich bei manchen Betroffenen auf der Haut: Tiefrote Male zeichnen Gesicht und Körper. Der Name Lupus – Lateinisch für Wolf – geht wohl auf diese Bissspuren gleichenden Hautschädigungen zurück. Bei anderen Erkrankten wirkt Lupus von außen unsichtbar und attackiert Organe wie die Lunge, das Herz, die Nieren, das Zentrale Nervensystem. Die Folgen: chronische Müdigkeit, Fieber, Gelenkschmerzen, Lungenfell-, Rippenfell- und Herzbeutelentzündungen bis hin zu kognitiven Störungen und Psychosen. Im schlimmsten Fall, das heißt wenn die Krankheit unbehandelt bleibt, stirbt der Mensch an den Folgen des Dauerfeuers der eigenen Abwehrkräfte. Und all das beginnt, scheinbar zufällig, ausgelöst durch harmlose Sonnenstrahlen.
Lupus ist selten, auf 100.000 Einwohner kommen in Europa nur 30 bis 50 Fälle, in Deutschland sind rund 30.000 Menschen erkrankt. Betroffen sind vor allem Frauen, die Krankheit bricht zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr aus und verläuft in Schüben: Meist können die krankheitshemmenden Kräfte des Immunsystems nach einiger Zeit wieder die Oberhand gewinnen und die Entzündungsschlacht unterbrechen – ganz beenden können sie sie aber nicht.
Davon, die Krankheit Lupus zu verstehen, ist die Menschheit auch nach mehr als 2400 Jahren Krankheitsgeschichte weit entfernt. Zwar soll schon Hippokrates die ersten Hinweise auf Lupus dokumentiert haben, doch weil die Symptome so vielgestaltig sind, wurde die Krankheit über Jahrhunderte hinweg anderen Leiden zugeordnet: im Altertum dem Herpes, bis Mitte des 19. Jahrhundert der Tuberkulose. 1872 beschrieb schließlich der Wiener Dermatologe Moritz Kaposi erstmals die Krankheit und ihre Subtypen korrekt. Bis in das 20. Jahrhundert hinein bedeutet die Diagnose dennoch das Todesurteil, 1955 überlebten nur fünf Prozent der Betroffenen die ersten fünf Jahre.
Heute stehen die Chancen für Patienten mit Zugang zur medizinischen Versorgung sehr viel besser, 95 Prozent überleben die ersten fünf Jahre, 92 Prozent die ersten zehn. „Wir können den Lupus nicht heilen, aber wir können ihn behandeln“, sagt Georg Herrnstadt, Arzt und Wissenschaftler in der III. Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, an der Lupus erforscht und behandelt wird. Die Patienten bekommen Medikamente, die das kranke Immunsystem ausbremsen und die Beschwerden lindern. „Erst wenn dieses Vorgehen versagt und die Selbstzerstörung die Organe bedroht, gehen wir einen Schritt weiter und unterdrücken das Immunsystem systematisch.“
In andernfalls aussichtslosen Fällen kommen experimentelle Methoden zum Einsatz. Mithilfe von Chemo- und Stammzellentherapie wird dann etwa das Immunsystem der Patienten gelöscht, um die Selbstzerstörung zu stoppen. Die innere Schlacht wird zwar abgebrochen, aber der Patient bleibt ohne Abwehrkräfte zurück. Ein hohes Risiko. „Die Krankheit hat bei zehn Patienten zehn verschiedene Krankheitsbilder. Wir hoffen mit Hilfe der Molekulargenetik in Zukunft präzisiere Therapien anbieten zu können“, sagt der Spezialist Herrnstadt. Es gelte herauszufinden, wer im Einzelfall schuld ist: langsame Fresszellen, unaufmerksame Boten, übereifrige Eliteeinheiten oder alle zusammen. „Erst wenn wir wissen, was genau die Zerstörungskaskade anstößt, können wir effizient helfen. Und vielleicht sogar eines Tages heilen.“ Bis dahin bleibt die Krankheit dem Menschen ein Wolf.
Marion von Papen-Lübbers war 34 Jahre alt, als sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie litt plötzlich unter Gelenkschmerzen, dachte zunächst an Rheuma, aber bald kam Fieber hinzu und eine bleierne Müdigkeit, die sich nicht wegschlafen ließ. Dann kamen die Erinnerungslücken. „Stellen Sie sich vor, sie gehen mit diesen Symptomen zum Arzt“, sagt von Papen-Lübbers. „Natürlich denkt der, dass sie psychisch krank sind.“ Es dauerte fünf Jahre, bis ein Arzt erkannte, dass der Lupus, von außen unsichtbar, gegen ihre Gelenke und das zentrale Nervensystem in die Schlacht gezogen war.
„Als ich die Diagnose bekam, war ich im ersten Moment sehr erleichtert. Sie sprach mich vom Vorwurf frei, verrückt zu sein“, sagt von Papen-Lübbers. 1992 war das, in einer Zeit vor Dr. Google, in der Betroffene noch nicht mit einem Klick Millionen Diagnosen zur Verfügung standen. Um mehr über den Lupus zu erfahren, schlug Marion von Papen-Lübbers die Krankheit im medizinischen Nachschlagewerk nach. „Das hätte ich nicht tun sollen“, sagt sie heute. Fünf Jahre Lebenserwartung, so stand es in dem veralteten Lexikon. Die Nachricht stürzte die junge Frau in eine tiefe Krise. Die Schmerzen, die Erschöpfung, die kognitiven Ausfälle hatten nun einen Namen. Aber dessen Bedeutung war kaum zu ertragen. „Es drückte mich zu Boden“, sagt sie.
Im Grunde handelt es sich bei der Krankheit Lupus nicht um einen Selbstmordversuch des Körpers, sondern um Tausende. Die Selbstzerstörung kann in jedem Augenblick passieren, an jedem Ort im Organismus. Es sind viele kleine Schritte, die die Schlacht ausbrechen lassen und sie beginnt fast immer im Sommer. Auch bei gesunden Menschen führt die Ultraviolettstrahlung der Sonne zum Zelltod, die Haut wird rot und Zellen gehen kaputt. Im besten Fall sterben sie kontrolliert ab und werden von den grobschlächtigen Aufräumpatroullien, den Fresszellen und Granulozyten, die auf der Suche nach herumliegendem Müll den Körper durchstreifen, geschluckt und verdaut.
Doch manche Hautzellen verschwinden nicht so lautlos, manche explodieren geradezu und katapultieren ihr Innerstes, das Zellkernmaterial, ins umliegende Gewebe. Das Immunsystem muss man sich als einen hochgerüsteten Militärapparat vorstellen, stets in Erwartung eines vernichtenden Schlages, jederzeit gewillt zum harten Durchgreifen. Und herumliegende DNA wie das Zellkernmaterial wirkt in dieser angespannten Atmosphäre wie ein herrenloses Gepäckstück auf einem öffentlichen Platz – eine Provokation, die als potentielle Bedrohung für den ganzen Organismus gilt. Darum schlagen die angrenzenden Gewebezellen sofort Alarm.
Unter den ersten Einsatzkräfte vor Ort sind dendritische Zellen, flinke Boten mit langen Fangarmen, mit denen sie den herrenlosen Koffer abtasten. Gäbe die Botenzelle nun Entwarnung, wäre der Einsatz hier beendet. Bei gesunden Menschen ist das so. Bleibt die Entwarnung allerdings aus, bugsiert die dendritische Zelle den als fremd markierten DNA-Koffer zu den Einsatzzentren der Eliteeinheiten: den B- und den T-Zellen in der Milz und den Lymphknoten.
Auch wenn im DNA-Koffer keine Bombe, sondern nur harmlose Erinnerungen an die stille Hitze der Mittagssonne liegen mag: Ist das Sondereinsatzkommando einmal in Bewegung, gibt es fast niemanden mehr, der es aufhalten kann. Die T-Zellen bestimmen dann, welche Antikörper gegen den mutmaßlichen Eindringling benötigt werden. Die B-Zellen stellen diese „Waffen“ in Eigenregie her. In den Lymphknoten wächst so eine Armee an Immunzellen heran. Ist sie groß genug für den erwarteten Feind, gelangen die Truppen mit dem Blutstrom an den Ort der vermeintlichen Infektion und schlagen zu. Sie wollen das verdächtige DNA-Gepäckstück gezielt sprengen. Doch weil der Koffer körpereigene DNA enthält, hat er große Ähnlichkeit mit Ablagerung, die sich überall im Körper finden. Darum wittert das Sondereinsatzkommando überall Verdächtige und weitet die Schlacht auf den ganze Körper aus. Die Truppen attackieren vermeintliche Eindringlinge in der Haut, im Glauben an eine umfassende Attacke feuern sie in den Gelenken, im Zentralen Nervensystem, in den Nieren um sich. Ihr Einsatz löst eine Entzündungsreaktion aus, die selbst wieder körpereigenes Gewebe zerstört und verdächtiges Zellkernmaterial hervorbringt. So wird das Abwehrmanöver zu einer tödlichen Kaskade.
Diese Zerstörung machte Marion von Papen-Lübbers auch seelisch zu schaffen. Wenn der Körper sich im Stellungskrieg befindet, verfällt der Geist in ein atemloses Starren in jene Richtung, in der er die Frontlinie vermutet: tief in sich hinein. Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Körper die Niere, das Herz, das Gehirn angreift? Die Schlachten des Lupus hinterlassen ihre Spuren in den Gedanken der Erkrankten. Jedes Ziehen auf der Haut, jeder Druck auf der Lunge, jedes Reißen in den Muskeln birgt das Gefühl einer großen Gefahr.
Für ein Leben mit der Diagnose Lupus braucht es beides: die Behandlung der Entzündungen und die der Psyche, Cortison und Gespräche. Zwei Jahre habe es gedauert, bis sie sich zurück ins Leben gekämpft habe, sagt von Papen-Lübbers. Gegen den Rückzug aus der Welt und das Versinken in den inneren Kriegshandlungen helfe am Ende nur, den Kopf wieder zu heben. „Man muss sich zwingen, über die Krankheit hinauszuschauen und den Horizont in den Blick zu nehmen.“
Der Horizont, das ist ihr Mann. Und die anderen Betroffenen, mit denen sie sich in der Selbsthilfegruppe austauscht. Die Mediziner, denen sie vertraut. Die Medikamente, die sie immer bei sich trägt, egal wohin sie geht. Von diesen Punkten aus hat sie sich ein zartes Netz gewebt, das die Verzweiflung abschirmt. Es wird mit den Jahren dicker, sagt von Papen-Lübbers. Heute unterstützt sie andere Lupus-Patienten, hilft ihnen die Schlacht in ihrem Körper einzuordnen – und lehrt sie auch das gezielte Weghören. „Ich gehe meinen Weg und der Lupus geht an der medikamentösen Leine“. Ihr letzter Schub ist Jahre her, trotzdem kann der nächste jederzeit passieren. Alle Menschen verdanken ihr Leben dem Zufall, sagt Marion von Papen-Lübbers. Und: Sie habe gelernt, dem Zufall zu vertrauen.
Flanieren für die Freiheit
taz am Wochenende, Mai 2019
Anthologie „Flexen” Verbrecher Verlag, Juni 2019
Trödeln, herumlungern, ziellos durch die Stadt streifen – in Indien ist das für die Hälfte der Bevölkerung nicht selbstverständlich, sondern gefährlich. Um den öffentlichen Raum zu erobern tun Frauen in Mumbai genau das: Sie gehen spazieren, als Zeichen des Protests.
Neha Singh läuft sich frei. Zügigen Schrittes verlässt sie die hell erleuchteten Straßen und biegt in eine kleine Gasse ein, die Richtung Küste führt. Zwischen den Häusern und Verschlägen der Fischersiedlung hindurch bahnt sich die schmale Frau ihren Weg durchs Dunkle, bis sie schließlich im Schwarz der Neumondnacht vor einem nach Fisch und Abwasser stinkenden Flusslauf stehen bleibt. Es ist kurz vor Mitternacht. Außer Neha Singh sind jetzt nur noch Männer auf der Straße. Viele Männer.
Sie schaut ans andere Ufer, ein paar Umrisse sind im Schein von Straßenlampen zu erkennen. Madh Island heißt die Landzunge, die im äußersten Nordwesten Mumbais ins Arabische Meer ragt. Man hört nur das leise Gluckern des Wassers, das Gebell einiger Hunde, sonst nichts. In der 20-Millionen-Einwohner-Stadt, wo der Lärm sonst wie eine schwere Decke über dem Alltag liegt, verheißt Stille nichts Gutes. Wo es still ist, ist man alleine. Und alleine ist man schutzlos.
Neha Singh drückt ihren Rücken durch – ihre schmächtige Statur und die fast hüftlangen Haare lassen sie von Weitem wie ein junges Mädchen wirken. Hier, um kurz vor Mitternacht, in der Peripherie der Stadt, sieht sie etwas verloren aus. Sie schüttelt sich, hebt die rechte Hand und winkt ins Dunkle der Nacht. Der Fährmann am anderen Ufer wirft den Bootsmotor an. Neha Singhs nächtlicher Spaziergang hat gerade erst begonnen.
Sie läuft nicht zum Spaß nachts durch die Stadt. Neha Singh ist die Erfinderin einer Bewegung, die das Spazierengehen zur Protestform erklärt hat. „Ich liebe Mumbai, die Strände, die Parks, die Fischersiedlungen – aber ich habe mich nie ganz als Teil der Stadt gefühlt“, sagt sie, 36 Jahre alt, Kinderbuchautorin und Theaterregisseurin. Für Mädchen und Frauen sei die Stadt von ungeschriebenen Gesetzen und unsichtbaren Grenzen geprägt. „Sie bestimmen, wo ich mit wem sein kann, was ich tragen darf, wie ich mich verhalten muss, um als respektable Frau zu gelten.“
Denn auch in Mumbai, der liberalsten Stadt Indiens, sind die Straßen voller Männer, alt und jung; sie schlendern, lachen, trinken Tee und diskutieren lautstark die Lage der Welt. „Frauen haben in diesem Bild keinen festen Platz“, sagt Neha Singh, „wir eilen durch diese Szenen, auf dem Weg zur Arbeit, nach Hause, zum Einkaufen – selbst wenn wir nichts zu tun haben, tun wir geschäftig, um nicht verdächtig zu wirken.
2014 fiel ihr ein Buch in die Hände, „Why Loiter“ („Warum wir uns herumtreiben“) – eine Recherche der Journalistin Sameera Khan, der Soziologin Shilpa Phadke und der Architektin Shilpa Ranade, die den Zugang zum öffentlichen Raum in Mumbai untersuchten. Ihre Interviews mit hunderten Frauen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus entzauberten den Mythos von Mumbai als grenzenlose Stadt. „Warum sind so viel weniger Frauen auf den Straßen als Männer, zu allen Zeiten und in allen Ecken der Stadt? Warum tragen Frauen hier Pfefferspray, Schlagringe und andere Waffen in ihren Taschen mit sich? Warum haben Frauen auch in dieser Stadt das Gefühl, sie müssten ihren Aufenthalt auf der Straße rechtfertigen?“
Die Autorinnen zeigen in ihrem Buch, dass die Bewohnerinnen Mumbais genau wissen, wo die ihnen auferlegten Grenzen verlaufen. Am Ende steht die These, dass das Herumlungern in Parks, auf Straßen, an den Stränden ein erster Schritt zur Transformation der Stadt sein kann. Neha Singh las das rund 200 Seiten starke Buch innerhalb von zwei Tagen. Danach wollte sie nichts als raus auf die Straße, um sich herumzutreiben. „Das war für mich der erste Schritt in die Freiheit“, sagt sie heute.
Nach einer kurzen Überfahrt springt Neha Singh von dem kleinen Fährboot ab und geht hinauf zum Häuschen, an dem sie die Überfahrt bezahlt. Es ist 0.15 Uhr. Singh schiebt 10 Rupien über die Theke, zahlt ungerührt von den durchdringenden Blicken des Kassierers. Hier beginnt die einzige Straße auf Madh Island, eine unbefestigte Piste, die jetzt fast völlig verwaist ist. Einzig an einem Kiosk stehen noch zwei Männer, ein Dritter sitzt im Staub daneben, zwei Hunde zu seinen Füßen, ein schwarzer und ein weißer. Zielstrebig läuft Singh auf die Gruppe zu, kauft eine Zigarette und lässt sich vom Kioskbetreiber Feuer geben.
Am Tag sind hier viele Menschen unterwegs, die den Strand im Norden von Mumbai besuchen wollen. Doch nun, in der Nacht, sorgt das Auftauchen einer junge Frau für Aufruhr. Die Männer starren sie an, blicken über ihre Schultern hinweg auf die Straße, ob da noch wer kommt. Neha Singh nimmt einen ersten Zug ihrer Zigarette, bläst den Rauch hoch in die Luft. Sie kennt das, das Starren, das missbilligende Schweigen, die unangenehme, manchmal bedrohliche Stille. Sie dreht sie sich um und fragt den Mann nach dem Namen der Hunde. „Kaallee“, Schwarzer, sagt er mit schwerer Zunge und nickt mit dem Kopf in Richtung des schwarzen Hundes. Nach dem weißen Hund gefragt, lallt er „Auch Schwarzer.“ Neha Singh lacht laut auf, tätschelt die Köpfe der beiden Hunde. Nun lächelt auch der Trinker. Nicht mit Fremden zu sprechen, sei einer der schlechtesten Ratschläge, der ihr als Kind eingebläut worden sei, sagt Singh. Wenn die Angst sich wie eine Mauer zwischen sie und die Welt zu schieben droht, nimmt sie heute Anlauf und springt.
Alles begann mit einem einfachen Parkbesuch. Bei ihrer ersten Aktion vor vier Jahren legte sich Neha Singh gemeinsam mit einer Freundin mittags in einen Park im bürgerlichen Teil des Stadtteils Kandivali, um dort ein Nickerchen zu halten. Was harmlos klingt, löste schnell einen Tumult aus. Immer mehr Passanten blieben stehen und starrten, der Gärtner – um ihre Sicherheit und die öffentliche Ordnung besorgt – redete mit Engelszungen auf die Frauen ein, um sie zum Gehen zu bewegen. Sie blieben liegen. „Wir wollen uns nur entspannen, Onkel“, sagte Neha Singh zu ihm. Danach kam der Gärtner alle fünf Minuten und fragte, ob sie nun fertigt entspannt hätten. Neha Singh lacht ihr lautes Lachen, wenn sie davon erzählt: „Wir waren total überrascht, wie einfach wir mit unserer Anwesenheit Unruhe stiften konnten – und dabei hatten wir auch noch Spaß.“ Nachdem sie Fotos von ihrem Nickerchen auf Facebook gepostet hatte, ging alles sehr schnell: Viele Frauen schrieben sie an, wollten mitmachen. Neha Singh richtete eine WhatsApp-Gruppe ein, dann eine Facebook-Seite und schließlich einen Blog unter dem Titel „Why Loiter“.
Heute treffen sich in Mumbai alle vier Wochen Frauen, um gemeinsam rumzuhängen. 2000 Spaziergängerinnen sind Teil dieser Bande. Die Idee hat sich in ganz Indien und bis nach Pakistan verbreitet: Es gibt mittlerweile politische Spaziergänge in Delhi, Hyderabad, Lahore, die Gruppen sind zwischen einigen hundert und über 10.000 Menschen groß. Die Frauen spazieren tagsüber und nachts, alleine oder in Gruppen, sie spielen Kricket, fahren Fahrrad, gehen mit geschminkten Lippen auf die Straße, mit kurzen Röcken, ohne BH.
So durchbrechen sie, Schritt für Schritt, Spaziergang für Spaziergang, die Grenzen die ihnen ihre Mütter, ihre Eltern, sie sich selbst auferlegt haben. Sie stellen die Traditionen in Frage, die Frauen das Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben absprechen. In Zeiten, in denen die Hindu-Nationalisten das Land regieren, sei das schon sehr viel, sagt Neha Singh. „Frauenrechte sind während der BJP-Regierungszeit immer weiter geschrumpft.“ Derzeit wird in Indien gewählt, bis Mitte Mai nach und nach in allen Landesteilen. Die 900 Millionen Wählerinnen und Wähler werden entscheiden, ob sie den Kurs der Hindu-Nationalisten weiter stützen oder ob die Kongresspartei, die Indien 1947 in die Unabhängigkeit geführt hat, wieder an die Macht kommt.
Wie groß die Bedrohung für die Frauen auf den Straßen Indiens ist, ist schwer zu fassen: Nicht nur, dass Gewalt gegen Frauen in den Städten und auf dem Land sehr unterschiedlich ist. 66 Prozent der Inderinnen leben auf dem Land, die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen liegt außerhalb der großen Städte bis zu sieben mal höher. Das Risiko ist auch in den einzelnen Bundesstaaten und zwischen den sozialen Schichten sehr unterschiedlich. Reine Zahlen helfen da nicht weiter: In Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern wurden im Jahr 2016 knapp 39.000 Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht, drei Vergewaltigungen pro 100.000 Einwohner. In den USA wurden im selben Jahr zehn mal mehr Vergewaltigungen angezeigt.
Statistisch lässt sich das Stigma der indischen Vergewaltigungskultur also nicht beweisen – es sind die Erzählungen von alltäglichen Belästigungen auf der Straße, am Arbeitsplatz, in der Familie, die einen Einblick in das Problem geben. Die öffentliche Debatte darüber wurde maßgeblich von einem Vergewaltigungsfall angestoßen, der weltweit Schlagzeilen machte: Im Dezember 2012 wurde eine junge Frau von einer Gruppe von Männern brutal vergewaltigt und gequält, sie starb an den Folgen. Der Fall löste landesweite Proteste aus – die Sicherheit von Frauen wurde zum öffentlichen Streitthema. „Im Privaten wurden Frauen und jungen Mädchen noch intensiver eingeschärft, dass die Stadt da draußen gefährlich für sie sei“, sagt Sameera Khan, eine der Autorinnen von „Why Loiter“. „Viele Familien nahmen die Debatten zum Anlass, ihren Töchtern den Zugang zum öffentlichen Raum zu verwehren – oft genug taten das die Frauen aus Furcht auch schon selbst.“ Mit jedem neuen, grausamen Mord- oder Vergewaltigungsfall wirkte die Welt da draußen, außerhalb der Wohnungen, der Büros, Cafés und Einkaufszentren, noch bedrohlicher. Die Botschaft an die Frauen des Landes ist eindeutig – einer der Täter im Delhi-Fall erklärte in einem Interview, sein Opfer habe an dem Verbrechen den gleichen Anteil wie er und die anderen Täter: „Ein anständiges Mädchen würde niemals um neun Uhr abends draußen rumlaufen.“
Es ist ein Uhr nachts, Neha Singh schlendert langsam an der Küste von Madh Island Richtung Norden, immer weiter hinaus aus der Stadt, vorbei an verlassenen Stränden. Links der löchrigen Fahrbahn stehen Wellblechhütten, rechts wuchert ein undurchdringlicher Dschungel. Am Horizont glimmen in einiger Entfernung die Lichter der größeren Apartment-Häuser. Auf der düsteren Küstenstraße kläffen und heulen ein paar Straßenhunde. Je riskanter, desto besser – nach diesem Motto wählt Neha Singh die Routen ihrer Spaziergänge aus. Unbeirrbarkeit, so nennt sie es.
Sturheit, so nannte man das wohl in ihrer Familie. Neha Singh wuchs behütet als Kind der aufstrebenden Mittelschicht auf. Das Leben war annehmlich, aber die Traditionen erdrückend: „Als Tochter lebte ich im Zeichen der ständigen Entschuldigung. Während meine Eltern bei der Geburt meiner Brüder Süßigkeiten verschenkten, weinten sie bei meiner.“ In ihrem Blick lodert eine Wut, die dort seit ihrer Kindheit brennt. Eine Wut darüber, dass sie, egal wie sehr sie sich bemühte, die Unbill der Eltern nicht tilgen konnte. „Alles Gute ist in unsere Gesellschaft männlich assoziiert, welcher Platz bleibt da für Frauen“, fragt Neha Singh.
Sie läuft an Verschlägen vorbei, in denen in Decken gewickelt die Fischer schlafen. Die Müllhaufen und Gestrüppe am Straßenrand sind ständig in Bewegung, es wimmelt von Ratten. Neha Singh geht mit gebührendem Abstand in der Mitte der Straße. Aufrecht wie eine Ballerina, durchschreitet sie betont selbstbewusst das Dunkel. Nur vereinzelt sitzen Männer am Straßenrand – wenn sie nicht aufs Wasser starren, starren sie die Frau an, die da vorbeiläuft. Je weiter sie sich von der Stadt entfernt, desto klarer wird: Hier ist Singh auf sich selbst gestellt. Wenn etwas passiert, wenn sie jemand angreift, wird ihr hier niemand helfen.
Neha Singh wird von ihren Mitbürgerinnen aufgrund ihres Auftretens und Aussehens als Angehörige einer privilegierten Schicht erkannt: Ihre schwarze Culottes-Leinenhose gilt als westliche Kleidung, der auffällige Nasenring nicht als traditionell indisch, sondern als modisches Accessoire. Wenn sie spricht, verrät ihre Wortwahl ihren Bildungsstand. Das kann von Vorteil sein, weil potenzielle Angreifer eher Konsequenzen fürchten als bei Übergriffen auf arme Frauen – andererseits kann ihr selbstbewusstes Bummeln auch als Provokation aufgefasst werden.
Die Grenzen der Stadt verlaufen für Frauen aus unterschiedlichen Gruppen und Schichten der Gesellschaft an unterschiedlichen Linien. Während sich Frauen der Ober- und Mittelklasse Freiheiten kaufen können, in dem sie in Taxis durch die Stadt fahren und ihre Freizeit in exklusive Einkaufszentren und klimatisierten Cafés genießen, müssen Frauen aus ärmeren Schichten und marginalisierten Gruppen grundlegendere Kämpfe kämpfen. Die Grenzen verlaufen aber nicht nur zwischen arm und reich, sondern auch zwischen religiösen Gruppen: In den Metropolen geht die Gentrifizierung Hand in Hand mit der Ausgrenzung von Minderheiten, die durch die hindu-nationalistische Regierung unter Druck gesetzt werden. In Mumbai ist es für Menschen mit muslimisch assoziierten Namen in vielen Stadtteilen fast unmöglich geworden, Wohnungen anzumieten – „Muslime unerwünscht“, heißt es in vielen Immobilienanzeigen. Religionsreine Viertel, Apartment-Komplexe und Wohnanlagen gelten als sicherer. „Diese Wagenburg-Mentalität nützt weder den Frauen, noch der Gesellschaft“, sagt Sameera Khan, die Autorin, die in den letzten Jahren zu einer wichtigen Stimme der feministischen Bewegung in Indien geworden ist, ist selbst Mutter zweier Töchter. Auch wenn sie die alles durchdringende Angst davor, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte, kennt, ermutigt sie ihre Töchter, die Stadt zu erkunden und den Risiken zu trotzen. „Meine Angst schafft keine bessere Stadt“, sagt Khan, „aber vielleicht tut es der ungetrübte Entdeckergeist meiner Töchter.“ Khan und ihren Co-Autorinnen geht es um die Transformation der Stadt. Wer sich rauswage auf die Straßen, in die Parks, an den Strand,der knüpfe eine neue Beziehung zwischen sich, den Mitmenschen und der Stadt. Die herumlungernden Frauen sagen, all das beginnt mit einem Spaziergang.
Ein gewisses Risiko nehmen sie dabei bewusst in Kauf, sie wissen nie wie es ausgeht. So wie vor einem Jahr, als plötzlich 30 Männer auf der Straße auftauchen, zu Fuß, auf Motorrädern, einen Kreis um die Frauen bildeten und sie anstarrten, so erzählt es Neha Singh heute. Sie ging in die Offensivem bestand darauf, mit den Männern zu reden und überzeugte sie, sich der Reihe nach persönlich vorzustellen. Am Ende erklärten die Männer kleinlaut, sie hätten nicht gewusst, wie sie sich den fremden Frauen anders hätten nähern können.
Von Polizisten würden die Aktivistinnen oft für Sexarbeiterinnen gehalten, erzählt Neha Singh. Und weil Sexarbeit in Indien illegal ist, erhoffen die Polizisten sich Bestechungsgelder. „Dass wir keine Sexarbeiterinnen sind merken sie schnell. Vor allem, weil wir uns nicht einschüchtern und verjagen lassen“, sagt sie. Ihre Aktionen bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone: Auf der einen Seite ist es das Grundrecht der Frauen, sich frei zu bewegen – gleichzeitig steht im Bombayer Polizeigesetz von 1951: Wer sich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang auf den Straßen herumtreibt und das der Polizei gegenüber nicht zufriedenstellend begründen kann, kann mit Bußgeldern und bis zu einem Jahr Haft bestraft werden.
Das größte Unverständnis ernten die herumlungernden Frauen allerdings in ihren Familien. „Besonders meine Mutter findet, ich sei undankbar und schätze die Freiheiten nicht, die ich schon habe – sie sieht die Grenzen nicht mal, innerhalb derer wir leben“, sagt sie. Wie sehr sie es liebt, nachts durch die Stadt zu Laufen, die Ruhe, die kühle Luft, die leeren Straßen, all das kann die junge Frau ihrer Familie nicht vermitteln. Wie ihr geht es den meisten Herumtreiberinnen: Sie müssen zu Hause lügen, um Spazierengehen zu können. Oft geben sie sich gegenseitig Alibis, um sich vor ihren Eltern, vor ihren Familien und Partnern zu rechtfertigen. Das Spazierengehen bringt ihnen neue Freiheiten, entfremdet sie aber auch von ihrem Umfeld.
Nach zwei Stunde Spaziergang auf Madh Island, kommt Neha Singh um kurz vor zwei Uhr wieder am Steg der Fähre an – gerade rechtzeitig für die letzte Überfahrt. Sie atmet tief ein und aus, ihr offenes Haar weht im Wind, das vom Arabischen Meer her in die Gassen der Stadt weht. „Nur, wer diese Momente kennt kann verstehen, warum wir nachts spazieren gehen“, sagt Neha Singh. Das zwielichtige Madh Island, die Fischersiedlung, die dunkle Bucht, all dies hat sie sich mit diesem Spaziergang erobert. „Das ist jetzt Teil meiner Stadt – ich kann hier von jetzt an jeden Tag und jede Nacht herkommen. Ohne Angst.“
Die Kinder des Umbruchs
taz am Wochenende, Dezember 2019
Von Holger Fröhlich und Julia Lauter
Vor 30 Jahren begann die rumänische Revolution in Timișoara. Heute lebt und arbeitet jeder fünfte Rumäne im Ausland. Eine Geschichte über Rückkehrer, Dableiber und Exportkinder.
Am Stadtrand von Timișoara steht ein steinernes Häuschen im Schatten eines wuchtigen Rohbaus. Es ist eine von Tausenden unvollendeten Ruinen, die in jedem Dorf und in jeder Stadt Rumäniens wie faulende Zähne zwischen gesunden Häusern stehen. Sie alle erzählen von Sehnsucht und zerschlagener Hoffnung.
Neben der Ruine sitzt Andrea Wolfer auf der von Wein überwucherten Terrasse ihres Häuschens. „Ich war gerade ein halbes Jahr alt, als wir das Chaos hier verließen und meine Eltern mit mir nach Deutschland gingen“, sagt sie.
Hier, in Timișoara, im Westen Rumäniens nahe der Grenze zu Ungarn und Serbien, begann vor 30 Jahren jene Revolution, die dem Land neue Hoffnung gab. In diesem Jahr wurde auch Andrea Wolfer geboren. Sie ist ein Kind der Revolution. Heute schimmern auf ihrer Terrasse kleine dunkle Weintrauben zwischen den Blättern hervor.
Wolfer spricht gewähltes Deutsch, sie wohnt im Stadtteil Freidorf, der auch im Rumänischen so heißt, eine deutsche Kolonie. Wolfers Mutter gehört der schwäbischen Minderheit Rumäniens an. Doch bei dieser Erzählung kommt die Tochter ins Stocken. „Wir lebten in der Nähe von Rottweil in Baden-Württemberg. Ich erinnere mich an Spaziergänge durch Parks, an schöne Spielplätze, daran, dass wir uns frei gefühlt haben.“ Doch bereits 1993, kurz nach ihrem vierten Geburtstag, kehrt die Familie nach Timișoara zurück. Ganz plötzlich. Die Eltern erzählen der Tochter nicht, warum.
Wenige Fahrradminuten, einen Steinwurf vom Flüsschen Bega entfernt, legt sich Ema Staicut ein Zuhause aus Steinen und Hölzern. Vor sich hat sie ein tiefblaues Baumwolltuch ausgebreitet und arrangiert Bergkristalle, Muscheln und Rauchwerk darauf. Sie sitzt im Wohnzimmer ihrer Mutter im dritten Stock eines Wohnblocks, in dem die Nachbarn bei allen klingeln, wenn sie gebacken haben, und in dem jeder weiß, wessen Angehörige gerade im Westen zum Arbeiten sind.
Sie zündet eine Kerze an: „Ich habe schon als Kind solche Arrangements gebaut. Selbst wenn ich nur eine Nacht bleibe, kann ich mir so ein Zuhause schaffen.“ Auch Ema Staicut ist im Jahr der Revolution geboren. Die 30-Jährige hat vor vielen Jahren Rumänien verlassen, ihren Besitz trägt sie seitdem in Rucksäcken und Taschen mit sich.
Das ist die Geschichte zweier junger Frauen, deren Lebenswege kaum unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie eines gemeinsam: Über ihnen liegt der Schatten einer unvollendeten Revolution. Beide wurden kurz vor dem Umsturz 1989 in Timișoara geboren, wuchsen in die Wirren jener Jahre hinein und bekamen mit dem EU-Beitritt Rumäniens die Türen zu Europa geöffnet, pünktlich zur Volljährigkeit.
Da ist Andrea Wolfer, deren Eltern sie zum Exportkind – so nennen es manche in Rumänien – erzogen haben, ausgebildet für ein besseres Leben im Westen. Und Ema Staicut, die nie vorhatte, ihr Land zu verlassen.
Während hierzulande die deutsche Einheit gefeiert wird, ist in Rumänien dreißig Jahre später von der Euphorie jener Tage nichts mehr zu spüren. Und während in Deutschland über die friedliche Revolution diskutiert wird, sind die mindestens 1.104 Toten und 3.352 Verletzten der rumänischen Revolution bis heute ungesühnt.
Viel ist passiert seit dem Umsturz vor 30 Jahren, mit dem EU-Beitritt 2007 hat das Land einen großen Schritt nach vorne getan. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf näherte sich dem EU-Mittelwert an, die Wirtschaft wächst beträchtlich. Gleichzeitig bleibt Rumänien eines der ärmsten Länder der Union, leben 16 Prozent der Bevölkerung ohne Zugang zu Sanitäranlagen. Wie tief die Kluft zwischen Stadt und Land ist, zeigt ein Beispiel: Das rumänische Internet zählt zu den schnellsten der Welt – gleichzeitig hat ein Drittel aller Menschen im Land gar keinen Internetzugang.
Die Frage, wer von der Revolution vor dreißig Jahren profitierte, beschäftigt nicht nur Historiker und Gerichte, sondern auch die Menschen auf der Straße: Zehn Jahre nach dem EU-Beitritt fanden erstmals seit 1989 wieder Massenproteste in Rumänien statt. Damals, 2017, plante die Regierungspartei PSD, Korruptionsdelikte zu entkriminalisieren und eine Amnestie zu erlassen.
Die sozialdemokratische Regierung, die nach der Revolution wichtige Posten besetzte, zog nach monatelangen Demonstrationen und auf Druck der EU das Vorhaben zurück. Eine Folge dieser Entscheidung: Im Frühsommer 2019 wurde der Parlamentspräsident Liviu Dragnea wegen Korruption verhaftet. Im November gewann der bürgerliche Kandidat erneut die Wahl zum Präsidenten mit dem Slogan „Für ein normales Rumänien“.
Doch: Was ist normal? Jeder fünfte Rumäne lebt oder arbeitet im EU-Ausland, Deutschland ist wichtigster Handelspartner und erstes Ziel der ausreisenden Rumänen.
Manche Kinder der Revolution wenden sich Rumänien aber wieder zu, freiwillig, wenn sie in der Heimat eine Chance für sich sehen. Oder gezwungenermaßen, wenn sie es im Westen nicht geschafft haben.
Andrea Wolfer kann die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie auf ihrer Veranda in Freidorf von ihrer Rückkehr nach Rumänien erzählt. Auf dem alten Sofa vor ihrem Haus wirkt die große Frau dann sehr klein. Sie blickt auf die Mauern der Bauruine ihrer Eltern. Wolfer war vier Jahre alt, als ihr Vater sie zum Kindergarten in Rumänien zerren musste – das Mädchen wollte nicht ankommen, wünschte sich zurück in das kleine schwäbische Dorf, das ihr Zuhause gewesen war.
Den Grund für die Rückkehr hat Wolfer bis heute nicht erfahren, es bleibt wohl für immer ein Familiengeheimnis. Nur so viel weiß sie: Die Rückkehr nach Rumänien empfanden die Eltern als Niederlage. „Sie wollten die Zeit in Deutschland einfach vergessen“, sagt Andrea Wolfer und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, „deshalb schwiegen sie.“ Ihr Leben war von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe: Im Kindergarten oder auf der Straße konnte Wolfer nicht sprechen, sie verstand kein Rumänisch. Und zu Hause war sie mit der Sprachlosigkeit ihrer Eltern konfrontiert. „Es gab keine Zeit für Geschichten, nur fürs Schuften“, sagt sie. Zurück in Rumänien hatten ihre Eltern nur noch zwei Dinge vor Augen: ein Haus zu bauen, das die ein- fachen Häuschen ihres Viertels in den Schatten stellen sollte – und ihre Tochter eines Tages zurückzuschicken nach Deutschland.
Das Haus errichteten sie auf dem Grundstück der Großtante: doppelgeschossig, mit großem Balkon Richtung Straße, ein Haus wie aus dem deutschen Bilderbuch. Dafür arbeiteten die Eltern unablässig, selbst im Urlaub. Bis die Wirtschaftskrise kam, 2008. Seit elf Jahren steht nun ein Rohbau im Garten, ein Skelett eines Traumes. Im Keller sammelt sich das Wasser, im Dach wohnen die Spinnen. Der Garten wächst Jahr für Jahr weiter ins Innere des Hauses.
Wenige Kilometer entfernt geht Ema Staicut durch die Straßen ihrer Kindheit und Jugend. Staicut ist am liebsten zu Fuß unterwegs, auch wenn sie bis zum Treffen mit ihren Freundinnen, von denen immer eine auch gerade zu Besuch in der alten Heimat ist, anderthalb Stunden gehen muss. So hat sie Zeit für die Erinnerungen, die am Wegesrand liegen: die Brücke als Treffpunkt der Schulschwänzer, der Park mit den Partys zwischen den hohen Platanen, die Bushaltestelle der unzähligen Wartestunden. Vor der Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen, dem Wahrzeichen der Stadt, bleibt sie kurz stehen: „Von hier sieht man noch die Einschusslöcher in den Fassaden“, sagt sie, und zeigt auf die riesenhaften Jugendstil- und Barockbauten, die den Opernplatz säumen.
Hier fielen am 17. Dezember 1989 die ersten Schüsse, schloss die Kirche vor den Flüchtenden die Tore. Innerhalb weniger Tage schwoll der Protest einer Handvoll Wütender zum Massenaufstand an. Sie plünderten Geschäfte und verbrannten die Bücher des Diktators Ceauşescu, dessen Misswirtschaft das Land in Armut geführt hatte. Am folgenden Sonntag standen Panzer in Flammen, das Kreisparteikomitee wurde gestürmt, Ceauşescu erteilte den Schießbefehl, er floh – und wurde am ersten Weihnachtsfeiertag 1989 um 14.50 Uhr hingerichtet.
Mit dem Tod Ceauşescus war die Hoffnung auf ein besseres Leben geboren. Doch an der Korruption hat sich 30 Jahre später kaum etwas geändert. Erst im Mai wurde der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Liviu Dragnea, wegen einer Scheinbeschäftigungsaffäre zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Verhaftung wurde – wie einst der Sturz Ceauşescus – live im Fernsehen bejubelt.
„Ich wollte nie gehen“, sagt Ema Staicut und streicht sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Wenn man sie aus der Ferne zwischen ihren Freundinnen umherspringen und herumalbern sieht, könnte man sie für ein Kind halten. Mit jedem Schritt aber, mit dem man sich ihr nähert, weicht das Bild des Kindes, und vor einem steht eine junge Frau, die zwar von kleiner Statur ist, aber eine große Kraft ausstrahlt.
Lange Zeit habe es ihr in Timișoara an nichts gefehlt: Ihre Mutter, die als Schneiderin arbeitete, hat sie alleine großgezogen, der Vater ging, bevor sie ihn kennenlernen konnte. Die kleine Familie hatte nicht viel Geld, aber sie kam zurecht. Ema Staicut war eine gute Schülerin, die sich für Musik, fürs Theater begeisterte. Mit ihrer Schultheatergruppe trat die damals 14-Jährige auf Festivals in ganz Rumänien auf. Doch auch ihr Leben änderte sich von einem Tag auf den anderen.
„Meine Mutter bekam ein Angebot, als Pflegekraft in Italien zu arbeiten. Sie musste sich sofort entscheiden“, sagt Staicut. „Sie fragte mich, ob ich damit einverstanden wäre.“ Staicut lacht auf: „Natürlich stimmte ich zu: Ich war 16 und wollte meine Freiheit genießen!“ Was das für ihr Leben bedeuten würde, wussten beide Frauen damals noch nicht. „Dass ich tief in mir drin das Gefühl hatte, verlassen worden zu sein, erkannte ich erst viel später“, sagt Staicut. Die Mutter ging nach Italien, die Tochter blieb. Sie telefonierten viel. „Manchmal sagte sie, dass sie das alles nur für mich tat“, erzählt Staicut. „Das habe ich aber nie angenommen. Es war ihre Entscheidung, und ich wollte dafür nicht verantwortlich sein.“
Die Mutter sprach kaum mit ihr über die Zeit der Revolution. Heute sagt sie darauf angesprochen nur schlicht, dass man für einen wirklichen Neuanfang „die da oben“ umbringen müsse. Auch der Tochter hat das Aufwachsen im Umfeld vieler öffentlicher Lügen und Halbwahrheiten das Vertrauen in die Politik zerstört. Den rumänischen Medien traut sie nicht. „Ich versuche lieber, den Menschen aufmerksam zuzuhören, zu verstehen, was sie bewegt. Auf ihre Geschichten stütze ich mich.“
Andrea Wolfer indes wuchs mit dem Gedanken auf, dass nicht Menschen oder Institutionen, sondern das Land entscheidend für ein gutes Leben sei: Sie gehöre nicht nach Rumänien, sondern nach Deutschland, so wurde es ihr beigebracht. Wenn Kindern von Anfang an die finanziell vielversprechendsten Sprachen Europas gelehrt werden, auf dass sie es einmal besser haben und dorthin gehen, wo das Glück zu finden ist, Deutschland, Großbritannien, Frankreich – alles, nur nicht Rumänien. Andrea Wolfer ist ein solches Exportkind. Entgegen jeder Tradition bekam sie den mütterlichen Nachnamen – für einen leichteren Absprung aus der Heimat. Der Besuch der deutschen Schule war gesetzt.
In ihrer Erziehung nahm sie einen Unterton wahr, den sie als Kind schwer deuten konnte, erzählt Wolfer: Sie sei etwas Besseres als die anderen. Das Gefühl, zum Gehen bestimmt zu sein, trennte sie von ihrem Umfeld. „Ich bin in einer Blase aufgewachsen“, sagt sie heute.
Wie jedes gute Kind lehnte sich Andrea Wolfer irgendwann aber gegen ihre Eltern auf. Während diese Auflehnung bei anderen zum Weggehen führt, trat bei ihr das Gegenteil ein – sie blieb, trotz aller Erwartungen der Eltern. Und das, obwohl der EU-Beitritt Rumäniens 2007 alles leichter gemacht hatte und viele ihrer Freunde das Land verließen. „Rationale Gründe, zu gehen, genügten mir nicht. Ich konnte das Aufbrechen einfach nicht spüren“, sagt sie. Stattdessen zog sie in das Häuschen ihrer Großtante neben der Ruine der Eltern und schaffte sich dort ein Zuhause.
Wolfer sagt, in dieser Zeit lernte sie, Rumänin zu sein: „Leidenschaftlich, begeisterungsfähig, wie eine Welle, die über einen drüber schwappt, ohne zu fragen, ob es gerade passt.“ Wolfer studierte Schauspiel in Timișoara, arbeitete am Deutschen Theater als Dramaturgin, betrieb für einige Jahre ein Kunstzentrum in einer verlassenen Zigarettenfabrik. Heute verdient sie ihr Geld mit Übersetzungen, mit deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheaterkursen, mit Deutschunterricht für Kinder. Wolfer bildet die Exportkinder der nächsten Generation aus.
Anders Ema Staicut. Als ihre Mutter ins gelobte Ausland ging, wurden für die Tochter Freunde umso wichtiger. Sie halfen der damals 16-Jährigen über das Alleinsein hinweg. Timișoara vibrierte, und sie und ihre Freunde genossen den Puls der Stadt. Als sie mit der Schule fertig war, verließ sie gemeinsam mit ihrer Clique die Stadt. Zehn junge Menschen, die voller Hoffnung nach Großbritannien aufbrachen. „Meine Mutter war noch immer in Italien, es gab nichts, was mich gehalten hätte.“ An den Moment des Aufbruchs kann Ema Staicut sich nicht erinnern. Sie ging nach Canterbury, studierte Performing Arts. Ein Schauspielstudium in Rumänien konnte sie sich nicht vorstellen – „um Karriere zu machen, muss man hier immer die richtigen Leute kennen. Und freundlich zu ihnen sein. Auf so was hatte ich einfach keine Lust.“
Und Ema Staicut machte Karriere, sie arbeitete an Produktionen in London mit und machte sich als Performerin einen Namen in der freien Szene. Als sie eine feste Stelle als Schauspielerin an einem Stuttgarter Theater bekommt, hat sie genau das erreicht, wofür die Exportkinder ausgebildet werden: einen festen Job in Deutschland. Doch im Gegensatz zu Andrea Wolfer war Ema Staicut nicht zum Ankommen in Deutschland erzogen worden. Heute verbringt sie einen Teil des Jahres in Thailand, spielt an verschiedenen Theatern in Stuttgart und lebt aus dem Koffer.
Die als Exportkind erzogene Andrea Wolfer entschied sich gegen den Mobilitätsdruck, blieb in ihrem Häuschen am Stadtrand Timișoaras wohnen. „Manche nennen mich eine Patriotin, weil ich geblieben bin, weil ich in den Augen der Leute alte Werte hochhalte“, sagt sie und verdreht die Augen. Das Gegenteil sei der Fall: „Ich will, dass Rumänien ganz anders wird, als es heute ist. Deshalb bleibe ich. Ich kämpfe für eine andere Normalität.“
Wer Andrea Wolfers Kampf verstehen will, der muss sie beim Radfahren erleben. Ihr Häuschen liegt am Stadtrand. Um in die Innenstadt zu kommen, fährt sie jeden Tag am Ufer der Bega entlang, vorbei an den zugewucherten Fabrikruinen, an den verrotteten Schwimmbädern aus besseren Zeiten und den zerfallenden k.u.k. Prachtfassaden. Wolfer wirkt zuweilen fahrig, doch im Sattel ihres Rennrads ist sie konzentriert, ihre Bewegungen sind geschmeidig. Sie kennt die Straßen Timișoaras gut, in jeder Straße kommentiert sie Neuerungen. An der Straße neben dem Opernplatz wird der begrünte Straßenrand aufgerissen – Wolfer schimpft: „Die Stadt erstickt, und sie beschneiden die Wurzeln der Bäume.“ Auf dem Gehweg beim Piața Mărăști bekommt ein großer Geländewagen einen Strafzettel – Wolfer ruft: „Richtig so, endlich passiert hier mal was!“ Sie organisiert die „Critical Mass“ in Timișoara, eine Fahrraddemonstration, die es in vielen Städten weltweit gibt. Sie protestieren einmal im Monat für die Verkehrswende, für eine lebenswerte Stadt, die von den Bürgern und nicht den politischen Eliten ge- staltet wird. Jeden Monat verliert sie Mitstreiterinnen, die es leid sind, gegen Mauern zu rennen, und ins Ausland gehen. Wolfer hat ihnen keine Argumente entgegenzusetzen. Sie macht trotzdem weiter.
Als 2017 wieder Massen auf die Straßen gehen, um gegen korrupte Politiker zu demonstrieren, geht auch Wolfer mit. Sie vergisst das Essen, das Schlafen, ist euphorisiert von der Hoffnung, dass endlich alles besser werden würde. Sie ist jeden Tag auf den Beinen, mobilisiert, demonstriert vor dem EU-Parlament in Brüssel. Doch kurz darauf trifft sie und ihre Mitstreiter die Ernüchterung mit voller Härte. „Wir waren naiv, wir dachten, wir bringen mit ein paar Demos die Regierung zu Fall“, sagt Andrea Wolfer heute. Ihr und vielen Mitstreitern wurde klar, wie wenig sie über das politische System ihres Landes wussten. Warum gingen sie nicht wählen? Warum glaubten sie nicht an Parteien? Warum fühlten sie sich so machtlos? „Uns wurde klar, wie sehr die Vergangenheit weiterwirkt.“ Manchmal spricht sie davon, die nächste Bürgermeisterin vom Stadtteil Freidorf zu werden. Nur halb im Scherz. „Wir leben hier viel in unseren Träumen“, sagt sie.
Als Ema Staicuts Mutter aus Italien wiederkehrt, hofft sie, dass auch ihre Tochter wieder in Timișoara Fuß fassen würde – doch die hat sich längst von ihrer Heimat gelöst. Beide mussten lernen, dass man Familie nicht einfach pausieren und später wieder aufsetzen kann. Die Mutter, nun Rentnerin, muss ihr Leben neu erfinden, die Tochter taucht nur ab und an als Besucherin auf. „Ich kann nicht nur für sie zurückkommen – so, wie sie nicht nur für mich bleiben konnte.“
Staicut sei mit ihrem Leben als Reisende versöhnt, sagt sie: Trotzdem hat sie einen Traum, den sie gemeinsam mit ihren rumänischen Freunden, die auf der Welt verstreut leben, träumt: Sie haben ein Stück Land in Zentralrumänien, auf dem sie sich Hütten bauen wollen. Jeder eine, aber alle zusammen. „Wir wollen gemeinsam in der Natur alt werden“, sagt Staicut.
In diesem Sommer, 30 Jahre nachdem der Umsturz in ihrer Heimatstadt losbrach, beginnen Ema Staicut und ihre Freunde, an ein Zuhause in Rumänien zu glauben. Sie hoffen, dass junge Menschen wie Andrea Wolfer so lange die Stellung halten.
Früchte des Zorns
fluter, Juni 2018
Ein jahrzehntelange Protest gegen das Endlager Gorleben hat die Menschen im Wendland politisiert. Er macht bis heute aus der Gegend eine Heimat widerständiger Seelen.
Am Anfang war der Streit. Dessen Wurzeln liegen in den Tiefen des Gartower Forstes, wo die Bäume so dicht stehen, dass ihre grauen Stämme nach wenigen Metern zu einer dunklen Wand verschmelzen. Folgt man den sandigen Pfaden immer weiter ins Gehölz, hört man irgendwann ein Brummen und sieht auf einer Lichtung: das Zwischenlager Gorleben. Ein Zaun, ein Wachmann und dahinter die graugrünen Hallen voller Atommüll: 584 Fässer mit mittel- und schwachradioaktivem und 113 Castoren mit hochradioaktivem Material.
Eigentlich sollten sie alle mal im Endlager Gorleben verschwinden, das man zu diesem Zweck in einem benachbarten Salzstock errichten wollte. Bis die Politik das umstrittene Projekt 2013 kippte.
Wer heute vom Wendland spricht, meint meist den Landkreis Lüchow-Dannenberg, der zwischen Hamburg und Berlin südlich der Elbe in einer sanft geschwungenen Hügellandschaft liegt. 50.000 Menschen wohnen hier im nordöstlichsten Zipfel Niedersachsens. Bis 1989 war der Landkreis von Grenzen umzogen, Zonenrandgebiet nannte man das, es fühlte sich an wie das Ende der Welt.
Die Wenden, auf die der Name zurückgeht, waren Slawen im deutschsprachigen Raum, eine Minderheit in der Region, anders als die anderen. Damit identifizierten sich viele Menschen, die ab den 1970er-Jahren hierherzogen: Künstler, Aktivisten, Freiheitsuchende. Ihre Utopie nannten sie „Wendland“ – im Gedenken an den eigensinnigen, den wendischen Geist. Bis heute gibt es im Wendland keine Autobahn, kaum Industrie, kaum Handyempfang, nur ein paar verstreute Dörfchen, Wälder und Felder. Hier glauben die Menschen, dass die Strukturschwäche ihnen Glück gebracht hat: eine Chance auf die Entwicklung alternativer Strukturen.
Im Mai 1980 wurde auf einem zuvor abgebrannten Waldstück nahe der Tiefbohrstelle 1004, die der Vorbereitung des Endlagers dienen sollte, die „Republik Freies Wendland“ ausgerufen. Die rund 1.000 Aktivisten wollten ein Zeichen gegen die Atompolitik setzen und basisdemokratisches Gemeinschaftsleben erproben. 33 Tage hielt die Republik, dann wurde die zeitweise auf 2.500 Menschen angewachsene Gruppe von der Polizei mit Bulldozern und Schlagstöcken aufgelöst – und der Mythos Wendland war geboren. Wurde der Protest bis dahin von linken Aktivisten aus Hamburg und Berlin getragen, traf er nun auf breite Zustimmung. Auch die alteingesessenen, eher konservativen Wendländer schlossen sich an. Aus linksökologischem Widerstand wurde im Laufe der Zeit eine Bürgerbewegung.
Zwischen 1995 und 2011 fuhren regelmäßig Castortransporte mit Atommüll aus Deutschland und Frankreich ins Wendland. Die fünfte Jahreszeit nannte man das hier. Landwirte, Aktivisten, Studenten und Künstler kamen zusammen, um die Zufahrtsstraßen und Bahngleise zu blockieren. 50.000 Demonstranten (die Polizei geht von der Hälfte aus) sollen es zuletzt gewesen sein. Die großen ungelösten Fragen der Atomenergie standen im Fokus der Proteste: Wie zukunftsträchtig ist eine Industrie, deren gefährlicher Müll noch nirgends sicher untergebracht werden kann?
Jedes Jahr wurde aufgerüstet: Wo sich Aktivisten in den ersten Jahren nur auf Gleise gesetzt hatten, ketteten sie sich später an oder verankerten ihre Körper an einer 600 Kilo schweren Pyramidenkonstruktion aus Beton und Rohren, die nicht mehr von den Gleisen zu bewegen war. Die Polizeikräfte, die aus dem ganzen Bundesgebiet entsandt wurden, galten vielen Wendländern als Besatzer. Es war viel los beim Castorkarneval. Diese Erfahrungen haben die Wendländer bis heute geprägt.
Familie Tempel steht stellvertretend für die wendländische Protestgeschichte. Um sie zu besuchen, passiert man auf immer schmaler werdenden Wegen Felder und Wälder, fährt vorbei an pittoresken Fachwerkhäusern, Pferdekoppeln, blühenden Obstbäumen. Ein Bullerbü-Idyll, das nur durch die gelben, x-förmigen Holzkreuze gebrochen wird. Am Tag X, so die Botschaft, steht man hier zusammen. Eine Verschwörung, die zum Mitmachen einlädt: Bist du mit uns? Gegen den Castor und für eine andere Art zu leben?
Katja Tempel lebt in einem Häuschen im Dorf Meußließen. Im Wohnzimmer brennt ein Holzofen – es ist ein regnerischer Tag. Eine graue Katze umstreicht ihre Beine, während sie erzählt: Ihre Eltern, Helga und Konrad Tempel, sind wichtige Vordenker der deutschen Friedensbewegung. Sie brachten die Ostermärsche gegen die atomare Bewaffnung nach Deutschland, gründeten 1980 die „Kurve“, eine Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion in Wustrow, und gaben die erste deutsche Ausgabe von Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ mit heraus.
Katja Tempel kam ins Wendland, um in der „Kurve“ zu arbeiten, war von Beginn an bei den Protesten gegen die Castortransporte dabei, hat das Aktionsnetzwerk „X-tausendmal quer“ gegründet. Ihre Tochter, Clara Tempel, war schon als Kind bei Demonstrationen dabei und gründete mit 17 Jahren das „Jugendnetzwerk für politische Aktionen“, das mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Der aktive Pazifismus gehörte bei den Tempels einfach dazu.
Als die Castortransporte eingestellt wurden, war das für Katja Tempel zunächst mehr Schock als Triumph. Sie stand in ihrer Küche und weinte. „Es war ein Endpunkt“, sagt sie. Doch dann erkannte sie, dass es viel zu tun gab. „Wir begannen, die alten Seilschaften nicht nur gegen Castoren, sondern auch für Menschen zu nutzen.“ 2015 unterstützte Tempel als Hebamme Flüchtlinge in den drei Notunterkünften des Landkreises, setzte sich für deren Rechte ein. Ein kurzer Anruf und viele seien wieder zur Stelle gewesen, sagt Tempel. Es war keine neue Massenbewegung, aber ein erster Schritt zur Transformation der Widerstandskräfte.
Und die wirken heute weit über den Landkreis hinaus: Aktionsstrategien, die während der Zeit der Castortransporte erfunden und erprobt wurden, sind heute das Einmaleins des Widerstands. Wenn „Blockupy“ die Frankfurter Innenstadt lahmlegt, um gegen die Politik der Europäischen Zentralbank zu protestieren, wenn „Ende Gelände“ den Kohletagebau im Rheinland und in der Lausitz besetzt, um für den Klimaschutz Stimmung zu machen, dann passiert das auf Grundlage des wendländischen Widerstandswissens. „Es ist schön zu sehen, wie unser Wissen jetzt an anderer Stelle weiterwirkt“, sagt Katja Tempel. Für sie ist der Widerstand Teil ihrer Identität geworden: „Wendländerin zu sein heißt politisch aktiv zu sein: nicht im Kreistag, sondern auf der Straße!“
Ein weiteres Zentrum dieser Entwicklung ist die Kommune Meuchefitz. Am Ende einer Straße voller Schlaglöcher taucht zwischen den Rapsfeldern wie aus dem Nichts ein imposantes Fachwerkhaus auf. Der Landgasthof wurde nach der Räumung der „Republik Freies Wendland“ zu einem wichtigen Treffpunkt der politisch Aktiven. Seither trifft sich die Szene dort in der Donnerstagskneipe. Rund zehn Menschen leben in der Kommune und betreiben ein Tagungshaus und einen Gasthof.
Nach dem Ende der Castortransporte wollen sie nun neue politische Diskurse im Wendland anstoßen. Neu ist, dass die Themen sich nicht nur gegen einen übermächtigen Feind von außen wenden, sondern die Dörfer und ihre Bewohner selbst betreffen: Rassismus, Naturschutz, patriarchale Strukturen, Kapitalismus, Konsum. Jetzt wird der Streit persönlich. Künstler waren von Anfang an eine wichtige Kraft für die Proteste. Malerinnen wie Uta Helene Götz und Irmhild Schwarz prägten die äußere Ästhetik des Widerstandes, machten aus Flugblättern, auf denen alles draufstehen musste, Pla- kate, die bis heute wirken und ausgestellt werden. Aus politischen Kunstaktionen und Werkausstellungen entwickelte sich 1990 die KLP, die „Kulturelle Landpartie“. „Wir wollten den Leuten da draußen zeigen: Guckt uns an, wir sind die Chaoten, von denen in der Presse zu lesen ist“, sagt Michael Seelig.
Wie ein Chaot sieht der 76-Jährige nicht aus: Graues Haar, grauer Bart, Hemd, Pullover, ruhige Gesten – er trägt den Stil, den man heute mit dem Wendland verbin- det. 1974 zog der Kunst- und Werklehrer aus Hamburg ins Wendland, die Landpartie sei sein Kind, sagt er.
Heute ist die KLP auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region: Schätzungsweise 60.000 Menschen kommen jedes Jahr zwischen Himmelfahrt und Pfingsten für zwölf Tage ins Wendland. In 88 Orten präsentieren knapp 1.000 Menschen ihre Kunst, ihr Handwerk, teilen ihr Interesse und öffnen ihre Türen, um Einblicke in ihr Leben zu ermöglichen. Es gibt mittlerweile Jodelkurse und Mondscheinsensen – darüber, wie politisch das Programm sein muss und wie kommerziell es sein darf, wird offen gestritten. Aber darum geht es im Wendland ja auch: ums Streiten. „Das Endlager hat ja Arbeitsplätze versprochen. Es war an uns, zu zeigen: Eine andere Entwicklung ist möglich – in der Energie, in der Landwirtschaft, im kulturellen Leben.“
Diese Idee trägt Seelig bis heute voran. Manche sagen, er werde noch auf dem Sterbebett ein Projekt anstoßen. Seelig sagt, das sei der Fluch der Tat. Sein neuester Streich ist die „Grüne Werkstatt“ in Lüchow. Der Verein hat im alten Postamt des Städtchens den ersten Coworking-Space im Landkreis eingerichtet und will über die Vernetzung von Hochschulen mit der regio- nalen Wirtschaft neue, frische Köpfe ins Wendland locken.
„Der Blick zurück, das Beschwören des früheren Widerstands, das hängt mir zum Halse raus“, sagt Seelig. Er will die einzigartigen sozialen Strukturen, die Derivate des Streits um die Atompolitik, nutzen und weiterentwickeln. „Das sind die wirklichen Früchte des Widerstands“, sagt er. Seit 2011 wird hier mehr erneuerbare Energie produziert als verbraucht – das Wendland ist seither unabhängig von Kohle- und Atomstrom. Außerdem ist es landesweit Spitzenreiter im ökologischen Anbau: In Niedersachsen werden weniger als vier Prozent der Fläche ökologisch bewirtschaftet – in Lüchow-Dannenberg sind es fast 14 Prozent.
Viele Landwirte, die in der bäuerlichen Notgemeinschaft organisiert sind und die Castorblockaden immer tatkräftig unterstützt haben, sind mittlerweile in der Agrarwende-Bewegung aktiv. Zu der jährlichen Demonstration „Wir haben es satt!“ fahren sie mit dem Trecker über 200 Kilometer nach Berlin.
Die neueste Vision im Wendland: ein Modelldorf gegen Abwanderungen, das Menschen aller Generationen zusammenbringen will, egal ob alteingesessen oder in die Region geflüchtet. Auf dem 2,3 Hektar großen Feld am Rand von Hitzacker soll bis Mitte Juni das erste Haus stehen. Später soll der Ort wachsen und rund 300 Menschen beheimaten, die gemeinsam und basisdemokratisch herausfinden wollen, was es braucht, um auf dem Land gut zu leben und zu arbeiten. Obwohl vielerorts das Mondscheinsensen die Gleisbeset- zungen abgelöst hat und der Kuchenverkauf die Systemfrage, ist das Wendland bis heute ein Ort, an dem es sich trefflich streiten lässt – und leben.
Sein Herz schlägt weiter. Irgendwo
fluter, März 2018
Auch nach dem Tod kann der Körper noch nützlich sein: wenn man seine Organe spendet. Doch wie läuft das genau ab? Wir haben den Weg der Organe verfolgt – vom Abschied bis zum Neuanfang – und die Menschen begleitet, die diese Reise ermöglichen.
Prolog
Anita Wolf hält sich an der Hand ihres Mannes fest. Sie sitzt an seinem Bett, seine Hand ist warm, sein Gesicht entspannt. Der Trubel der Intensivstation – das unablässige Fiepen der Maschinen, das grelle Blinken der Geräte –, all das rückt ganz weit weg von ihr. Es wird still in Anita Wolf. Ihr Mann ist hirntot. Das hat der junge Arzt gesagt, dessen Schuhe bei jedem Schritt auf dem Linoleumboden quietschen. Irreversibler Funktionsausfall des Großhirns, Kleinhirns, Hirnstamms. Am frühen Morgen hatte ihr Mann aufgehört zu atmen. 60 Jahre alt, nach einem schweren Schlaganfall gerade eine Woche wieder zu Hause. Der Notarzt hatte ihn wiederbelebt. Sein Herz pumpt weiter zuverlässig Blut durch den Körper – doch das Gehirn ist bereits gestorben.
Seine Hand ruht in ihrer Hand. Der junge Arzt ist immer noch da. Anita Wolf spürt, dass da noch etwas ist, sie wartet. Schließlich fragt der Arzt: Wissen Sie, wie Ihr Mann zur Organspende stand? Anita Wolf atmet tief ein und aus. Der Tod, er war immer so weit weg. Einen Organspenderausweis haben beide nicht. Der Arzt erklärt, was bei der Spende passieren würde, Anita Wolf schwirrt der Kopf. Was hätte ihr Mann gewollt? Nehmen Sie sich Zeit zum Nachdenken, sagt der Arzt, die zweite Hirntoddiagnose machen wir erst morgen. Anita Wolf ist erleichtert, denkt: Gut, dann hab ich ihn noch länger. Sie bleibt am Bett ihres Mannes sitzen. Sie will bei ihm sein. Einfach neben ihm sitzen und weiteratmen.
Gleich kommt jemand von der Stiftung für Organtransplantation, sagt der Arzt noch, mit dem können Sie sprechen, alles fragen und in Ruhe entscheiden. Anita Wolf nickt, ja, sie will mehr erfahren. Aber sie ist bereits entschlossen: Ihr Mann hat immer gern geholfen, nun sollen seine Organe anderen das Leben retten.
Für den Gesunden ist der Körper meist nur das, was man im Spiegel sehen kann: Augen, Haut, Arme, Beine. Für die Körperteile unter der Haut bekommen wir oft erst einen Sinn, wenn sie uns im Stich lassen: die Lungenflügel, die Nieren, das Herz. Unsere Organe sind ein unsichtbarer Schatz, dessen Wert wohl niemand besser kennt als die rund 10.000 Menschen in Deutschland, deren Leben von einem gesunden Organ abhängt. Die Chance, durch die Spende einer Leber, Niere, eines Herzens geheilt zu werden, ist hierzulande gering. Im letzten Jahr spendeten in Deutschland nur 797 Menschen nach dem Tod ihre Organe, der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Das hat viele Gründe: Das Vertrauen der Menschen in die Organspende wurde immer wieder durch Skandale erschüttert. Zudem ist die eigene Sterblichkeit zu Lebzeiten ein unbeliebtes Thema, rund 40 Prozent der Deutschen sind noch unentschieden, ob sie Organspender sein wollen oder nicht. Und es gibt strukturelle Hürden: Die Kliniken meldeten in den vergangenen Jahren nur sehr wenige potenzielle Spender an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) – das mag auch an der Arbeitsverdichtung und dem wachsenden wirtschaftlichen Druck auf den Intensivstationen liegen. Fakt ist: Täglich sterben durchschnittlich drei Patienten, die vergeblich auf ein Spenderorgan gewartet haben.
Helmut Kirschner klingelt an der Tür zur Intensivstation. Der Koordinator der DSO ist Gast hier und muss wie alle Besucher warten. Er organisiert im Auftrag der gemeinnützigen Stiftung die Organspenden in Norddeutschland – ein Handlungsreisender für Organe. Kirschner läuft zielstrebig durch die Intensivstation, ein Reich aus unzähligen Fluren und Krankenzimmern. Alle tragen hier grüne Schutz- und Arbeitskleidung, die Angehörigen erkennt man an den angespannten Gesichtern. Kirschner betritt das Stationszimmer, man kennt sich, man grüßt sich. Ist schon wieder jemand gestorben?, fragt ein Arzt. Kirschners Erscheinen bedeutet immer auch, dass jemand nicht mehr gerettet werden konnte. Doch Kirschner lässt sich davon nicht beirren – er ist für die Lebenden hier. Wenn ein Mensch hirntot ist, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten, sagt er, gleich die Maschinen abstellen oder vor dem Abschalten noch Organe spenden. Mehr Optionen gibt es nicht. Wenn man es nüchtern betrachtet, dann kann der Tod des einen das Leben des anderen bedeuten, sagt Kirschner. Er sieht die Sache nüchtern, das ist sein Markenzeichen.
Der Koordinator lässt sich von einer Schwester in das Zimmer seines heutigen Falls führen, einer hirntoten Spenderin. Sie ist fast 80 Jahre alt. Nichts als ein kleines Pflaster am Kopf zeugt von dem Sturz, der sie hierhergebracht hat. Nur wer länger hinsieht, bemerkt: Vor jedem Atemzug piept das Gerät neben dem Bett, das Heben und Senken des Brustkorbes wirkt mechanisch, das Ausatmen klingt pfeifend. Die Frau ist tot, doch ihr Herz-Kreislauf-System kann mit den Mitteln der Intensivmedizin für begrenzte Zeit aufrechterhalten werden.
Dieser neue Zustand wurde 1959 erstmals von den französischen Ärzten Pierre Mollaret und Maurice Goulon beschrieben, sie nannten ihn „Coma dépassé“. In den folgenden Jahren untersuchten Forscher auf der ganzen Welt das Phänomen. 1968 erklärte eine Ad-hoc-Kommission aus Theologen, Juristen und Medizinern der Harvard Medical School diesen irreversiblen Funktionsausfall zum Hirntod. Er sollte den Kreislaufstillstand als Todesdefinition ablösen. Als lebendig gilt man seitdem nur noch, wenn auch im Hirn noch Funktionen nachweisbar sind.
Kirschner nimmt der Patientin Blut ab und schickt es ins Labor der DSO zur erneuten Bestimmung der Blutgruppe und zur Untersuchung auf Virusinfektionen. Seine Handgriffe sind ruhig, fast bedächtig. Die Patientin ist stabil, da verbreiten wir keine Hektik, sagt Kirschner mit einer sanften süddeutschen Sprachfärbung. Er beugt sich wieder über die Patientenakte. Bis zur Meldung an Eurotransplant, wo die Verteilung der Organspenden für acht europäische Länder koordiniert wird, gibt es für Kirschner nur Daten und Kaffee. Er hat seit dem Frühstück nichts gegessen. Äußerlich hat der Koordinator Ähnlichkeit mit Loriot: das graue, schüttere Haar, die sehr aufrechte Körperhaltung, die kleinen, wachen Augen. Seine Aufgabe verlangt die Zähigkeit eines Langstreckenläufers, manchmal sind die Koordinatoren der DSO bis zu 24 Stunden mit einer Organspende beschäftigt. Viele Menschenleben hängen von Kirschners Arbeit ab.
Ein Internist betritt das Zimmer, um die Organe mit Ultraschall zu untersuchen. Er schiebt das Hemd der Frau hoch und legt den Bauch frei. Das wird jetzt kurz kalt, sagt er zu der Hirntoten und trägt das Kontaktgel auf. Der Arzt weiß, dass sie ihn nicht hören kann. Doch die Ansprache, die mitfühlende Warnung ist so sehr Teil seiner Routine, dass sie vor dem Hirntod nicht haltmacht. Für den Internisten ist die Spenderin, für die es keine Rettung mehr gibt, immer auch noch eine Patientin.
Nach zahlreichen Untersuchungen, Gesprächen mit den behandelnden Ärzten und dem Hausarzt der Spenderin kommt Kirschner zu dem Schluss, dass nur Leber und Nieren für die Spende infrage kommen – die restlichen Organe sind schon zu stark beeinträchtigt. Leicht fällt diese Entscheidung nicht angesichts der immer weniger werdenden Spenden. Fast jeder ist bereit, sich ein fremdes Organ transplantieren zu lassen, wenn es ihn rettet, sagt Kirschner. Leider sind zu wenige Menschen im Gegenzug bereit, ihre Organe nach ihrem Tod zu spenden.
20 Jahre lang hat Helmut Kirschner als Chirurg gearbeitet, bis er dem Angebot folgte, die Deutsche Stiftung Organtransplantation Region Nord aufzubauen, nun steht der 65-Jährige kurz vor seiner Pensionierung. Ruhig bleiben, das lernt man mit den Jahren, sagt er. Er fährt fort, die Werte der Spenderin in seinen Laptop zu tippen, mit zwei Fingern. Ihre Lebensgeschichte verdichtet sich zu Zahlenreihen. Sieben Stunden dauert das Prozedere aus Untersuchungen, Datensammlung, Abstimmungen. Dann geht alles ganz schnell. Helmut Kirschner schickt die Meldung mit einem Klick an Eurotransplant und setzt damit einen mächtigen, acht Länder umfassenden Mechanismus in Bewegung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Die Schaltzentrale der Organverteilung sitzt in Leiden, in den Niederlanden: ein überschaubarer Büroraum, in der Mitte ein großer Tisch, sechs Arbeitsplätze mit Computern und Telefonen, an der Wand ein Bildschirm mit eingehenden Organspenden. Live, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, aus Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Österreich, Slowenien, Ungarn, Kroatien und Deutschland.
Allocation Duty Officer, so heißen die Menschen, die hier Organe verteilen. Einer von ihnen ist Annemieke Vijverberg-Poot. Wenn an einem Tag sechs Organspenden auf einmal reinkommen, sind das potenziell 54 Organe, die vermittelt werden müssen, dann brennt im Büro die Luft, sagt Vijverberg-Poot und lacht fröhlich. Diese Tage machen ihr am meisten Spaß. Sie mag Stress. Sechs Spendermeldungen pro Tag, das war 2017 der Durchschnitt bei Eurotransplant. Wenn die Meldungen einmal da sind, hat Vijverberg-Poot nur wenige Stunden Zeit, um die Organe zu vermitteln.
Die Basis für die Organvermittlung, die „Allokation“, wie es hier heißt, ist das Matching. Es ist wie bei einer Internet-Partnerbörse, nur dass es beim Organmatching die Liebe auf den ersten Blick sein muss – eine zweite Chance gibt es nicht. Das Matching basiert auf Algorithmen, die auf Grundlage der Organverteilungsrichtlinien programmiert wurden. Die Ärzteschaft der Mitgliedsländer legt die medizinischen Vergabekriterien fest. Die Liste ist lang: Blutgruppe, Gewicht, Größe, Alter sind entscheidend, aber auch die Logistik: Eine undurchblutete Lunge kann nur maximal sechs Stunden überleben, eine Niere je nach Alter bis zu 24 Stunden. Die zwei wichtigsten Fragen sind: Wie dringend braucht der Patient ein neues Organ – und wie hoch sind die Chancen auf Erfolg? Die Wartezeit des Empfängers und die nationale Organaustauschbilanz, die dafür sorgt, dass kein Land zu viele Organe abgibt oder bekommt, stehen bei der Vermittlung hintenan.
Am Ende des Prozesses existiert eine Liste, auf der mögliche Empfänger stehen. Annemieke Vijverberg-Poot geht die Liste durch und informiert die Transplantationszentren der Reihe nach, immer zwei gleichzeitig, sodass bei einer Absage so wenig Zeit wie möglich verloren geht. Hier, in der Schaltzentrale in Leiden, rettet ihr Sprach- und Kommunikationstalent Leben.
Helmut Kirschner steht vor der Klinik, vertritt sich die Beine. Frische Luft nach der Arbeit auf der klimatisierten Intensivstation, etwas Ruhe nach dem Trubel der vergangenen Stunden. Draußen ist es Nacht geworden. Doch bald fängt es wieder an, im Minutentakt klingelt sein Handy – die Transplantationszentren wollen sich mit dem erfahrenen Koordinator besprechen, nebenbei wird schon die Logistik in die Wege geleitet: Für die Nieren bestellt die DSO Fahrer und Fahrzeuge, die Leber soll mit einem Kleinflugzeug abgeholt werden. Wohin, das muss geheim bleiben. Das deutsche Transplantationsgesetz fordert einen strengen Datenschutz, der sowohl die Angehörigen der Spender als auch die Empfänger schützen soll.
Um 23 Uhr wird die Spenderin in den OP gefahren. Ein Entnahmeteam ist extra dafür angereist: erfahrene Chirurgen von Transplantationszentren, die an diesem Tag, wie Kirschner, Bereitschaftsdienst haben. Auf den ersten Blick erweckt alles den Eindruck einer ganz normalen OP, grelles Licht, grüne Kittel, Operationsbesteck. Und doch ist alles anders: Der kommende Eingriff hat nicht den Zweck, die Frau auf dem Operationstisch zu heilen, sondern andere. Ihr Körper wird geöffnet, die Leber und die Nieren freigelegt und noch mal in Augenschein genommen. Dann die Enttäuschung: Die Leber kann doch nicht verwendet werden. Obwohl die Werte unauffällig waren, ist das Organ doch zu stark geschädigt für eine Transplantation. Weil wir so ein geringes Spendenaufkommen haben, drehen wir jedes Organ dreimal um, bevor wir uns gegen eine Entnahme entscheiden, sagt eine Ärztin. Aber hier ist nichts zu machen. Helmut Kirschner läuft mit dem Handy raus, um die schlechte Nachricht weiterzugeben. Ein Mensch verliert für heute Nacht die Chance auf einen Neuanfang. Bleiben noch die beiden Nieren.
Bevor sie dem Körper der Spenderin entnommen werden, wird über die Bauchaorta eine gekühlte Konservierungslösung in den Körper gepumpt, die Organe durchgespült. Das Herz der Spenderin hört auf zu schlagen, die Beatmung wird gestoppt. Der Körper wird nun mithilfe von eiskalter Kochsalzlösung schnell heruntergekühlt und die Nieren entnommen. Die Haut der Spenderin wirkt im grellen Licht der Operationsleuchten fast weiß. Rund 72 Stunden nach der Hirntoddiagnose kommt nun auch ihr Körper zur Ruhe.
Im Vorraum des Operationssaals nehmen die studentischen Mitarbeiter der DSO die Nieren entgegen: etwas mehr als eine Handvoll rosa-gelblichen Gewebes. Es schwimmt in einer Lösung in einem durchsichtigen Plastikbeutel. Vorsichtig, fast andächtig werden sie einzeln auf steriles zerstoßenes Eis gebettet, das in einer Polystyroltruhe liegt. Auch solche Nachtschichten kommen irgendwann zu einem Ende, sagt Kirschner, während er die versiegelten Pakete auf einem quietschenden Wägelchen durch die Katakomben der Klinik fährt. Er wirkt jetzt müde, man sieht ihm die Anstrengung der letzten 13 Stunden an. Vor der Tür der Klinik übergibt er die Pakete den Fahrern, die die Organe durch die Nacht zu den Wartenden bringen werden. Ihre Reise beginnt jetzt.
In den Transplantationszentren wird derweil schon alles für den nächsten Schritt vorbereitet: die Verpflanzung des Organs in den neuen Körper. Transplantationskoordinatoren wie Robert Kütemeier am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg sind die Überbringer der frohen Botschaft für die Empfänger. Viele warten schon seit Jahren auf unseren Anruf, sagt er, wir arbeiten hier am Happy End der Geschichte. Vielleicht die dankbarste Aufgabe in diesem Dreischritt der Organtransplantation.
Kütemeier organisiert die schnelle Anreise der Patienten, informiert das Transplantationsteam und sichert einen freien OP für die Organverpflanzung. Für kurzfristige Absprachen ruft er auch noch bei Annemieke Vijverberg-Poot und ihren Kollegen von Eurotransplant an oder bespricht sich mit den Koordinatoren der DSO wie Helmut Kirschner. Und dann wird das Organ dem Empfänger eingepflanzt. Kütemeier, der jahrelang als Pfleger auf der Intensivstation gearbeitet hat, lächelt, wenn er über gelungene Transplantationen spricht. Bei dieser Arbeit müssen Sie sich niemals die Sinnfrage stellen, sagt er. Die Menschen, die das Transplantationszentrum gesund verlassen, feierten noch einmal Geburtstag.
Epilog
Ein Jahr ist es her, dass Anita Wolf die Hand ihres Mannes losgelassen hat. Er lag im Bett, wie schlafend. Dann wurden ihm Herz, Nieren und Leber entnommen und drei Menschen mit seinen Organen gerettet. Nach sechs Wochen kam ein Dankesbrief der DSO: Die Transplantationen seien erfolgreich gewesen, die Empfänger hätten die Kliniken verlassen, es gehe ihnen gut. Sein Tod hat so einen Sinn bekommen, sagt Anita Wolf, sie weint dabei. Die Trauer um ihren Mann, sie ist durch die Organspende nicht weniger geworden. Aber die Spende war eine Öffnung hin zum Leben, sagt sie. Das Herz ihres Mannes schlägt weiter. Irgendwo.
Der Soundkauz
Greenpeace Magazin, Dezember 2017
Dominik Eulberg liebt die Natur. Und er liebt die Musik. Als DJ verbindet er beide Leidenschaften: Mit Sounds aus Wald und Feld bringt der Ökologe auf der ganzen Welt Menschen zum Tanzen – und die Goldammer in den Club
Manchmal muss man raus in den Regen, muss durch knöcheltiefen Matsch waten und regungslos im Schilf kauern, um die Liebe zu finden. „Das ist etwas ganz Besonderes“, flüstert Dominik Eulberg und schaut durch sein Spektiv in die Mitte des kleinen Sees hinter seinem Haus. Zwischen Graureihern, Stockenten und jeder Menge Blässhühnern steht ein mittelgroßer Vogel mit weißem Gefieder. „Löffler“, sagt er begeistert, und nochmal, leiser, „etwas ganz Besonderes.“ Eulbergs blondes Haar hängt ihm in die Stirn, er trägt es wie einen Hut, tief ins Gesicht gezogen, darunter die blauen Augen konzentriert zusammengekniffen. Das sei das erste Mal seit fast siebzig Jahren, dass dieser Vogel auf seiner Reise nach Afrika hier Halt mache, erklärt er. Der Beobachtete stolziert durch den Schlick des Weihers, schwenkt seinen Kopf gemächlich von links nach rechts und filtert dann mit seinem löffelförmigen Schnabel Futter aus dem Wasser. Eulberg nickt zufrieden und schaut vom Spektiv auf. „Unsere Liebe wird von der Natur nicht erwidert“, murmelt er. „Vielleicht ist gerade das das Schönste.“
Dominik Eulberg, 39, ist Ökologe – und DJ. Er tourt durch Clubs auf der ganzen Welt, sein Sound ist unverwechselbar: Eulbergs Musik malt Naturporträts mit Tönen und Beats. Die Titel seiner Stücke setzen den Rahmen: Der „Tanz der Glühwürmchen“, ein Track seines aktuellen Albums, steigt ein mit einem wummernden Bass, einem harten Beat. Der Klang ist düster, er treibt den Zuhörer vor sich her, in den Wald, ins Moor. Dann setzen sanft Hochtöne ein, die Percussions klingen wie die letzten Regentropfen, die nach einem Schauer von den Bäumen perlen. Zaghaft nähert sich von fern eine Melodie. Es sind die Glühwürmchen, die auf einer Lichtung auftauchen, plötzlich nah am Ohr des Zuhörers, wieder davonschweben und ihn weiter in den dröhnenden Wald locken. Das ist Eulbergs Zauberei: Augenblicke wie diesen in Musik zu übersetzen – um ihn dann mitten in Berlin, Hamburg, Paris oder London auferstehen zu lassen.
Eulberg selbst lebt abseits des Trubels, vor sieben Jahren zog er weg aus der Großstadt und wohnt seitdem wieder am Ort seiner Kindheit und Jugend, im Westerwald. Tiefe, nebelverhangene Schluchten, ausgedehnte Wälder, dazwischen, weit verstreut, ein paar kleine Ortschaften – wenn man die Natur nicht liebt, muss das die Hölle sein. Für Dominik Eulberg ist es das Paradies.
Sein Haus am Rand eines Naturschutzgebietes hängt voller Schaukästen mit Schmetterlings- und Käferexponaten, überall sind Vogelbilder und -skulpturen – wer je dachte, Eulbergs Vogelliebe sei ein Schachzug, um sich auf dem Massenmarkt der elektronischen Musik unverwechselbar zu machen, hier wird er eines Besseren belehrt. Es ist das Haus eines Schwärmers.
Anfang der Neunzigerjahre, Eulberg war 15 Jahre alt, begann er, mit Synthesizern zu experimentieren. „Damals habe ich kalte Musik gemacht, sehr artifiziell. Ich wollte völlige Disharmonie schaffen, alles musste anecken.“ Erst nach und nach wurde seine Musik organischer. Als Kind schon sei er von Wildtieren begeistert gewesen, lernte ihre Stimmen zu unterscheiden – unnötig zu erwähnen, dass ihn das nicht zum Rädelsführer unter den Altersgenossen machte. Unbeirrt vertiefte der Außenseiter seine Leidenschaften, studierte Ökologie, arbeitete in Nationalparks und feilte gleichzeitig an dem Sound, der sich klarer Kategorien entzieht, aber heute unverkennbar ist: elektronische Musik, die Natur-Epen erzählt. Von der liebestollen Goldammer, vom erhabenen Nachtflug des Ziegenmelkers und von der Jagd des hungrigen Bienenfressers.
Seit seinem Durchbruch Anfang der Zweitausenderjahre hat Eulberg sein Soundrezept immer weiter verfeinert: Etwa ein Drittel der Töne stammen heute von analogen, ein Drittel von digitalen Synthesizern, der Rest sind akustische Aufnahmen aus Eulbergs Umgebung und der Natur – auf einem noch namenlosen Track blubbert das Ausatmen eines Menschen unter Wasser im Hintergrund, darüber liegt ein Beat wie ein Herzschlag, das Klackern von Aluminiumstäben, das Prasseln des Regens auf dem Dach. „Melodien, die zu schön, zu lieblich sind, zerstöre ich. Meist lasse ich nur Fragmente übrig. Die Zuhörer denken sich die fehlenden Teile dazu, so entsteht das Sehnen“, sagt er. Techno-Dekonstruktion trifft auf das Rumoren der Natur, das Album, auf dem das hier Beschriebene erscheinen soll, wird „Mannigfaltig“ heißen – ein Tribut an all die Tiere, deren Leben man schnell übersieht, wenn man nie von ihnen gehört hat.
Ihnen will Eulberg eine Bühne bereiten. Wenn er durch den Wald stapft und über seine Herzensthemen spricht – die positive Wirkung der Natur auf den Menschen, den bevorstehenden Niedergang des von ihm so genannten „neoliberalen Systems“ – dann wirkt er zuweilen wie ein Biolehrer, der mit markigen Worten versucht, seine Schüler zu entflammen. Mit seiner Musik geht er andere Wege, spricht die Hörer nicht über den Kopf, sondern über den Bauch an: Naturkunde für Menschen mit Schulangst. Mit einem Track könne er 500.000 Leute erreichen, sagt Eulberg, mit einer ornithologischen Führung 50. Um den Wald und die Clubwelt näher zusammenzurücken, bietet der DJ dem Partyvolk nach seinen Auftritten oft Exkursionen in stadtnahe Naturschutzgebiete an. „Nach einer durchtanzten Nacht ist die Vernunft runter- und das Empfinden hochgefahren“, sagt Eulberg, „das ist der perfekte Zeitpunkt, um in der Natur zu sein.“
Auf seinem neu gegründeten Label Apus apus (lateinisch für den Mauersegler) möchte er in Zukunft ähnlich naturinspirierte Künstler zusammenbringen. Neben seinem neuen Album will er bald ein naturkundliches Buch veröffentlichen, er will eine Modelinie aus recycelter Baumwolle vermarkten, und mit Unterstützung des Chaos Computer Clubs entwickelt er Installationen, bei denen die Ultraschallrufe von Fledermäusen auf hörbare Frequenzen transformiert und von Eulberg gesampelt werden. Die Tage im Westerwald, sie werden dem DJ nicht lang.
Die Sonne verschwindet im Nebel, der Löffler im Schilf, Starenschwärme ziehen wie schwarze Wolken über den Weiher. Auf dem Rückweg zu seinem Haus zeigt Eulberg auf die rot leuchtenden Kronen der herbstlichen Laubbäume. „Wunderschön, aber auf den ersten Blick sinnlos“, sagt er. Für die Rotfärbung bilden die Bäume sogenannte Anthozyane – wozu dieser Kraftakt dienen soll, darüber wird bis heute gerätselt. Für Eulberg ist die Sache klar. Das Glühen das Waldes sei wie das Feuerwerk am Ende eines Festivals, sagt er, ein letzter Gruß der Natur: Es war schön, wir sehen uns nächstes Jahr. Dieser Zauber lasse sich nicht rein wissenschaftlich erklären, sagt Eulberg. „Das ist pure Freude.“
„Wir greifen da ein, wo das Klima zerstört wird"
Greenpeace Magazin, April 2016
Andrang zu Demos, mediale Präsenz, politische Reichweite: Die derzeit erfolgreichste Bürgerbewegung scheint die gegen Flüchtlinge zu sein. Was das mit Klimaschutz zu tun hat, warum gerade jetzt Proteste gegen fossile Energien wichtig werden und wie Demonstranten mit Kohlegrubenbesetzungen die Debattenkultur in Deutschland verändern wollen – darüber sprechen wir mit dem Politologen und Aktivisten Tadzio Müller.
Der politische Diskurs wird derzeit durch die landesweiten Proteste gegen Flüchtlinge geprägt. Herr Müller, ist es immer gut, wenn die Leute auf die Straße gehen?
Proteste sind nicht per se gut oder schlecht. Man braucht einen ethischen Kompass, um ihre Ziele bewerten zu können.
Sollten wir angesichts der aktuellen Gemengelage in der Gesellschaft Angst vor Bürgerprotesten haben?
Nein, denn das wäre eine sehr elitäre Haltung. Wir müssen uns fragen: Warum sind die Leute auf der Straße? Was davon ist ernst zu nehmen, was ist ethisch vertretbar? Die etablierten politischen Akteure liefern einfach nicht, und dann kann ich es durchaus nachvollziehen,
wenn Leute, die sich sozial benachteiligt fühlen, Neid und Angst gegenüber Geflüchteten entwickeln. Deshalb ist es keine Lösung, die Menschen als Deppen abzutun oder – im anderen Extrem – die Hilfe für Geflüchtete zu kürzen. Wenn wir den Leuten immer nur Problemdiagnosen anbieten, aber nie sagen, wie sie handeln können, dann stärken wir die rechten Kräfte. Denn die sagen schlicht: Grenzen zu, Ausländer raus, lass’ mal ein Flüchtlingsheim anzünden. Deshalb brauchen wir konkrete Lösungsansätze und das Gefühl von Ermächtigung.
Kann man Proteste zu sozialen Themen und zu Umweltthemen überhaupt vergleichen?
Klimawandel ist kein Umweltthema. Tatsächlich ist die Umwelt kein Umweltthema. Die Umwelt ist ein soziales Thema, denn es geht darum, dass die Armen an dem zugrunde gehen, was wir Reichen machen. Es geht um Gerechtigkeit. Wenn das keine soziale Frage ist, dann weiß ich auch nicht. Auch die Anti-Atom-Bewegung war keine reine Öko-Bewegung. Da haben sich der Friedensbewegung Umweltschützer und eine ganze Reihe andere Bewegungen angeschlossen, und so konnten die Proteste so wirkmächtig werden. Wir sagen: Es geht schon lange nicht mehr um Eisbären.
Anders als in den USA gibt es in Deutschland bis heute keine große Klimabewegung. Warum sind die Menschen hier so klimafaul?
Das hat unter anderem mit der Stärke der grünen Partei zu tun: Grüne Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, hier gibt sich jeder klimafreundlich. Soziale Bewegungen entstehen aber vor allem dann, wenn ein Thema nicht von den Akteuren im politischen System behandelt wird. Ein anderes Problem war die frustrierende Erfahrung bei der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009. Als Aktivist habe ich damals für den Gipfel mobilisiert, Tausende sind mitgekommen, haben dort massive Polizeigewalt erfahren, und es kam nichts dabei raus. Bei vielen blieb hängen: Das bringt nichts. In der Folge gab es ein großes Loch, in der Bewegung spricht man von der Post-Kopenhagen-Depression.
Welche Lehre haben Sie und ihre Mitstreiter daraus gezogen?
Es hat fast sechs Jahre gedauert, bis die Bewegung wieder das Mobilisierungsniveau von 2009 erreicht hatte. Danach wollten wir nicht mehr da eingreifen, wo der Klimawandel verwaltet wird, sondern dort, wo das Klima zerstört wird: in den Braunkohlerevieren. Wir wollten eine Aktion massenhaften Ungehorsams in Bezug auf Klimagerechtigkeit auf den Weg bringen.
Im vergangenen August besetzten rund tausend Aktivisten des Bündnisses „Ende Gelände“ den Tagebau Garzweiler im Rheinland. Wie viel CO2 wurde dadurch vermieden?
Wer glaubt, dass man Aktion für Aktion mit einem CO2-Rechner durchkalkulieren kann und wir den Klimawandel aufhalten, indem wir von Grube zu Grube ziehen und dort die Bagger stoppen, der sieht die Ausmaße des Problems nicht. Wir erzielen mit unseren Protesten Effekte auf der politischen und der gesellschaftlichen Ebene. Wir können uns nur kurze Zeit in der Grube aufhalten, aber die Wirkung dieser Ermächtigung – das Problem Klimawandel dort anzupacken, wo es entsteht – geht weit darüber hinaus.
In Garzweiler bedrohten RWE-Mitarbeiter Aktivisten mit Eisenstangen, fesselten sie mit Kabelbindern, es gab Verletzte – nehmen Sie das in Kauf?
Natürlich sind solche Vorstöße mit einem gewissen Risiko verbunden. Die Frage ist, wie groß dieses Risiko ist. Wir haben Sanitäter, Rechtshilfe und psychologische Betreuung bei jeder Aktion vor Ort – das gehört für uns zu einer gut vorbereiteten Aktion dazu. Wir wissen, dass diese Form des Widerstandes belastend und traumatisierend sein kann. Aber wir versuchen, das so gut wie möglich aufzufangen. Das Wichtigste ist, zu wissen: Ich bin nicht alleine, Leute kümmern sich nach meiner Verhaftung um meine Freilassung, warten vor dem Knast mit einer heißen Suppe oder einem Glühwein. Wir machen das als Bewegung, weil wir es alleine nicht können. Das Gewicht ist zu schwer für den Einzelnen, deshalb schließen wir uns zusammen.
Zu Pfingsten sind Aktionen in den Lausitzer Braunkohlegruben geplant. Mit einem vorab veröffentlichten Aktionskonsens versucht das Bündnis die Situation „relativ vorhersagbar“ zu machen. Geht das bei einer Tagebaubesetzung überhaupt?
Wir versuchen, das Risiko einer Eskalation zu begrenzen. Kontrollieren können wir nur uns selbst. Und wenn wir im Vorfeld klar sagen: „Von uns geht keine Eskalation aus“, dann ist die Situation meistens weniger explosiv. Wir machen klar: Es geht uns nicht darum, immer radikalere Aktionen zu machen, die nur die Immer-schon-Überzeugten ansprechen. Mit den Protesten wollen wir unseren legitimen Forderungen gesellschaftlich Relevanz verschaffen. Wenn wir Infrastruktur zerstören würden, würden wir wichtige Bündnispartner verlieren und unsere Aktivisten gefährden – das ist nicht in unserem Sinne.
Zu den seit 2008 stattfindenden Klimacamps in deutschen Braunkohlegebieten kamen jährlich ein paar hundert Menschen. Im letzten Jahr stieß die wachstumskritische Bewegung dazu und ließ die Teilnehmerzahl auf mehr als tausend Demonstranten anwachsen. Ein erster Schritt in Richtung Massenbewegung?
Es ist auf jeden Fall eine Strategie, um mehr Menschen für unser Anliegen zu interessieren. Viele aus der Post-Wachstums-Bewegung kommen eher aus der Mitte der Gesellschaft. Das sind einfach Menschen, die sich mit ihren eigenen und gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven beschäftigen und merken: Irgendwie geht das so nicht. Und dieses gesellschaftliche Unwohlsein mit dem Dogma des unendlichen Wachstums auf einem endlichen Planeten wollten wir mit in die Grube nehmen. Leute wie die Besetzer des Hambacher Forsts im Rheinland leisten einen sehr wichtigen Beitrag. Aber wenn mich ein netter, nachdenklicher Mensch, der gerne im Bioladen einkauft, fragt, wie er etwas verändern kann, und ich sage: „Du musst die nächsten drei Monate in einem Baumhaus im Rheinland wohnen“, wird er vermutlich sagen: „Nein danke“. Darum laden wir ihn ein, zu unserem Camp zu kommen, spannende Veranstaltungen zu erleben und anschließend an einer gut strukturierten Aktion teilzunehmen, mit der man wirklich etwas erreichen kann. Dann haben wir bessere Karten.
Passt das Streben nach schnellem Wachstum zu einer linken Öko-Bewegung?
Ich bin da ganz offen: Natürlich müssen wir schnell wachsen, um den Kohleausstieg zu beschleunigen. Deswegen müssen wir der Mehrheitsgesellschaft Brücken bauen, sodass sie sich einfacher anschließen kann. Soziale Bewegungen müssen ab einem bestimmten Punkt über den Kern der Immer-schon-Überzeugten hinauswachsen – sonst sind wir nicht wirkmächtig genug. Und das müssen wir sein, denn wenn man die Ergebnisse von Paris ernst nimmt, müssen wir deutlich früher als 2040 aus der Kohle raus. Und dafür müssen wir schnell mehr werden, sodass wir schnell machtvoller sind.
Ist Garzweiler jetzt das neue Wendland?
Das wäre schön. Wir können sicher sagen, dass wir in der bundesweiten Klimadebatte neue Zeichen gesetzt, den massenhaften zivilen Ungehorsam als Protestform weiter legitimiert und eine deutschlandweite Anti-Kohle-Bewegung etabliert haben. Wer die Kohleenergie vorantreibt, der muss mittelfristig mit genau den Auseinandersetzungen rechnen wie die Atomindustrie. Und wenn wir diese Analogie weiterdenken, dann ist das Ziel natürlich ein von unten erkämpfter Kohleausstieg.
Was erwartet die Bewegung im Mai in der Lausitz?
Unser Verhältnis zu den lokalen Bürgerinitiativen in der Lausitz ist durchaus komplizierter als im Rheinland. Viele der lokalen Bürgerinitiativen sind skeptisch gegenüber der geplanten Aktion – sie akzeptieren unser Vorgehen, werden aber nicht dabei sein. Wir von Ende Gelände rechnen in der Lausitz mit mehr Druck vom Betreiber Vattenfall, mit mehr Druck von der Polizei und mit mehr Druck von den Arbeitern. Der letzte Punkt bereitet mir am meisten Sorge.
Warum haben Sie mehr Angst vor den Arbeitern als vor der Polizei?
Aus deren Sicht wollen wir ihnen ans Leder, wir greifen ihre Existenzgrundlage an, und, was fast noch wichtiger ist, wir kratzen an ihrem Selbstverständnis. Sie waren jahrelang die Guten, haben die DDR mit Strom versorgt. In der Geschichte der Linken haben Kohlearbeiter lange Zeit eine sehr zentrale Rolle gespielt. Und jetzt kommen wir und sagen: Ihr seid keine Helden, ihr seid die Bösen. Es ist leicht, zu sagen „Vattenfall ist der Gegner“ oder „Die Polizei ist der Gegner“. Aber wenn dann ein Arbeiter vor dir steht, der seine Identität und seine Lebensgrundlage verteidigt, ist das etwas ganz anderes. Wie positioniert man sich da als Linker? Wir kämpfen ja seit Jahren für einen linken Öko-Aktivismus. Und wenn eine Situation entsteht, in der man nicht beides – links und Ökoaktivist – sein kann, würde das unter Umständen die Arbeit von Jahren zunichtemachen.
Wie wollen Sie das verhindern?
Beim Ausstieg aus schmutziger Industrie werden viele Leute ihre Arbeit verlieren, nicht jeder findet einen Job im Bereich der Erneuerbaren. Je früher wir über einen gerechten Ausstieg sprechen, umso größer sind die Chancen, dass er gelingen kann. Darauf zielen wir mit unseren Aktionen. Im Moment ist die Stimmung in der Lausitz sehr polarisiert, Einladungen zum Gespräch wurden von den Gewerkschaften bisher ausgeschlagen. Ich hoffe, dass das nach der Aktion anders ist und wir mit politischen Bildungsprogrammen die Debatte gestalten können.
Verprellen Sie mit ihrer Aktion die Unterstützer vor Ort?
Nicht wir hinterlassen verbrannte Erde, sondern Vattenfall. Dass wir Unterstützer vor Ort verprellen, ist eine Gefahr, aber wir haben im Moment keine andere Wahl. Wenn man wirklich Politik machen will, dann muss man Gefahren in Kauf nehmen. Wir müssen neue Räume für die Bewegung aufmachen, und dabei kann natürlich auch mal etwas schlecht laufen. Es nicht zu tun, ist aber keine Option, weil dann auch nichts besser werden kann.
Ist es einfacher, in die Grube zu gehen, als sich an den Verhandlungstisch zu setzen?
Warum sollten sie mit uns reden? Niemand muss sich mit radikalen Klimaschützern an einen Tisch setzen. Dafür sind wir nicht genug Leute und gesellschaftlich noch nicht relevant genug. Wir entwickeln Einfluss durch Störungsmacht – erst wenn wir in die Grube gehen, werden wir überhaupt zu einem Verhandlungspartner.
Sie fordern – entgegen der Positionen der meisten deutschen Unweltorganisationen – den sofortigen Ausstieg aus der Kohlekraft. Warum?
Klimapolitisch ist ein Ausstieg 2040 absolut unzureichend. Wir dürfen die 1,5 Grad auf keinen Fall überschreiten – trotzdem legen viele Umweltorganisationen Pläne vor, die dieses Ziel verfehlen. Doch wenn wir den Klimawandel rechtzeitig stoppen wollen, müssen wir viel früher mit dem Aussteigen anfangen. Diese Forderung bekräftigt das Bündnis Ende Gelände mit Massenaktionen. Wir wissen, dass radikale Forderungen meistens nicht eins zu eins umgesetzt werden. Aber wir schaffen mit unserem Einsatz mehr Verhandlungsspielraum für Organisationen mit weniger rigorosen Positionen. Ich glaube, nur durch die radikalen Forderungen von MalcolmX wurde Martin Luther King zu einem Akteur, mit dem die Politik reden musste. In diesem Sinne beanspruchen wir das scheinbar Unmögliche, um die Grenzen des Möglichen zu verschieben.
Tadzio Müller arbeitet als Referent für Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist als Übersetzer tätig. Er engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung und besetzte 2015 mit dem Aktionsbündnis „Ende Gelände“ den Kohletagebau in Garzweiler.
Théâtre Point du Jour
science notes
The Passenger
Verbrecher Verlag